Flucht der Juden über die Grüne Grenze

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Die seit dem Jahre 2015 andauernde „Flüchtlingskrise“ lässt das Interesse an ähnlichen Ereignissen immer mehr wachsen. Während heutzutage der Eindruck entsteht, als ob Flüchtlinge aus aller Welt NACH Deutschland strömen, war die Situation während der NS-Diktatur umgekehrt: viele flüchteten AUS dem damaligen Deutschen Reich. Hauptsächlich handelte es sich um Juden, die aus so genannten „rassischen Gründen“ diskriminiert, verfolgt und vom Holocaust bedroht waren. Die Formen der Flucht ähneln sich jedoch.

Die bewaldete deutsch-belgische Grenze im Eifel-Ardennen-Gebiet zwischen Losheim und Aachen diente seit 1933 zur Flucht über die „Grüne Grenze“. Der Autor konnte während seiner exemplarischen Forschungen mehr als 100 jüdische Flüchtlinge, aber auch „Judenschlepper“ und „Judenfänger“ ausfindig machen und hierüber schon im Jahre 1990 international beachtete Ergebnisse publizieren.

Als Eupen/Malmedy nach dem Einmarsch der deutschen Truppen am 10. Mai 1940 wieder „heim ins Reich“ zurückkehrte und sich somit die deutsche Reichsgrenze nach Westen verschob, verlagerte sich auch die Form der Flucht und des „Menschenschmuggels“.

Der Autor setzt sich abschließend auch mit der derzeitigen Situation der Flüchtlinge auseinander.

Hans-Dieter Arntz: Flucht der Juden über die Grüne Grenze (1933-1944) – Schlepper, Fänger und Retter im deutsch-belgischen Grenzgebiet, Kid Verlag 2023, 350 S., 32,00 EUR, Bestellen? 

LESEPROBE:

Epilog

Im Vorwort dieses Buches ging es einleitend um die Fragen, ob man etwas aus der Geschichte lernt und ob es Parallelen für den Ablauf eines historischen Ereignisses gibt.

Wenn sich auch die seit 2015 andauernde Flüchtlingswelle in letzter Konsequenz nicht unbedingt mit der damaligen Flucht der jüdischen Flüchtlinge über die „Grüne Grenze“ vergleichen lässt – zumal dies die eigentlichen Ursachen nur im gewissen Rahmen erlauben, so ergeben sich doch viele Ähnlichkeiten im Ablauf und der Bewältigung dieses Problems. Flucht und Fluchthilfe sind aber schon immer brisante Themen gewesen und gleichen sich in der Brisanz, Problematik und schließlich mit deren Bewältigung.

Mir ging es nur am Rande um die Darstellung und Begründung der ursprünglich politischen Ursachen und deren soziale Eskalation, sondern um eine exemplarische Dokumentation, wie jüdische Flüchtlinge im Eifel-Ardennengebiet mit der Flucht zurechtkamen. Übrigens bin ich der Ansicht, dass sich die vielen Rettungsversuche aller Flüchtlinge ähneln. Dies dürfte selbst beider topografisch überschaubaren „Grünen Grenze“ zwischen dem damaligen Deutschen Reich und Belgien (1933-1944) so der Fall gewesen sein. Bei der „klassischen“ Flucht hat es schon immer „Schlepper“ und „Fänger“, aber auch hilfsbereite Menschen und „Retter“ gegeben. Bezogen auf das vorliegende Buch handelt es sich somit konkret um die Flucht über die „Grüne Grenze“ in der genannten Region und die hier tätigen „Judenschlepper“, „Judenfänger“ und „Judenretter“.

