Postmoderner Antisemitismus

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„Is Theory Good for the Jews?“ fragt der an der University of Minnesota lehrende Literaturwissenschaftler Bruno Chaouat in seiner bereits 2016 erschienenen, in Deutschland weitgehend ignorierten Streitschrift.

Von Ingo Elbe

„Theory“, das ist für Chaouat „French Thought“ (30), die weltweit in sog. Kultur- und Geisteswissenschaften tonangebende Melange aus Deutscher Ideologie (Nietzsche, Heidegger, Schmitt), darauf aufbauender eigenwilliger Interpretation des linguistischen Strukturalismus (Derrida, Foucault, Deleuze, Lyotard u.a.) und deren amerikanischer Rezeption in den sich inzwischen postkolonial artikulierenden Literaturwissenschaften (Said, Butler, Rothberg) (30-33). Diese Theorie ist Chaouat zufolge nicht gut für Juden, weil sie nicht nur unfähig ist, den Antisemitismus zu Beginn des 21. Jahrhunderts zu analysieren, sondern weil sie selber einen Beitrag zu diesem Antisemitismus leistet (21, 32).

In vier Teilen zeigt Chaouat, welche Elemente dieser Diskurs aufweist: In Teil 1 wird der genuin postmoderne Beitrag zum neuen Judenhass analysiert, der über eine philosemitische Wendung modern-antisemitischer Topoi vermittelt sei und letztlich bei einer säkularisierten Neuauflage der christlich-antijüdischen Substitutionstheologie und ihres „Jew-splitting[s]“ (xix) lande. Teil 2 beschäftigt sich mit der „sociological ready-made explanation“ (91) in der linken Terror-Apologetik und deren paternalistisch-rassistischem Doppeldenk. Teil 3 widmet sich der Shoah-Relativierung im „Colonial turn“ der ‚multidirektionalen‘ Holocaust-Studien, während Teil 4 die zuvor entwickelten Momente am Beispiel der Schriften von Enzo Traverso und Judith Butler erläutert. Das Buch widmet sich dem Thema des postmodernen Beitrags zum Antisemitismus vor dem Hintergrund der französischen Entwicklungen des letzten Jahrzehnts, die eine Zunahme an mörderischem, von Islamisten verübtem Judenhass (Morde an Ilan Halimi und später Sarah Halimi, Toulouse-Massaker, Hyper Cacher-Attentat, Bataclan-Terroranschlag usw.) mit einem „Islamo-Gauchisme“ kombinieren, der ein Bündnis von antizionistischen Linken und konservativen Muslimen darstellt und eine Atmosphäre der Feindseligkeit gegen Juden geschaffen hat, die erheblichen Einfluss auf die französische Öffentlichkeit gewinnen konnte. Politisch stehen im Zentrum des Buches dabei die intellektuellen Reaktionen auf den antisemitischen Terroranschlag von Mohamed Merah auf eine jüdische Schule in Toulouse, bei dem der Islamist drei jüdische Kinder und einen Rabbiner ermordete.

Chaouat zeigt, wie der postmoderne Philosemitismus die Juden zum ordnungszersetzenden Prinzip stilisiert: Das Jüdische wird demnach zum Inbegriff für Differenz, Unruhe und Bodenlosigkeit, zum „paradigm of the erasure or of the overcoming of all predicates“ (xxi), zum permanenten bedeutungsverschiebenden Kommentar ohne autoritatives Ende. Vom Volk des Buches, so Chaouat, werden die Juden zum Volk des Textes im dekonstruktivistischen Sinn des „fragmented […] and wandering meaning“ (35) metaphorisiert. In simpler Umwertung des antisemitischen Topos vom unheimlichen, ungreifbaren, alle Grenzen und Kategorisierungen negierenden, im Exil verstreuten, ewig wandernden Juden, sollen die Juden nun, folge man der postmodernen Phantasmagorie, auch gefälligst genau so sein, um als gute Juden durchzugehen. Das klassisch antisemitische Feindbild wird also mit Hilfe der Irrationalismen postmoderner Hermeneutik reartikuliert und positiv gewendet: Die Welt als reine diskursive Projektion, Kopie ohne Original, Bedeutungserfassung als Bedeutungsverschiebung, Auflösung von Subjektgrenzen sowie der Differenz von Subjekt und Objekt in ein numinoses, hypostasiertes diskursives Vermittlungsgeschehen, in absolute Relationen ohne vorgängige Relata und Substanzen – all das wird zur „‘diasporic condition of all beings‘“ (Vattimo/Marder, zit. 54) erklärt und mit den ‚wahren Juden‘ assoziiert. Die ‚guten Juden‘ werden zur Inkarnation des politischen wie ‚ontologischen Exils‘ und der gewaltlosen Auslieferung an ‚den Anderen‘.

