„Antisemitismus aktualisiert sich als Mittel der Politik“

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Zur Neuauflage von Paul Massings Vorgeschichte des politischen Antisemitismus

Von Florian Hessel

Paul W. Massings Studie Vorgeschichte des politischen Antisemitismus von 1949 ist im vergangenen Jahr in einer Neuauflage erschienen. Die Pionierstudie zur Geschichte der Judenfeindschaft im Deutschen Kaiserreich arbeitet die politische Funktion des Ressentiments heraus und fragt nach seinen massenkulturellen und politisch-ökonomischen Voraussetzungen. 

Werk & Autor

Von den in Amerika entstandenen empirischen Arbeiten der „Frankfurter Schule“ wurde nur eine einzige durch das aus dem Exil zurückgekehrte Institut für Sozialforschung selbst der Öffentlichkeit in Deutschland zugänglich gemacht: Paul W. Massings Vorgeschichte des politischen Antisemitismus. Mit einem Vorwort von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno versehen erschien die Studie in der Europäischen Verlagsanstalt, 1959 zuerst in den institutseigenen „Frankfurter Beiträgen zur Soziologie“ und 1986 nochmals in einer Taschenbuchausgabe. Im vergangenen Jahr hat der Verlag das Buch neu aufgelegt.

Paul Massings Buch beschreibt und analysiert die Entwicklung des modernen Antisemitismus in Deutschland seit der Gründungsphase des Kaiserreichs in den 1860er Jahren bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs 1914. Es gehört zu den Pionierarbeiten auf diesem Gebiet und ist ein (vergessener) Klassiker der Antisemitismusforschung. Von dem Historiker Ulrich Wyrwa herausgegeben und mit einem sehr lesenswerten Nachwort versehen, enthält die Neuausgabe auch erstmals eine deutsche Übersetzung des Vorworts von Massing zur US-amerikanischen Originalausgabe 1949. Insofern kann die Anschaffung auch denjenigen empfohlen werden, die bereits eine der beiden älteren Auflagen besitzen. In jedem Fall ist die Studie immer noch eine unverzichtbare Lektüre für alle, die an Geschichte und Gegenwart des Antisemitismus wie an Gesellschaftswissenschaft überhaupt interessiert sind.

Das Buch ist anschaulich geschrieben und von Felix Weil, nicht nur Gründer und Förderer des Instituts für Sozialforschung, hervorragend ins Deutsche übertragen worden. Über die Differenzen zur amerikanischen Ausgabe von 1949 informiert Ulrich Wyrwa eingehend in seinem Nachwort. Da die Studie ursprünglich für ein US-amerikanisches Publikum verfasst wurde, werden alle Personen, Organisationen und Zusammenhänge, das Parteiensystem, die staatliche Struktur und ihre jeweilige Entstehung etc., die Leser*innen der 1950er Jahre in Deutschland vielleicht noch zumindest entfernt gegenwärtig gewesen sein mögen, im Text oder in Anmerkungen ausführlich erläutert und kontextualisiert. Dies macht das Buch zum einen selbst zu einem interessanten Zeitdokument und es eignet sich zum anderen so noch immer dazu einen Einstieg in die Geschichte des ersten deutschen Nationalstaats und des Antisemitismus in diesem Zeitraum zu gewinnen – ergänzt durch die eine oder andere neuere Arbeit (ebenso kurz wie kurzweilig etwa Röhl 2013 und Richter 2021; zum Antisemitismus aktuell Longerich 2021: v.a. 87ff.).