Ich wies bereits darauf hin, dass vieles zu dieser Thematik 1990 in meinem umfangreichen Buch „Judenverfolgung und Fluchthilfe im deutsch-belgischen Grenzgebiet“ dargestellt und auch in dieser Publikation teilweise wiedergegeben wurde. Dies war damals zu einer Zeit, als sich die Sowjetunion und die Sozialistische Föderative Republik Jugoslawien im Begriff der Auflösung befanden und unzählige Flüchtlinge aus diesen Ländern in das freie Westeuropa strömten. Man sollte jedoch bedenken, dass dies im Grunde genommen – im Vergleich zu heute – verhältnismäßig unauffällig vonstatten ging und die Flüchtlinge verhältnismäßig schnell integriert wurden.

Die heute in den Medien dargestellten Sachverhalte bezüglich der „Flüchtlingskrise“ lassen natürlich auch Parallelen zum Kriegsende 1944/45 erkennen, zu den Millionen vertriebenen und flüchtenden Deutschen. Diese Menschen flüchteten jedoch bei Kriegsende in das Innere ihres eigenen Geburtslandes – wo sie schon immer in der Sprache, Kultur und Geschichte integriert waren. Das ist heute bei den ausländischen Flüchtlingen keineswegs der Fall und schaffte somit schon von Anfang an unüberschaubare Probleme. Dabei sollte jedoch nicht vergessen werden, dass auch im Nachkriegs-Deutschland, also im eigenen Land, die neue Integration mit zusätzlichen Problemen verbunden war und dass die Flüchtlinge oft im Rheinland als „Pollacken“ oder „Pimmelaken“ schon sprachlich diskriminiert wurden. Eine Vielzahl von Flüchtlingen ist offenbar nie willkommen gewesen.

Im Augenblick geht es wieder um wirklich bemitleidenswerte Flüchtlinge. „Typische“ Kriegsflüchtlinge bedürfen jeglicher Hilfe und sollten unbedingt von der freien Welt aufgenommen werden. Problematisch wird es aber bei den immer häufiger eintreffenden „Migranten“, „Wirtschaftflüchtlingen“ und noch nicht präzise einzustufenden, undefinierbaren „Ein- und Zuwanderern“ aus Afrika und Asien. Dies wird künftig große Probleme geben, egal, wie letzteres in Zukunft von den aufnehmenden Ländern bewertet wird. Aber eins steht fest, die individuellen Methoden all dieser Menschen, irgendwie in sichere Länder zu gelangen, ähneln sich im Prinzip. Die Akzeptanz mag unterschiedlich sein.

Zwar unterscheiden sich heutzutage die aus meist anderen Kontinenten einströmenden Flüchtlinge – nicht nur wegen des lawinenartigen Zustroms -, wesentlich von den vielen Verfolgten des Dritten Reiches. Diese Menschen müssen jetzt größere Distanzen und Strecken zurückgelegen, was ein Einzelner selten alleine und nicht ohne fremde oder gar organisierte Helfer schafft. Sie bedienen sich professioneller „Schlepper-Organisationen“, deren Vernetzung wegen der Menge nicht mehr kontrollierbar ist und deren wirkliche Motive nicht mehr mit den Menschenrechten übereinstimmen. Überfüllte Boote oder Fahrzeuge mit Hunderten von Schutzsuchenden gab es in den 1930er Jahren nicht.

Heutzutage handelt es sich bei den Kriegsflüchtlingen, aber besonders bei den afrikanischen „Zuwanderern“ meist nur um junge Männer. Das war zwar in den Jahren vor dem Novemberpogrom 1938 – in kleiner Anzahl – ähnlich, aber danach flüchteten Männer, Frauen und Kinder in überschaubarer Familiengröße über die „Grüne Grenze“ nach Belgien. Das ist vorerst ein wesentlicher Unterschied und wirkt sich auf die Art der Fluchthilfe aus.

