Versöhnungstheater

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Deutschland ist wieder wer, auch weil es sich so mustergültig an den Holocaust erinnert. Wie es dazu kommen konnte, analysiert Max Czollek in seinem neuesten Essay, mit der er nach „Desintegriert euch!“ und „Gegenwartsbewältigung“ einen Kreis um das deutsche Selbstverständnis schließt.

Czollek teilt die Zeit nach 1945 in drei Phasen ein. Die erste sieht er geprägt durch die westdeutsche Erinnerungskultur unter Adenauer, in der zwar symbolische internationale Wiedergutmachungspolitik betrieben wurde, aber keine umfassende Strafverfolgung und auch keine gesellschaftlichen Debatten über den Nationalsozialismus stattfanden. Willy Brandts Kniefall in Warschau markiert für ihn den Beginn der zweiten Phase, die eine veränderte Haltung zur Vergangenheit einläutete, geprägt von Gedenktagen und -reden, Denkmälern und einem Selbstverständnis als befreites, nicht besiegtes Deutschland. Die dritte Phase nach der Wiedervereinigung bezeichnet Czollek als „Versöhnungstheater“.

In zahlreichen Beispielen zeichnet er die absurden Auswüchse dieses „Versöhnungstheaters“ nach, sei es in schiefen Interpretationen der Vergangenheit, vor allem in Bezug auf den Widerstand gegen den Nationalsozialismus, oder auch in einer Legitimation durch die vermeintlich vorbildliche Aufarbeitung der Vergangenheit, die dann zu Projekten wie dem Berliner Stadtschloss führen.

Natürlich sind Czolleks Gedanken nicht neu und er spart auch nicht mit Zitaten und Hinweisen, etwa auf Y. Michal Bodemanns „Gedächtnistheater“. Czolleks zugespitztes Essay ist dennoch sehr lesenswert, gerade weil er kein Blatt vor den Mund nimmt.

Gefallen wird das sicherlich nicht jedem. Stellt er doch Vieles in Frage. Etwa die 1700 Jahre Judentum Feiern, die den Wunsch, das Judentum in Deutschland als Kontinuität zu erzählen, zeigen. „Auf bestimmte Weise äußert sich darin auch die Hoffnung, dass alles doch nicht so schlimm gewesen ist, dass sich hier etwas überbrücken, rekonstruieren, eben wiedergutmachen lässt“, so Czollek.

Eine entscheidende Frage für die kommenden Jahrzehnte laute, „wie Erinnerungskultur als Teil einer pluralen Gesellschaft so gedacht werden kann, dass sie auch jene Teile miteinschließt, die nicht Teil des Versöhnungstheaters sein wollen oder können.“

Ein erster Schritt dahin wird sein, auch den unbequemen Stimmen zuzuhören. Stimmen wie Max Collek.

Max Czollek: Versöhnungstheater, Hanser Verlag 2023, 176 S., Euro 22,00, Bestellen?
LESEPROBE

PODCAST-TIPP: Trauer & Turnschuh
Das ist kein Geschichtspodcast. Das ist »Trauer & Turnschuh«. Oder wie wir es nennen: die emotionale Afterhour der Vergangenheit. Wir sind Hadija Haruna-Oelker und Max Czollek. Und wir reden jeden Monat darüber, was aus unserer Vergangenheit vergessen und verdrängt wurde und was das mit unserer Gesellschaft macht. Klar, eine happy Erzählung wird das nicht. Lässt sich aber trotzdem locker drüber reden. Trauer & Turnschuh eben. Und wer weiß, wenn wir herausfinden, was unsere Vergangenheit mit unserer Gegenwart macht, wird es morgen vielleicht sogar besser. Yalla, Kadima, Andale. Packen wir es an!