Der neue Herr des Westjordanlandes

0
65
(c) ויקי4800 / CC BY-SA 4.0

Lange Zeit galt Bezalel Smotrich einfach nur als das Enfant terrible der israelischen Politik. Als designierter Minister im Verteidigungsministerium sowie Chef des Finanzressorts wird Bezalel Smotrich nun von Benjamin Netanyahu mit weitreichenden Kompetenzen ausgestattet. Für den Vorsitzenden der Partei der Religiösen Zionisten ist das der Höhepunkt einer bemerkenswerten Karriere.

Von Ralf Balke

Israels Hauptstadt hat in den vergangenen Jahrzehnten schon viele Demonstrationen erlebt. Doch was im Herbst 2006 nahe dem zwischen Knesset und Ministerpräsidentenbüro gelegenen Rosengarten zu sehen war, sollte selbst für israelische Verhältnisse ein einzigartiges Spektakel sein. Denn eine größere Gruppe von Aktivisten, die sich von ihrem Erscheinungsbild eindeutig dem nationalreligiösen Spektrum zuordnen ließ, trieb eine Herde von Eseln und Ziegen vor sich her. „Bestien-Parade“ nannten sie dieses absurde Happening, das sich gegen die parallel stattfindende jährliche Pride-Veranstaltung in Jerusalem richtete. Und einer seiner Organisatoren, ein bärtiger junger Mann, der am Steuer eines mit Lautsprechern auf dem Dach ausgerüsteten Land Rovers saß, der inmitten der Tiere diese Demonstration anführte, war der 1980 geborene Bezalel Smotrich, der sich selbst als einen „stolzen Homophoben“ bezeichnet. Den Sicherheitskräften sagte der Name damals bereits einiges. Nur ein Jahr zuvor hatte er zu den Anführern der gewalttätigen Proteste gegen den israelischen Abzug aus dem Gazastreifen gezählt, weshalb der juvenile Bezalel Smotrich 2005 auch schon mal für drei Wochen in Haft saß.

Doch Bezalel Smotrich beließ es nicht bei Demonstrationen. Bald schon machte der Jurist –  einen Bachelor in Jura kann er aufweisen, den Masterstudiengang mit Schwerpunkt internationales Recht an Hebräischen Universität in Jerusalem hat er jedoch nie beendet – als Politiker Karriere. Als Vertreter von Tkuma, zu deutsch: „Wiedergeburt“, einer Abspaltung der mittlerweile nicht mehr existenten Nationalreligiösen Partei, die nach verschiedenen Zusammenschlüssen mit anderen Protagonisten aus dem ultra-nationalistischen und rechtsextremen Lager zur Partei der Religiösen Zionisten mutierte, gelang ihm 2015 erstmals der Einzug in die Knesset. Und 2019 bereits konnte Bezalel Smotrich auf einem Ministersessel Platz nehmen, und zwar im Verkehrsministerium.

Schon damals hatten sich viele Israelis gefragt, ob die „Biester-Parade“ und andere Aktionen einfach nur als Jugendsünden abzuhaken sind und Bezalel Smotrich nun Vernunft angenommen habe oder nicht. Auf die Antworten musste man nicht lange warten – die lieferte er rasch selbst. Nach einem Gerichtsurteil, das die geplante Trennung von Männern und Frauen bei dem Konzert eines religiösen Sängers in Afula untersagte, polterte er auf Twitter gegen Benjamin Netanyahu, nannte ihn einen „schwachen Ministerpräsident“, der solche „Verrücktheiten“ toleriere. „Null Führung, null Governance. Dina Silber ist der wahre Ministerpräsidentin“, schrieb er und bezog sich damit auf die stellvertretende Generalstaatsanwältin. Netanyahu was not amused und legte ihm ein nicht unterzeichnetes Entlassungsschreiben vor. Smotrich verstand die Botschaft, bat um Entschuldigung.