Ein wesentlicher Unterschied zwischen den gegenwärtigen Fluchtwellen nach Europa und der damaligen Vertreibung der Juden ist somit die noch nicht einschätzbare Tatsache, dass die aktuelle Flüchtlingszahl – allein innerhalb der letzten Jahre – ungemein höher ist als während der gesamten Judenverfolgung durch die Nationalsozialisten (1933 bis ca.1943). Insofern ist auch die jeweilige Dimension der „Schlepper“ gar nicht vergleichbar! Zumindest im deutsch-belgischen Grenzgebiet ging vieles auf individuelle Aktivitäten zurück, kaum auf Aktivitäten großer, anonym wirkender Organisationen. Hinzu kommt, dass die Grenzen damals eine andere Rolle spielten als heutzutage im demokratisch ausgerichteten Europa.

Was für ein Gegensatz: damals die einzelnen Juden oder ihre kleinen Flüchtlingsgruppen im Waldgebiet der Eifel und Ardennen, heute die überladenen Boote im Mittelmeer, die überfüllten Inseln Griechenlands und Italiens oder die gedrängten Anmarschwege zu anderen europäischen Grenzen.

Weiterhin ist anzuführen, dass in den 1930er Jahren die Identität der in den Nachbarländern Aufgenommenen meist gewissenhaft kontrolliert und registriert wurde, so dass ihr Schicksal im Verlauf der weiteren Emigration fast immer offiziell belegt werden kann. Am Rande sei diesbezüglich konstatiert, dass daher heutzutage die Recherchen der Historiker, ja, auch die der Heimatforscher ungemein erleichtert werden. Selbst das Schreckliche im Holocaust und viele individuelle Schicksale sind – wegen der Gründlichkeit der jeweiligen Institutionen – heute noch datenmäßig überprüfbar. Aufgrund von Quoten oder gar teilweise Verboten gelang zwar eine Aufnahme nur schleppend, blieb aber dadurch überschaubar. So konnte dies von den wenigen aufnehmenden Ländern irgendwie „verkraftet“ werden.

Wie bereits erwähnt ist ein sich künftig als sehr problematisch herausstellender Unterschied, dass es sich in den 1930er Jahren um Juden handelte, deren Background kulturell, historisch und sprachlich gleich war. Sie alle flüchteten aus demselben Grunde.

Heute sind die Gründe zur Flucht sehr unterschiedlich. Die derzeitigen Flüchtlinge unterscheiden sich selber voneinander aufgrund ihrer ethnischen, religiösen, politischen, sozialen, mentalitätsbedingten, pädagogischen, sprachlichen und gar gesundheitlichen Probleme. Daher werden schon jetzt diese Unterschiede und Diskrepanzen von den Flüchtlingen selber – manchmal auf nicht hinnehmbare Weise – in den Vordergrund gestellt. Aufnehmende Länder müssen daher künftig mit den bisher ungekannten Problemen, Aufgaben und Verpflichtungen zurechtkommen. Die stets positiv proklamierte Integrationsbereitschaft wird nicht mehr ausreichen.

Viele der heutigen Flüchtlinge und „Migranten“, die meist mithilfe von systematisch operierenden Fluchthelfergruppen nach Europa und dann meist in das überforderte Deutschland gebracht worden sind, unterscheiden sich daher deutlich von den hilfsbedürftigen und später so ungemein dankbaren Juden, die es ins rettende Ausland geschafft hatten. Über deren Missbrauch der Gastfreundschaft wurde nie etwas bekannt!

Anlässlich meiner Recherchen und Interviews wurde ich immer wieder auf einen Aspekt hingewiesen, der mir die „Haltung“ der damaligen jüdischen Flüchtlinge verdeutlicht. Sie beinhaltet nicht nur eine „Unauffälligkeit und Zurückhaltung“ im Gastgeberland, sondern die eindeutige Bereitschaft zur Integration und Assimilation. Andererseits, und dieser Hinweis ist wichtig, wünschte ein jüdischer Flüchtling allerdings auch Verständnis und die Willigkeit zur Akzeptanz.