Paul Massings Biographie, die sich in den folgenden Stichworten keineswegs erschöpft, wäre eine eigene, ausführliche Arbeit wert. (Bisher liegen dazu neben Texten von Ulrich Wyrwa namentlich einige wichtige Beiträge des amerikanischen Soziologen Mark P. Worrell vor.) Er gehörte in den 1940er Jahren zum engeren Mitarbeiterkreis des Instituts für Sozialforschung an der New Yorker Columbia University und war neben der vorliegenden Arbeit an den Studien zum Antisemitismus in der amerikanischen Arbeiterschaft sowie zu proto-faschistischen Agitatoren beteiligt. 1902 in der Pfalz geboren, war Paul Massing der einzige aus dem engeren Kreis um Horkheimer, der nicht aus einer jüdischen Familie stammte. Er studierte Wirtschaftswissenschaft und Soziologie, arbeitete als Agrarwissenschaftler in Moskau und war bereits Ende der 1920er mit dem Institut in Frankfurt verbunden gewesen. In den Strukturen der Arbeiterbewegung engagiert und im kommunistischen Widerstand aktiv, kam Massing jedoch erst Ende der 1930er Jahre, mit einer Zwischenstation im Moskau des „Großen Terrors“, endgültig in die USA. 1933 hatte er einige Monate Gestapo- und KZ-Haft überlebt und war nach seiner ersten Flucht nochmals in den antifaschistischen Untergrund nach Deutschland zurückgekehrt. Seine Erfahrungen verarbeitete er 1935 leicht fiktionalisiert in Schutzhäftling Nr. 880. Aus einem deutschen Konzentrationslager, als Fatherland auch in Amerika erschienen (siehe Billinger 1978 [1935]). 1939 folgte Hitler is No Fool, ein Versuch, die amerikanische Öffentlichkeit von der Gefährlichkeit der nationalsozialistischen Weltanschauung und des Antisemitismus als Rechtfertigung eines aggressiven rassenimperialistischen Griffs nach der Weltmacht zu überzeugen. Beide Bücher wurden unter dem Pseudonym Karl Billinger veröffentlicht. (Schutzhäftling Nr. 880 erschien zuerst deutsch in Willi Münzenbergs Exilverlag Editions du Carrefour in Paris; Hitler is No Fool. The Menace of the Man and His Program bei Modern Age Books in New York.) Ab den 1950er Jahren lehrte Massing dann politische Soziologie an der Rutgers University in New Brunswick bevor er nach Deutschland zurückkehrte. Er starb 1979 in Tübingen.

(K)Eine Vorgeschichte?

Paul Massings Studie erschien zuerst 1949 in den USA unter dem Titel Rehearsal for Destruction (siehe Massing 1949).  Ursprünglich sollte – so der Plan innerhalb des Instituts für Sozialforschung – eine Gesamtgeschichte des Antisemitismus in Deutschland bis zum Nationalsozialismus geschrieben werden. Der Haupttitel der Originalausgabe, der mit „Probe zur Vernichtung“ übersetzt werden kann, bewahrt noch die Spur dieses Vorhabens. Es war ein zu diesem Zeitpunkt denkbar ambitionierter Plan, der zum großen Bedauern des Institutsleiters Max Horkheimer schließlich aufgegeben werden musste. 

Amerikanischer wie deutscher Titel sind in einem gewissen Sinn missverständlich gewählt, wie auch Ulrich Wyrwa in seinem Nachwort zur Neuausgabe hervorhebt (vgl. Wyrwa, in Massing 2021: 315/316). Anders als es „Probe zur Vernichtung“ suggeriert, wird der Antisemitismus im deutschen Kaiserreich in Massings Darstellung nicht auf ein Vorspiel von Nationalsozialismus und Holocaust reduziert. Und ebensowenig handelt es sich um eine „Vorgeschichte des politischen Antisemitismus“, zumindest wenn man unter diesem Begriff denjenigen Antisemitismus im Kaiserreich versteht, der in Form von Massenbewegungen und schließlich auch von politischen Parteien, den sog. „Antisemitenparteien“, auftrat. Massing verfolgt exakt diese Entwicklung des modernen Antisemitismus in Deutschland seit der Gründungsphase des Kaiserreichs in den 1860er Jahren bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs 1914.

Wenn nun keine direkte Spiegelung des Inhalts der Studie, kann man in der Konstellation der beiden Titelgebungen allerdings die Reflexion eines Problems geschichtswissenschaftlicher wie gesellschaftlicher Kontinuität erkennen, die uns weiterhin beschäftigt (dazu etwa Volkov 2000b). Namentlich, der politische Antisemitismus vor 1914 gehört eindeutig zur Vorgeschichte des Nationalsozialismus und der Politik der Verfolgung, Beraubung und Vernichtung der europäischen Juden. „Die vorliegende Studie befasst sich mit den historischen Vorläufern des nationalsozialistischen Antisemitismus in Deutschland,“ schreibt Massing entsprechend im Vorwort zur US-amerikanischen Ausgabe. Und er fährt fort: „Damit soll ein Beitrag zum Verständnis der politischen Entwicklungen geleistet werden, die schließlich im Massenmord an den Juden als Teil der nationalen deutschen Politik gipfelten.“ (IX) Aber ebenso sehr wie das Geschehen zwischen 1933 und 1945 nicht von der Geschichte des deutschen, des europäischen, überhaupt des modernen Antisemitismus getrennt werden kann, so wenig geht Auschwitz, Chiffre für die in den gesellschaftlichen Prozess integrierte, verwaltungsmäßig organisierte Menschenvernichtung, vollständig in der Geschichte des Judenhasses auf.