An diese philosemitische Umwertung antisemitischer Feindbilder knüpfe nun eine säkularisierte neopaulinische Verdrängungstheologie an und etabliere einen neuen Konversionszwang gegenüber den Juden. Im Christentum sei das Judentum in ein ‚wahres, geistiges‘ und ein ‚fleischliches Judentum‘ aufgespalten worden, wobei das ‚geistige’ jüdisch-biblische Erbe immer schon als Christentum avant la lettre gegolten habe, die realen, ‚fleischlichen‘ Juden hingegen als am Buchstaben klebende, verstockte, partikularistische Menschenfeinde, die ihre Propheten töteten und den Sinn ihrer auf Jesus Christus verweisenden Schrift nicht verstünden. (Vgl. dazu: David Nirenberg, Anti-Judaismus, München 2015, S. 64-96) Die postmoderne Lehre befürworte nun „the Pauline distinction between letter and spirit, law and faith. Paul’s dialectics founded Christianity by defining the Jew either as virtual Christian or as fossil” (46). Die Postmoderne habe damit ihre „own antisemitic Christian heritage“ (147), der zufolge als guter Jude nur derjenige gelte, der seine Identität in der Demütigung lebt (der Jude als Opfer, vorzugsweise des Holocaust) oder sich zur Konversion entscheidet (der Jude als „Jew of negation“ (xxiv) oder ‚nichtjüdischer Jude‘), wobei diese Konversion zugleich als wahres Judentum verstanden werde, das aber eben in der Negation jüdischer Identität und Partikularität hin auf das Allgemeinmenschliche bestehe, so wie einst das wahre Judentum als Christentum gegolten hätte.

„[T]he metaphysics of Holocaust memory in Europe“, so Chaouat, „is grounded on the dual body of the Jew (the ‘adorable body of the victim,’ and the carnal, organic body of real Jews and Israel).“ (7) Wichtig sei dabei, dass auch der tote Jude für universelles Leiden stehen müsse, keineswegs das Opfer einer spezifisch antisemitischen Verfolgungs- und Vernichtungspraxis sein dürfe. Die Moralität, die dem Juden als Opfer zugesprochen werde, sei damit auch stets die Moralität der Opfer ‚der Ungerechtigkeiten‘ im Allgemeinen, womit auch der tote Jude immer schon, wenn man so will, katholisch (allgemein, allumfassend) ist. Die Shoah werde damit ‚multidirektional‘ entjudet und Antisemitismus wie Holocaust vorzugsweise in Rassismus, Kolonialismus oder Faschismus aufgelöst. Ob bei Heideggers Vergleich von industrialisierter Landwirtschaft und Massenvernichtung, beim „‘triptych Arendt-Milgram-Browning‘“ (80) mit dessen Topos der ‚ganz normalen‘ ideologiefreien Täter oder in Giorgio Agambens politexistentialistischer Erklärung der Ausnahme- und Extremsituation des Lagers zum ‚nomos‘ der Moderne (81f.) – stets stehe am Ende eine „de-Judaization of the Holocaust“ (163) und eine „Nazification of modernity“ (81): „they ‚Hitlerize‘ modernity and … normalize Hitlerism“ (82). Die jüdische Erfahrung werde zum Prinzip der Ansprüche aller ‚Unterdrückten‘ auf ‚Gerechtigkeit‘ entleert, der Zionismus hingegen zur Perpetuierung des engstirnigen Nationalismus stilisiert, zur Inkarnation des ‚bösen Juden‘, des ‚dreisten Partikularisten‘, der mit seiner Idee souveräner Identität, Territorialität und Ethnizität den postnationalen Frieden verunmögliche. So werde mit Rekurs auf den Holocaust gegen Israel als Gestalt des ‚jüdischen Provinzialismus‘ und ‚Anachronismus‘ (Tony Judt) gekämpft, gegen den Zionismus als vermeintlich letztem Ausläufer des zur Shoah führenden Nationalismus. Der Jude werde nur noch als verstreute Existenz und Kämpfer für allgemeine Gerechtigkeit (‚für einen gerechten Frieden‘, wie es scheinbar harmlos heißt) toleriert – ein „philosemitism that de-judaizes Jews in order to harness them into the struggle for universal judgement“ (149).