Im Dezember 2015 veröffentlichte das in Israel erscheinende deutschsprachige Mitteilungsblatt „Yakinton“, das sich an die „Israelis mitteleuropäischer Herkunft“ richtet, wie sich einst jüdische Flüchtlinge im Land der Retter verhielten und sich bereitwillig integrieren lassen wollten. Hintergrund war wohl die Feststellung, dass in der heutigen „Flüchtlingskrise“ offenbar hierzu eine mangelnde Bereitschaft der neuerdings nach Deutschland einströmenden Flüchtlinge bestehe und man sich nicht genügend den Werten des jeweiligen Gastgeberlandes anpasse. Das wäre „damals“ in den 1930er Jahren – zurzeit ihrer eigenen Flucht – ganz anders gewesen. Als jüdische Flüchtlinge war man zwar im Rahmen der fünften Alija nach Erez Israel/Palästina in ein völlig neues Land gekommen und spöttisch als „Jeckes“ tituliert worden, aber man hätte sich unverzüglich „mit deutscher Gewissenhaftigkeit“ um die Eingliederung bemüht. In dem o.a. Yakinton-Artikel wurde das „JECKES-LIED“ publiziert, das auf einem Gedicht von Herbert Stein (Pseudonym: Tristan Leander) basiert. (Vgl. „JECKESLIED“ – für vielstimmigen Chor). In: MB Yakinton (Israel), Nr. 276 v. Dezember 2015. Ebenfalls in: HILLENBRAND, Klaus: Fremde im neuen Land. Juden in Palästina und ihr Blick auf Deutschland nach 1945. S.Fischer Verlag 2015).

Es beinhaltet die damalige Anpassungsbereitschaft jüdischer Flüchtlinge und deutscher Einwanderer:

„Das Jeckeslied“ (für vielstimmigen Chor)

Wir wüssten gerne selber, was wir wollen.
Hier soll fortan die neue Heimat werden.
Wir hoffen sehr. Was noch nicht ist, kann sollen.
Das fremde Klima macht uns viel Beschwerden.

Wir handeln Seife oder Zigaretten
Und hören abends im Café das Neuste.
Wie man hier schläft, so hat man sich zu betten
… Als man noch sonntags bei Geheimrats speiste.

Nun sind wir endlich volle Volksgenossen.
Kein Mensch kann rassische Bedenken äußern.
Wir haben nichts gewollt und nichts beschlossen.
Die Frau räumt Zimmer auf in fremden Häusern.

Wie soll man so viel Sprachen gleich verstehen?
Man ist doch Gott sei Dank kein Levantiner.
Ob wir das Elternhaus je wieder sehen?
Wer klug ist, geht aufs Land und züchtet Hühner.

Hier sind so viele, welche koscher essen.
Was Schulzes ohne uns jetzt immer treiben?
Hebräisch hatte man schon ganz vergessen.
Die Kinder lernen anders gar nicht schreiben.

Wir hätten hier ein „Bei uns“ finden sollen.
Man kann nicht immer heulen mit den Wölfen.
Wir wüssten gerne selber, was wir wollen.
Nur sollt Ihr uns dabei auch ein wenig helfen!

Bezüglich „Jeckes“ fällt mir spontan ein, dass ich mich selber einmal von diesem „typisch deutschen Verhalten“ in Israel überzeugen konnte. Dies war im Jahre 1985, als ich im Frühjahr eine Gruppe Euskirchener und Flamersheimer Bürger nach Israel führte, wo wir viele Begegnungen mit der „Vereinigung ehemaliger Kölner und Rheinlander Haifa“ und anderen typischen „Jeckes“ hatten. Gemeint sind in der umgangssprachlichen Bezeichnung der jiddischen Sprache vor allem deutschsprachige jüdische Einwanderer der 1930er-Jahre und ihre Nachkommen in der heutigen Bevölkerung Israels. Das damalige Treffen mit ihnen bewies deren gelungene Anpassung an die neue Heimat Palästina/Israel – allerdings unter der unauffälligen Beibehaltung des deutschen Backgrounds. Sie waren immer noch die „typisch deutschen Juden in Israel mit ihren preußischen Tugenden“. Nach den vielen Jahrzehnten war es übrigens nicht leicht, von den damals schon recht betagten jüdischen Augenzeugen zu erfahren, wie man sich damals selber bei der Einwanderung in das noch von den Briten verwaltete Palästina verhielt und sich dort „anpasste“.