Antisemitismus & die „eigentlich politisch-soziale Sphäre“

Der zentrale Bezugspunkt von Vorgeschichte des politischen Antisemitismus ist die Krise und das Scheitern der revolutionären politischen Kräfte in Deutschland. Dass diese Erfahrung nicht nur für die Biographie des Autors Massing bedeutsam ist – der sich zur Zeit der Moskauer Prozesse endgültig vom Parteikommunismus löste –, sondern eine zentrale Grundlage der vom Kreis um Horkheimer entwickelten Kritischen Theorie der Gesellschaft darstellt, ist oft hervorgehoben worden (vgl. zuerst Jay 1976: 21ff., 65ff.) und entsprechende Aussagen sind von den meisten Mitgliedern des Instituts für Sozialforschung dokumentiert, so etwa von Leo Löwenthal, Felix Weil, Herbert Marcuse und nicht zuletzt Horkheimer selbst. In ihrem Vorwort zur deutschen Ausgabe 1959 wenden sich Horkheimer und Adorno entsprechend gleichzeitig gegen die zeitgenössische deutsche Erinnerungsabwehr wie gegen jeden Versuch der Ableitung von Nationalsozialismus und Holocaust, der „die Fatalität des Geschehenen im Begriff nochmals wiederholt“, es sich so als vermeintlich unabwendbar zu eigen mache. „Den Spuren des heraufdämmernden Verhängnisses in der deutschen Vergangenheit ist allerorten auch deren Gegenteil gesellt, und die Weisheit, ex post facto zu dekretieren, was von vornherein das Stärkere gewesen sei, macht es sich allzu leicht, indem sie das Wirkliche als das allein Mögliche unterstellt,“ so betonen die Autoren der Dialektik der Aufklärung (VII). Die Geschichte des Antisemitismus werde von Massing entsprechend nicht geistesgeschichtlich oder allein anhand „intellektuelle[r] Wortführer“, als allzu deutscher Sonderfall oder unbegreiflicher Unfall geschrieben und so geschichtlich doppelt exorziert, sondern in der „eigentlich politisch-soziale[n] Sphäre“ verortet (VI).

Die politische Kapitulation des liberalen Bürgertums vor der autoritären, explizit nicht-demokratischen Zentralisation der zu spät gekommenen Nation ab den 1860er Jahren durchzieht in ihren Konsequenzen das ganze Buch. Die Aristokratie, hält Massing an einer Stelle fest, „hatte die Nationalidee den Mittelklassen, in denen sie entstanden war, abgenommen, mit konservativ-klerikalen Emblemen ausstaffiert und zu ihrem Monopol gemacht. Um die Wende des [20.] Jahrhunderts war Deutschland ein führender Industriestaat geworden, aber seine Industrialisierung war einer vorindustriellen politischen Struktur aufgepfropft.“ (104)

Der Thematisierung des Antisemitismus durch die Sozialdemokratie als Vertreterin der anderen ‚neuen‘ Gesellschaftsklasse werden eigene Kapitel gewidmet. Als im Kaiserreich grundlegend oppositionelle Kraft hatte die Arbeiterbewegung einen stetigen Abwehrkampf gegen den Antisemitismus geführt, der aber aufgrund des Unverständnisses für die Neuartigkeit dieses modernen, antimodernistischen Ressentiments oft ambivalent blieb. Beginnend mit Karl Marx arbeitet Massing die Gründe für dieses Unverständnis in der gebotenen Ausführlichkeit und mit intimer Kenntnis des Materials und der Lebenswelt der sozialistischen Parteiungen an zahlreichen Beispielen heraus. „Der quasi religiöse Glaube an ihre revolutionäre Mission verleitete die [sozialdemokratische] Partei zu systematischen Irrtümern in ihrer politischen und psychologischen Beurteilung der Entwicklung, insbesondere der des Mittelstandes. Deshalb waren auch ihre für die Analyse des Antisemitismus verwandten Kategorien zu undurchdacht.“ (219) Da man Antisemitismus vor allem als Äußerung hilfloser, „‚ökonomisch absterbende[r]‘ Schichten“ und als einen weiteren Bestandteil reaktionärer rechter Ideologie unter anderen auffasste, verlor nach dem Niedergang des (partei-)politischen Antisemitismus als eindeutigem Gegner am Beginn des 20. Jahrhunderts damit auch die Judenfeindschaft als solche an Bedeutung für die Linke.