Es sollte nicht der einzige Ausrutscher sein. So hatte Bezalel Smotrich schon kurz zuvor im Juni 2019 am Merkaz Harav, der bedeutendsten Religionsschule aus dem Umfeld der Nationalreligiösen und auch seine Alma Mater, eine aufschlussreiche Rede gehalten. „Israel soll nach den Gesetzen der Torah geführt werden“, so seine Worte. „Wir wollen das Justizministerium, weil wir das Gesetz der Torah wiederherstellen wollen“. Weiter sagte er: „Der Staat des jüdischen Volkes soll – so Gott will – wieder so geführt werden, wie es zu Zeiten von König David und König Salomon einmal der Fall war.“ Diese Äußerungen fielen genau in die Phase, als Bezalel Smotrich noch über seinen künftigen Kabinettsposten verhandelte. Eigentlich plante er, Ayelet Shaked zu beerben und das Justizressort zu übernehmen. Damit war nun Essig. Zum einen wurde Benjamin Netanyahu recht deutlich und betonte: „Es wird keinen halachischen Staat in Israel geben.“ Zum anderen übergab er dem offen schwul lebenden Amir Ohana das Justizministerium, was aus der Sicht von Bezalel Smotrich ein besonders großer Affront war. Auch das daraufhin reklamierte Bildungsministerium sollte er nicht bekommen, am Ende wurde es „nur“ das Verkehrsministerium.

Jetzt sollten die Karten aber neu gemischt werden. Aus den Wahlen vom 1. November sind die Religiösen Zionisten als drittstärkste Kraft hervorgegangen, weshalb auch ein Bezalel Smotrich deutlich selbstbewußter gegenüber dem alt-neuen Ministerpräsidenten auftreten kann. So forderte er ein Schlüsselressort für sich, und zwar das Verteidigungsministerium. Das wiederum ließ in Washington die Alarmglocken schrillen – eine Person wie Bezalel Smotrisch als Verteidigungsminister ist und war für die Vereinigten Staaten nicht tragbar, weshalb Israels wichtigster Verbündeter auf Benjamin Netanyahu ordentlich Druck ausübte, ihm diesen Posten nicht anzuvertrauen. Genau deshalb musste ein Kompromiss gefunden werden. Also wurde eigens für ihn ein neuer Ministerposten innerhalb des Verteidigungsministeriums geschaffen. Fortan soll er in diesem Rang dem Gremium vorstehen, das für die Koordinierung der Regierungsaktivitäten in den Gebieten zuständig ist, und damit alles, was den Umgang der israelischen Regierung sowie der Streitkräfte mit den internationalen Organisationen, die im Westjordanland tätig sind, und der Palästinensischen Autonomiebehörde betrifft. Darüber hinaus erhält er ebenfalls die Kontrolle über alle Baumaßnahmen in den jüdischen Siedlungen im Westjordanland. Bis dato sah es so aus, dass die Entscheidungsgewalt bei der Bewilligung von entsprechenden Projekten vor allem beim Ministerpräsidenten lag. Fortan wird diese nur noch in der Anfangsphase eines Planungsprozesses benötigt.

De facto wird Bezalel Smotrich damit der neue Herr des Westjordanlandes und kann beispielsweise nun die vielen illegalen Außenposten von Siedlungen ganz offiziell legalisieren. Des weiteren hat er dann weitreichende Befugnisse, die den Alltag der Palästinenser im Westjordanland betreffen können. Aber nicht nur dieses Ressort wird Bezalel Smotrich inne haben. Auch das Finanzministerium soll von ihm – zumindest vorläufig, bis es gemäß eines Rotationsverfahrens an den Vorsitzenden der ultraorthodoxen Partei Shass, Aryeh Deri, übergeht – angeführt werden. Dadurch erhält er zusätzlich die Möglichkeit, den Siedlungsbau, den er in seinem anderem Job zu forcieren gedenkt, auch mit den nötigen finanziellen Mitteln auszustatten. Für Jemanden, der sich ohnehin die Annexion des Westjordanlandes auf die Fahnen geschrieben hat, eine geradezu traumhafte Verbindung von Kompetenzen. Doch noch ist dieses abenteuerliche Konstrukt von zwei Ministern im Verteidigungsministerium sowie der Besetzung zweier Ministerposten durch ein und dieselbe Position nicht in trockenen Tüchern. Erst müssen einige Basisgesetze geändert werden.