Die Darstellung der physischen und psychischen Situation der jüdischen Flüchtlinge während der NS-Diktatur macht es uns eigentlich – aufgrund der zeitlichen Distanz – möglich, sich in die derzeit Schutz Suchenden hineinzuversetzen. In der letzten Zeit hatten wir in Deutschland nur wenig mit dieser Thematik bzw. der Aufarbeitung der „jüngsten Vergangenheit“ zu tun, ja, hatten diese beinahe vergessen oder aus ganz besonderen Gründen verdrängt.

So ist derzeit wieder ein Anlass gefunden, auf das Unrühmliche unserer diesbezüglichen Geschichte hinzuweisen, aber gleichzeitig auch auf das, was sich derzeit als Problematik abspielt. Dies scheint mir insofern wichtig, als dass wir in der Nazizeit die Verursacher dieses Leides – von Flucht und Verfolgung waren, und heute im Ausland oft positiv als Helfer oder gar als „Wiedergutmacher“ wirken.

Unter der Überschrift „Vorher ein NICHTS, nachher ein NICHTS“ konnte man am 14. August 2016 in der „Welt am Sonntag“ lesen, dass offenbar die Erinnerung an Katastrophen des 20. Jahrhunderts schwindet. Der Verfasser Sascha Lehnartz weist in seinem Artikel auf die Bestätigung eines Verdachtes hin, den allerdings schon Herodot, Vater aller Geschichtsschreiber, hegte:

„Der Erfahrungshorizont der meisten Menschen, jenes historische Spektrum, das sie überblicken und aus dem sie ihre Lebenseinstellungen ableiten, umfasst selten mehr als drei Generationen. So bis 100 Jahre. Mehr als das, was wir aus den Erzählungen unserer Großeltern noch erinnern, tragen wir nicht als historisches Gepäck mit uns herum.“ (LEHNARTZ, Sascha: Vorher ein Nichts, nachher ein Nichts, in: Welt am Sonntag v. 14.08. 2016, Nr. 33, S. 4).

Schon in der jetzigen Flüchtlingskrise sind nur noch wenige, heute meist sehr betagte Zeitzeugen, in der Lage, über diesbezügliche Schicksale und über derartige Katastrophen des 20. Jahrhunderts zu berichten. Besonders die aktuelle politische Lage, die hier stichwortartig mit dem gegenwärtigen russischen Krieg in der Ukraine skizziert werden soll, konfrontiert uns erstmals wieder seit Jahrzehnten mit Flucht und Verfolgung in Europa. Erneut erwähne ich, dass ich das vorliegende Buch meinen fünf Enkeln – Janis, Elias, Emilia, Florian und Amelie – „stellvertretend für die heranwachsende Generation – Zur Besinnung und Warnung vor Diskriminierung von Minderheiten“ gewidmet habe, aber auch als Warnung vor Unterdrückung, Diktatur, Verfolgung und der Notwendigkeit zur Flucht.

Ich begrüße es, dass die Reaktion auf die seit 2015 andauernde Flüchtlingskrise und die seit Februar/März 2022 heranschwappende Flüchtlingswelle aus der Ukraine und dem östlichen Europa erneut die Hilfsbereitschaft Deutschlands beweist und als deutlicher Gegensatz zum Verhalten des Dritten Reiches gewertet wird. Andererseits könnte jedoch befürchtet werden, dass all dies auch wieder ein Anlass für eine künftige „Zurückhaltung“ werden könnte. Potenzielle Gegner der Fluchthilfe könnten Populismus, Nationalismus und Rechtsradikalismus fördern, sodass dies wieder die Ursache für übertrieben nationale Reaktionen werden könnte. Dann kann sich tatsächlich vieles wiederholen …

Beim „Umkippen“ der Stimmung wird schnell Gegensätzliches möglich und erschwert weitere Hilfe.