Die jeweilige Integration und Anpassung der bürgerlich-liberalen wie der sozialdemokratisch-sozialistischen politischen Kräfte in und an das obrigkeitsstaatliche System und die gesellschaftliche Struktur einer widersprüchlich halbierten Modernisierung, erklärt für Massing einen wesentlichen Teil des breiten Wirkungspotenzials von Antisemitismus, aber auch von Antiliberalismus, Rassenmythos und Ethnonationalismus in Deutschland. „Die Gruppen, die der Industrialisierung zum Opfer fielen, schoben alle Schuld auf den ‚Liberalismus‘, auf jene Kräfte also, die zwar den sozialen und politischen Prozess antrieben, aber weder die Macht noch den Willen hatten, auch für seine politischen und moralischen Konsequenzen die Verantwortung zu tragen. So konnte der Antisemitismus in Deutschland viel breiteren Boden gewinnen als in anderen Ländern, in welchen die industrielle Umwandlung von einer politischen begleitet war.“ (104)

Antisemitismusforschung & gesellschaftliche Dynamik

In einer solchen Stellung der Analyse zwischen Sozialwissenschaft und Geschichtsschreibung wurde die Studie seit ihrer Veröffentlichung 1949/59 kaum wirklich beachtet oder tatsächlich verstanden. Abgesehen von wenigen Ausnahmen unter zum Antisemitismus Forschenden wie dem Historiker Reinhard Rürup oder dem Soziologen Detlev Claussen, wurde und wird Massings Vorgeschichte des politischen Antisemitismus, wie Ulrich Wyrwa in seinem Nachwort zur aktuellen Neuausgabe nochmals ausführlich belegt, entweder übergangen oder – am besten allein unter Bezug auf das Veröffentlichungsdatum oder das vorangegangene Urteil anderer Autor*innen – umstandslos als veraltet und überholt ad acta gelegt. Was angesichts des Ergebnisses noch heute höchst eindrucksvoll erscheint, dass nämlich Massing seine Studie unter erschwerten Bedingungen schreiben musste, während einige Quellen noch nicht zugänglich waren oder ihm so kurz nach dem Ende des Kriegs in Europa und aufgrund seiner räumlichen Distanz nicht zur Verfügung standen, wurde im Gegenteil zu einem Argument gegen ihn gemacht. Dabei stützte sich Massing, wie der umfangreiche Anmerkungsapparat dokumentiert, auf einen beeindruckend großen Korpus an Material und konnte auf die Arbeiten einiger heute außerhalb engster Fachkreise vollständig vergessener Vorgänger wie etwa Kurt Wawrzinek (Die Entstehung der deutschen Antisemitenparteien 1873-1890, Berlin 1927) zurückgreifen.

Zentral missversteht man so mit einer rein formalen Argumentation, namentlich des Fehlens bestimmter archivalischer Quellen, Massings und letztlich auch Horkheimers Intention für die Studie. Der politische Antisemitismus soll als ein Moment des Gesamtprozesses widersprüchlicher gesellschaftlicher Modernisierung, von Ökonomisierung, Säkularisierung und Subjektivierung, von Demokratisierung, Rationalisierung und Zentralisierung, begreifbar gemacht werden. Dass solche gesellschaftsgeschichtlichen Untersuchungen, namentlich die Fokussierung der widersprüchlichen Verbindung von Antisemitismus und Emanzipation oder der Grenzen der Aufklärung – so die Titel der Schriften der erwähnten Autoren Reinhard Rürup (1987) und Detlev Claussen (2005 [1987]) –, zwischenzeitlich zugunsten thematisch zentrierter, vor allem kulturgeschichtlicher oder mikrosoziologischer Perspektiven aus der Mode gekommen sind, mag zur ‚Erledigung‘ von Massings Studie wie zur Marginalisierung jeder gesellschaftstheoretischen Grundlegung in diesem Zusammenhang beigetragen haben.

Nicht nur zeichnet Vorgeschichte des politischen Antisemitismus nach was wie geschehen ist – über die Darstellung des Geschehens hinaus wird der Blick explizit gesellschaftskritisch geöffnet und erweitert: „Gründe für die Dynamik des Antisemitismus“, schreibt Massing, „können nur in der Dynamik der Gesellschaft gefunden werden.“ (32) Mit begrifflicher Klarheit und in stringenter Darstellung situiert Massing die Entwicklung des Antisemitismus in Deutschland nicht nur in den politischen Konstellationen des Kaiserreichs zwischen Reichsgründung und „Gründerkrise“, „Kulturkampf“ und Sozialistengesetz bis zur imperialistischen „Weltpolitik“ der Wilhelminischen Epoche. Er behandelt neben weiteren, in gebotener Kürze hier kaum angemessen zu würdigenden Momenten, auch die inhaltlichen wie formalen Verflechtungen von Antisemitismus mit dem Nationalismus, die Rolle der entstehenden Kulturindustrie oder implizit die Einflüsse internationalen Austauschs – von Massenmigration, transnationaler Kommunikation und Weltmarkt (vgl. Hessel 2018).