Die Karriere eines Politikers, der in der Vergangenheit vor allem durch Provokationen aufgefallen ist, wobei zu seiner offenen Homophobie sich auch noch Forderungen nach einer stärkeren Segregation zwischen Juden und Nichtjuden – beispielsweise wollte Bezalel Smotrich getrennte Entbindungsstationen für jüdische und arabische Mütter – und den Geschlechtern innerhalb der Armee gesellen, ist umso bemerkenswerter, weil er eine ganz entscheidende Voraussetzungen für einen Posten im Verteidigungsministerium einfach nicht mitbringt, und zwar eine militärische Laufbahn. Als er 18 Jahre alt wurde, meldete sich Bezalel Smotrich weder für den regulären dreijährigen Militärdienst, noch nutzte er die ebenfalls bestehende Option, ein fünf Jahre dauerndes Programm zu absolvieren, das den Militärdienst mit einem religiösen Studium kombiniert. Stattdessen nahm er die Aufschubregelung für Ultraorthodoxe in Anspruch, schrieb sich an der Religionsschule Merkaz Harav ein. Alles, was Bezalel Smotrich von der Armee dann doch sah, war ein sechsmonatiges Minimalprogramm, bei dem er nicht in einer Kampfeinheit eingesetzt wurde, sondern einen Schreibtischjob in Tel Aviv hatte. Der eigentliche Skandal: Obwohl er eigentlich für ein religiöses Studium im Merkaz Harav eingeschrieben war, machte er am Ono Academic College seinen Abschluss in Jura.

Damit ähnelt Bezalel Smotrich einem anderen Extremisten, der mit ihm im Kabinett sitzen wird, nämlich Itamar Ben Gvir. Den künftigen Minister für nationale Sicherheit wollte die Armee nicht einmal in ihren Reihen sehen, weil dieser schlichtweg zu radikale Ansichten vertrat. Doch im Unterschied zu diesem ist Bezalel Smotrich weniger theatralisch, wirkt in seinem Auftreten gemäßigter, obwohl sich ihre Ansichten kaum voneinander unterscheiden dürften. Der noch amtierende Generalstabschef Aviv Kohavi jedenfalls zeigte sich bereits entsetzt darüber, dass eine Person wie extremistische Person wie Bezalel Smotrich, die sich zudem weitestgehend vor dem Militärdienst gedrückt hat, nun Einfluss im Verteidigungsministerium gewinnt. Er ist nicht der einzige. Amos Gilad, der ehemalige Vorsitzende des Militärischen Nachrichtendienstes, drückte ebenfalls seine Besorgnis aus. „Wenn Smotrich seine Ideologie umsetzt, erwarte ich ein großes Desaster.“ Und Ex-Generalstabschef Gadi Eisenkot erklärte gegenüber TV-Kanal 12, dass, wenn Bezalel Smotrich und Itamar Ben Gvir „beabsichtigen, die Dinge, die sie sagen, auch in die Praxis umzusetzen, dies eine sehr schwierige Zeit für den Staat Israel sein wird“. Außerdem erreichte am Montag ein Schreiben den Obersten Gerichtshof sowie andere Institutionen des Staates, das von mehr als 1000 Veteranen der Luftwaffe sowie vom ehemaligen Generalstaatschef Dan Halutz und Amos Yadlin, dem früheren Chef des militärischen Geheimdienstes, unterzeichnet wurde. Sie alle fordern dazu auf, gegenüber den weitreichenden Plänen der neuen Regierung zum Umbau des Justizwesens und der Änderung wichtiger Basisgesetze standhaft zu bleiben.

Die große Frage in den nächsten Monaten ist also, inwieweit Benjamin Netanyahu all diese Bedenken ernst nimmt und ob er als Ministerpräsident extremistische Ideologen wie Bezalel Smotrich und auch Itamar Ben Gvir im Griff haben wird oder sie aus Gründen des Machterhalts  gewähren lässt und womöglich sogar einen Konflikt mit der Armee riskiert. Letztendlich sollte sich Benjamin Netanyahu ebenfalls darüber bewusst sein, dass er gerade wie nie ein Ministerpräsident vor ihm in der Geschichte Israels durch die Wahl seiner Koalitionspartner und die Übertragung wichtiger Befugnisse an sie die Sicherheit des Staates zur Disposition stellt.

Bild oben: (c) ויקי4800 / CC BY-SA 4.0