Die repräsentative Reihenuntersuchung der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung, mit der alle zwei Jahre rechtsextreme Einstellungen und „gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“ gemessen werden, konstatierte laut dpa v. 25. April 2019: „Die Zahl derjenigen, die sich abwertend über asylsuchende Menschen äußern, war mit 54,1 Prozent so hoch wie nie seit Beginn der Untersuchungsreihe im Jahr 2002.“

Obwohl zurzeit die Zahl der registrierten Asylbewerber aus anerkannten Kriegsgebieten sinkt, wachsen bei den Deutschen die Vorbehalte gegen Asylsuchende. Dies hat wahrscheinlich auch mit der verstärkten Zuwanderung aus Afrika und weiterhin aus Asien zu tun, wo die Menschenrechte selten gewahrt werden. Wirtschaftsflüchtlinge sollen an dieser Stelle schon gar nicht mehr thematisiert werden. Aber mit einem offenbar importierten Antisemitismus und dem auffälligen Verhalten spezieller Zuwanderer, die im europäischen Gastgeberland offenbar das erkämpfen wollen, was ihnen in ihrer Heimat nicht gelang, sind zumindest viele deutsche Bürger nicht einverstanden. Hierzu gehören verfassungsfeindliche islamistische Aktivitäten. Diese waren in dieser Form in Deutschland unbekannt, schüren aber inzwischen das, was man als extremen Rechtsradikalismus, Antisemitismus und Rassismus längst vergessen oder verdrängt glaubte. Judenfeindliche Aktionen, Hasstiraden und Angriffe auf religiöse Gebäude und Institutionen sind spätestens seit Mai 2021 besonders einheilvolle Anzeichen.

Viele Bürger vermissen daher eine zumindest angemessene Realisierung der stets vorgebrachten Ankündigung „aller Härte deutscher Gesetze“. Sascha Lehnartz fasst dies warnend zusammen: „Der Trend zur historischen Amnesie könnte der Demokratie gefährlich werden“. Er schlussfolgert später, wahrscheinlich mit Bezug auf die tatsächlich schon zu beobachtende Veränderung der politischen Stimmung in Europa: „Die Zeugen sterben aus. Autokraten sind plötzlich wieder hip. Und die soften Liberalen schauen dem großen Vergessen staunend zu“.

Somit wendet er sich an das derzeitige Desinteresse an der Geschichte: „Wo eben noch historische Erfahrung in Wissen übersetzt werden konnte und die politische Willensbildung beeinflusste, stößt diese jetzt auf leere Gesichter, die möglichst ungestört von Geschichte mit ihren Smartphones spielen wollen.“

Dabei basiert doch unsere Wertegemeinschaft seit 1945 von genau einer Prämisse aus, dass sich die Katastrophen, die Menschen in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts verursacht hatten und die im Holocaust und den Atombombenabwürfen kulminierten, nie wiederholen dürften. Diese Aufgabe weist Sascha Lehnartz auch einer erinnerungspolitischen Pädagogik zu: „Die Pflege der Erinnerung dient bis heute einem einzigen Ziel, die Möglichkeit einer Wiederholung auszuschließen. Doch die Botschaft erreicht immer weniger Leute.“

Auch seine Kritik beinhaltet, dass man aus der Geschichte lernen kann oder zumindest sich darum bemühen sollte. Dann dürfte wohl zumindest der Versuch dazu dienen, sich zu erinnern.

Erinnern bedeutet immer, auch Verantwortung zu übernehmen, um somit zu verhindern, dass „so etwas“ – egal in welcher Form – noch einmal passiert!

Hans-Dieter Arntz: Flucht der Juden über die Grüne Grenze (1933-1944) – Schlepper, Fänger und Retter im deutsch-belgischen Grenzgebiet, Kid Verlag 2023, 350 S., 32,00 EUR, Bestellen?