Funktionswandel & völkische Bewegung

Insbesondere aber liefert Massing eine wegweisende Beschreibung der gesellschaftlichen Funktion und des Funktionswandels des Judenhasses in dieser Zeit, als einer Symptomatik der ihnen zugrundeliegenden gravierenden sozio-ökonomischen Transformationsprozesse. Zwei miteinander verflochtene Aspekte erscheinen dabei wesentlich: Zum einen wurde der ab den 1870er Jahren virulente Antisemitismus vor allem der christlich-sozialen Bewegung des Hofpredigers Adolf Stoecker, der die soziale Frage zur „Judenfrage“ umdeutete, um 1880 durch einen völkischen, rassenmythologisch imprägnierten Antisemitismus, wo moderne gesellschaftliche, kapitalistische Verhältnisse als „Zersetzung“ und „Verjudung“ denunziert werden, überlagert. Zum anderen tritt der politische Antisemitismus im ersten deutschen Nationalstaat von Beginn an als Massenbewegung auf, zuerst als Mittel aristokratischer Politik, dann als sich verselbständigendes Moment demokratisierender Massenpolitik und Massenkultur.

Der Antisemitismus gewinnt im Verlauf der von Massing verfolgten gesellschaftsgeschichtlichen Entwicklung weiter den uns allzu vertrauten Weltanschauungscharakter. Eleonore Sterling (1969 [1956]: 13), eine andere heute übergangene Pionierin der Antisemitismusforschung, hat dies im Rahmen des von ihr so bezeichneten, vorangegangenen „Prozeß der Säkularisierung des Religionsverhältnisses“ in ihrer im gleichen Zeitraum 1956 erstmals erschienenen Arbeit über Die Anfänge des politischen Antisemitismus in Deutschland 1815-1850 eingehend analysiert. (Ebenfalls in der Europäischen Verlagsanstalt erschienen, ist auch dieser hervorragenden, von Horkheimer betreuten Arbeit, einer direkten Ergänzung zu Massings Studie, eine baldige Neuauflage zu wünschen. Sie behandelt im wortwörtlichen Sinn tatsächlich die Vor-Geschichte des politischen Antisemitismus.) Der Judenhass wird im Zeitraum nach den napoleonischen Kriegen bis in den Vormärz und zur Revolution von 1848 von den Residuen des traditionellen Antijudaismus und folgend zunehmend auch von konkreten Religionsbezügen gelöst – „die Juden“ werden schließlich für alle negativen Aspekte und Widersprüche des modernen Gesellschaftssystems wie Wirtschaftskrisen und Börsenspekulation, Auflösung überkommener Sozialmilieus, anonyme Herrschaft oder politische Ohnmacht projektiv verantwortlich gemacht. „Am Phantom des ‚Juden‘,“ so Massing entsprechend, „nicht an lebendigen Juden, entzündeten sich die Leidenschaften.“ (112) Oder, wie in unserer Zeit die Historikerin Shulamit Volkov (2000a: 28) prägnant formuliert: moderner Antisemitismus wurde „ein zum Symbol erhobener Judenhass“.

Antisemitismus fungierte in der christlich-sozialen Bewegung der 1870er als Agitationsinstrument gegen Liberale und Sozialisten im Sinne einer aristokratischen Politik, die „die Massen“ soweit als möglich von der Sphäre der Politik und erst Recht von Einfluss oder gar Teilhabe fernhalten wollte. Dass diese in diesem Appell an sie aber faktisch bereits einbezogen wurden bzw. einbezogen werden mussten, zeigt die strukturelle Schwäche der Position, die mit der immer offensichtlicher werdenden Transformation und Modernisierung von Politik, Öffentlichkeit und Gesellschaft, der Auflösung überkommener Sozialmilieus und Lebenswelten oder des Ruins ganzer Berufs- und Wirtschaftszweige, zusehends anachronistisch wurde. Die große Nähe der Führungsfiguren der christlich-sozialen Bewegung zu Konservativer Partei, Kirche, Hof und Regierung desavouierte deren Rhetorik zusätzlich beim anvisierten Publikum, während gleichzeitig das Auftreten allein im Stil einer Opposition sie bei den aristokratischen Führungsschichten verdächtig machte.

Demgegenüber inszenierte sich die völkische Bewegung durch ihre zahlreichen Agitatoren und Publizisten als Fundamentalopposition: „Alles mußte anders werden! Diese Universalität des Protests gab den Völkischen einen enormen agitatorischen Vorteil gegenüber ihren Konkurrenten,“ schreibt Massing (113).  Man wetteiferte nun bewusst als politisches und kulturelles Deutungsangebot auf dem ‚Marktplatz der Ideen‘ mit anderen. Im Bild „des Juden“, im sterilen Rassenmythos und der darin imaginierten homogenen „Volksgemeinschaft“, so Massing, werde geschichtliches biologisiert, „entgeschichtlicht“, und – in der Regel krisenhafte – Veränderung rationalisiert.  „Je größer die Zerrüttung der Gesellschaftsordnung, desto zahlreicher die unzufriedenen Elemente, die von der Absolutheit des völkischen Mythos angelockt wurden und seinen Anspruch, die einzig wahre Totalkritik der bestehenden Gesellschaft zu sein, anerkannten.“ (112)

In solcher Spannung zwischen Auflehnung und Affirmation, die auch aus den Untersuchungen zur Sozialpsychologie des Antisemitismus und des Ressentiments insgesamt gut bekannt ist und letztlich zur modernen Subjektkonstitution gehört, vollzieht sich die Entwicklungsgeschichte des modernen Antisemitismus in Deutschland auch politisch. Hier, so hält Massing in seinem Vorwort zur US-amerikanischen Ausgabe fest, „vermischen sich daher auf merkwürdige Weise Elemente der Reaktion im herkömmlichen Sinne des Wortes mit Elementen der sozialen Rebellion.“ (X)

Nicht die traditional orientierten Schichten, dies betont Massing in seiner brillianten Charakterisierung der völkischen Bewegung, sondern bereits unwiderruflich von gesellschaftlicher Modernisierung, Säkularisierung und den Widersprüchen einer unvollendeten Emanzipation geformte Milieus bildeten deren Reservoir. „Die bösartigste Sorte von Antisemitismus verbreiteten Lehrer, Studenten, Industrie- und Handelsangestellte, untere Beamte, Freiberufler und Anhänger der verschiedensten Sekten: Mitglieder von Lebensreformbewegungen, Roggenbrot-Enthusiasten, ‚Zurück-zur-Natur‘-Schwärmer und Gegner der Vivisektion.“ (96)

Scheitern & Transformation des politischen Antisemitismus um 1900

Als politische Programmatik hatte Antisemitismus nichts Realistisches zu bieten. Massing hebt hier nochmals dessen Wirkung als einer rationalisierenden Abwehr von politisch-ökonomischem Bedeutungsverlust oder indirekter Konkurrenz in der modernen, kapital- und marktförmig organisierten Gesellschaft hervor. Politisch-ökonomische Krisen stellten insofern nicht den Grund dar, weshalb Antisemitismus Wirkung gewinnen konnte, sondern seien als deren Grundlage zu verstehen. „Antisemitismus läßt sich nicht einfach als Reaktion auf ökonomisches Mißgeschick erklären,“ betont Massing. „Bauern, Handwerker, Gewerbetreibende, Studenten, Professoren, Offiziere und Beamte wurden von der wirtschaftlichen Entwicklung auf ganz verschiedene Weise betroffen. Gemeinsam war diesen Gruppen aber ein ausgeprägtes Bewußtsein ihrer gesellschaftlichen Stellung und deshalb die Furcht vor der ihnen drohenden Deklassierung.“ (219) Entsprechend wurde Antisemitismus für, in und durch eine moderne Massengesellschaft medial inszeniert und praktisch ausgelebt, als im Extremfall Kernbestandteil einer rassenmythologischen, „politisches wie persönliches Verhalten bestimmenden Lebensphilosophie“ und als vermeintliches „Wertesystem“ einer manichäischen Gegenüberstellung von „als ‚deutsch‘ gepriesenen Tugenden und ihrer Kehrseite, dem als ‚jüdisch‘ verworfenen Verhalten im sozialen, ökonomischen und kulturellen Leben“ (112).

Die Kernforderung des politischen Antisemitismus nach antijüdischen Ausnahmegesetzen, und letztlich faktisch die Aufhebung der Emanzipationsedikte des Norddeutschen Bundes, die 1869 – knapp 80 Jahre nach dem Beschluss der revolutionären französischen Nationalversammlung – (männliche) Juden rechtlich allen anderen (männlichen) Deutschen gleichstellten, hatte dabei wie Massing im Rückblick lapidar festhält, nie die Chance tatsächlich verwirklicht zu werden (vgl. 222f.). Sie entsprach nicht den machtpolitischen Konjunkturen des Tages und noch weniger den strukturellen Realitäten einer modernen, verrechtlichten, kapitalistisch-weltmarktorientierten Gesellschaft und ihrer Klassen.

Im Niedergang des politisch dergestalt erfolglosen politischen Antisemitismus und der damit assoziierten, im Reichstag vertretenen „Antisemitenparteien“ um 1900 gingen die Residuen des völkischen „Totalangriffs“ und des biologisierten, rassenmythologischen Geschichtsbilds im nun fast gesamtgesellschaftlichen Konsens eines imperialistischen Nationalismus auf. Die lautstarke Propaganda des „Alldeutschen Verbands“, die auf kontinentaleuropäische wie koloniale Expansion zielte und von Gewaltverherrlichung und Chauvinismus, von Misogynie, Rassismus und Antisemitismus geprägt war, ist dafür ein prominentes Beispiel. Deutlich manifestieren sich hier bereits Tendenzen, die schließlich zur Auslösung der „Urkatastrophe“ der Epoche, den technologisch entgrenzten Massengemetzeln des Ersten Weltkriegs, ihren wesentlichen Teil beitragen werden – und damit wiederum auch zum Eröffnungsakt der beispiellosen Gewaltgeschichte des kurzen 20. Jahrhunderts gehören.

Gleichzeitig mit dem Bedeutungsverlust des politischen Antisemitismus war die Judenfeindschaft aber ein wichtiger Bezugspunkt zahlreicher Berufs- und Interessenverbände geworden, in denen sich Mittelklassen und Teile der Oberschicht zusammenfanden. Antisemitische Ressentiments, hält Massing fest, seien nun zunehmend als „eine ‚Privatangelegenheit‘“ behandelt worden, „die in der Politik nicht am Platze sei“ (142) und wurden entsprechend als ein Gemeinschaft stiftender „kultureller Code“, wie ihn später Shulamit Volkov (2000a) benannt und analysiert hat, normalisiert und akzeptabel. Auch dies führt uns auf eine Spur in folgende Zeiten – bis zu einer Gegenwart, in der jeder Antisemitismus unter dem Schatten von Auschwitz existiert, als vermeinlich „bloße Meinungsäußerung“.

„Antisemitismus aktualisiert sich als Mittel der Politik“

Die Sozialpsychologie des modernen Antisemitismus bleibt bei Massing unterbelichtet. Doch im kollaborativen Arbeits- und Diskussionszusammenhang des Instituts für Sozialforschung entstanden, muss Vorgeschichte des politischen Antisemitismus entsprechend gelesen werden: Zu ihrem Kontext gehören die unveröffentlichten Studien zum Antisemitismus in der amerikanischen Arbeiterschaft ebenso wie die Authoritarian Personality, Leo Löwenthals und Norbert Gutermans Falsche Propheten und insbesondere die Dialektik der Aufklärung (vgl. Ziege 2009).

In der Fokussierung von Massings Studie auf die „eigentlich politisch-soziale Sphäre“ (Horkheimer/Adorno) spiegelt sich deutlich eine Tatsache, die heute noch allzu oft verdrängt, vergessen oder unterschätzt wird – dass Antisemitismus im Kern eine Praxis der Gewalt in Wort und Tat und deren gleichzeitiger Rechtfertigung darstellt: Wie unbewusst oder vermittelt auch immer, den Juden soll etwas, und zwar letztlich Gewalt, angetan werden (siehe wegweisend Claussen 2005 [1987]). Nicht nur angesichts der gewalttätigen Manifestationen des globalisierten Israelhass auch auf deutschen Straßen und vor deutschen Synagogen wie im Frühsommer 2021 oder der obsessiven Holocaust-Relativierungen und antisemitischer Verschwörungsmythen im Milieu der „Corona-Demos“, sondern ebenso bezüglich der anderen, indirekten, aber dadurch kaum verdeckten aktuellen Ausprägungen von Antisemitismus in Öffentlichkeit und Kulturbetrieb, muss diese Tatsache und ihre letztlich politische Dimension immer wieder vergegenwärtigt werden.

So schreibt etwa Lars Rensmann (2021) prägnant von einer „Re-Politisierung und Re-Mobilisierung antisemitischer Ressentiments“ in der Gegenwart. Diese gehe „nicht nur teilweise einher mit gewalttätigen Angriffen auf Juden und jüdische Einrichtungen nebst anti-israelischen Rechtfertigungsmodi,“ sondern interagiere auch „dynamisch mit einer Normalisierung von Juden- und Israelfeindschaft auf sozialen Medien und in der Kultursphäre sowie einem partiellen Mainstreaming des israelbezogenen Antisemitismus in der politischen Öffentlichkeit.“

Gerade heute neigt man allerdings in Wissenschaft, Pädagogik und Öffentlichkeit dazu, in der Betonung psychologischer, mikrosoziologischer oder kommunikativer Faktoren die politische Funktion, die Antisemitismus immer auch wesentlich ist, und die politisch-ökonomischen Bedingungen, die die entsprechende Gewaltpraxis in Wort und Tat überhaupt wirksam werden lassen, zu vernachlässigen. Der heutige Wert von Massings Pionierstudie liegt entsprechend nicht in einer in Wissenschaft und Feuilleton geschichtsblind als Schlagwort beschworenen „Aktualität“. Ihr Wert liegt in ihrer Geschichtlichkeit und erweist sich in kritischer Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Gegenwart. „Der Antisemitismus hat seine Basis in objektiven gesellschaftlichen Verhältnissen ebenso wie in Bewußtsein und Unbewußtsein der Massen,“ schreiben Horkheimer und Adorno am Schluss ihres Vorworts. „Aber er aktualisiert sich als Mittel der Politik“ (VIII). Nicht nur daran erinnert Paul Massings Vorgeschichte des politischen Antisemitismus.

Seitenzahlen im Text beziehen sich auf die Neuauflage.

Paul W. Massing, Vorgeschichte des politischen Antisemitismus. Übers. und bearb. von Felix J. Weil; neu hrsg. und mit einem Nachwort von Ulrich Wyrwa. Europäische Verlagsanstalt 2021, 364 S., 28 EUR, BESTELLEN?

Teile des Textes wurden zuerst veröffentlicht in „Vor der Vernichtung“, Jungle World 46 (2021)

Zitierte Literatur:

Billinger, Karl (d.h. Paul Massing) (1978 [1939]): Schutzhäftling Nr. 880. Aus einem deutschen Konzentrationslager. Rogner & Bernhard: München.

Claussen, Detlev (2005 [1987]): Grenzen der Aufklärung. Zur gesellschaftlichen Genese des modernen Antisemitismus. Erw. Neuauflage. Fischer Taschenbuch Verlag: Frankfurt/Main.

Hessel, Florian (2018): „‚Yellow Peril‘ and the Globalization of German Anti-Semitism“, in: Sarah K. Danielson & Frank Jacob (Hrsg.): Intellectual Anti-Semitism. Königshausen & Neumann: Würzburg, S. 41-60.

Jay, Martin (1976): Dialektische Phantasie. Die Geschichte der Frankfurter Schule und des Instituts für Sozialforschung 1923-1950. Fischer Taschenbuch Verlag: Frankfurt/Main.

Longerich, Peter (2021): Antisemitismus. Eine deutsche Geschichte. Von der Aufklärung bis heute. Siedler: München.

Massing, Paul W. (1949): Rehearsal for Destruction. A Study of Political Anti-Semitism in Imperial Germany (Studies in Prejudice, Vol. IV). Harper & Brothers: New York. Online: http://www.ajcarchives.org/main.php?GroupingId=6520 [Zugriff: 10.11.2021]

Rensmann, Lars (2021): „Israelbezogener Antisemitismus – Formen, Geschichte, empirische Befunde“. Bundeszentrale für politische Bildung. Online: https://www.bpb.de/politik/extremismus/antisemitismus/326790/israelbezogener-antisemitismus [Zugriff 16.10.2021].

Richter, Hedwig (2021): Aufbruch in die Moderne. Reform und Massenpolitisierung im Kaiserreich. Suhrkamp: Berlin.

Röhl, John C.G. (2013): Wilhelm II. C.H. Beck: München.

Rürup, Reinhard (1987): Emanzipation und Antisemitismus. Studien zur „Judenfrage“ in der bürgerlichen Gesellschaft. Neuausgabe. Fischer Taschenbuch Verlag: Frankfurt/Main.

Sterling, Eleonore (1969 [1956]): Judenhaß. Die Anfänge des politischen Antisemitismus in Deutschland 1815-1850. 2., erw. Aufl. Europäische Verlagsanstalt: Frankfurt/Main (zuerst Er ist wie Du. Verlag Chr. Kaiser: München 1956).

Volkov, Shulamit (2000a): „Antisemitismus als kultureller Code“, in: Dies.: Antisemitismus als kultureller Code. Zehn Essays. C.H. Beck: München, S. 13-36.

Volkov, Shulamit (2000b): „Das geschriebene und das gesprochene Wort. Über Kontinuität und Diskontinuität im deutschen Antisemitismus“, in: Dies.: Antisemitismus als kultureller Code. Zehn Essays. C.H. Beck: München, S. 54-75.

Ziege, Eva-Maria (2009): Antisemitismus und Gesellschaftstheorie. Die Frankfurter Schule im amerikanischen Exil. Suhrkamp: Frankfurt/Main.