Damit soll im neuen Antisemitismus, folgt man Chaouats These, nicht mehr das ‚Unreine‘, sondern das ‚Reine‘, nicht mehr das Antinationale, sondern das Nationale – und zwar in Gestalt des ‚jüdischen Juden‘/Israelis – entfernt werden, und zwar um multikulturelle Harmonie und Frieden zu erreichen: „Europe is an unlimited, open space, that excludes the ‚name‘ Jew and Israel as the negative emblems of borders and limitation. Hence the Jewish state … appears as the ultimate anachronism and fossil to be overcome – nationalist, obsessed with borders and caught up within its self-enclosed identity. As such, Israel and the Jews must be done away with (at least symbolically) to ensure the perpetual peace to come … Israel and the Jews, once again, are the scapegoat of Europe, but this time not as those who disrupt traditions and borders, but as those anachronistic, fossilized elements, who disrupt the very disruption of all genealogies and transmissions that a would-be pacifist Europe strives to achieve.“ (8) Der Jude wird Chaouat zufolge nicht mehr als Rasse, sondern als Rassist imaginiert und nimmt im Denken der Antisemiten von heute sogar Züge des nationalen Antisemiten von einst an (19f.). Die Friedensfrage bleibe für die Antisemiten aber immer noch die Judenfrage, womit Chaouat auf Kontinuitätsmomente des Antisemitismus hinweist: „Jews are never where they ought to be, they are always in an awkward, somewhat anachronistic position vis-á-vis the dominant ideology – cosmopolitan in a nationalistic Europe, capitalist in communist Russia, Bolsheviks in Nazi Germany, nationalist in post-national Europe“ (8f.). Sie stören in der antisemitischen Imagination also stets die Harmonie der wie auch immer verstandenen Gemeinschaft, selbst wenn diese sich als multikulturelle Gesellschaft begreift. Diese ideologischen Grundmuster illustriert Chaouat vor allem in den Kapiteln 1 und 4 mit vielen Beispielen.

Kapitel 2 handelt von der Eskamotierung des Bösen und der Viktimisierung migrantischer und in diesem Fall vor allem muslimischer Täter antisemitischen Terrors durch die linke soziologische Projektion des Bösen auf eine Abstraktion (‚das System‘), deren Opfer die Täter seien (75). Dem Lippenbekenntnis gegen den Terror folge, so Chaouat, stets eine Pseudoerklärung auf dem Fuße, die den Terror aus ‚Verzweiflung‘, ‚Sprachlosigkeit‘ und ‚Marginalisierung‘ der Täter herleite. Neben der letztlich rassistischen Entmündigung der Täter und der Täter-Opfer-Verkehrung beinhalte diese „sociological ready-made explanation“ (91) auch noch einen doppelten Standard: Islamische Täter würden mit Hilfe eines ‚political talks‘ von ihrer genuin ideologischen Motivation freigesprochen und als Opfer dargestellt (erläutert am Beispiel der Schriften von Stéphane Hessel und Salim Bachi), während die ideologische (rassistische oder antisemitische) Motivation im Falle des ‚weißen‘ rechten Terrors im Zentrum der Aufmerksamkeit stehe (92). Während der Weiße in dieser Logik einfach nur Rassist/Antisemit sei, habe der islamische Terrorist diesem Doppeldenk zufolge ein politisches Anliegen, womit Juden implizit zum legitimen Ziel erklärt würden, vor allem wenn sie sich doch derart mit dem vermeintlich rechten und rassistischen Staat Israel identifizierten (148).

Kapitel 3 analysiert den inzwischen auch in Deutschland populären, von Michael Rothberg und anderen Literaturwissenschaftlern vertretenen Ansatz ‚multidirektionaler Erinnerung‘. Die Holocausterinnerung solle hier zum „dynamic object of global concern“ werden (124) und durch Analogien, Verflechtungen sowie Parallelen Licht auf koloniale Gewalterfahrungen werfen (und diese wiederum auf den Holocaust). „[D]espite a praiseworthy attempt at rejecting the paradigm of competition among victims“, meint Chaouat, „that paradigm returns to haunt multidirectional memory.“ (25) Denn diese erinnerungspolitische Strategie relativiere letztlich immer den Holocaust und praktiziere einen aggressiven postkolonialen Opferneid gegenüber den Juden. Chaouat belegt denn auch überzeugend, wie die Beispiele, die Vertreter der Multidirektionalität für ihren Ansatz anführen, systematisch auf missbräuchlichen und den Holocaust relativierenden Analogien beruhen. Der Holocaust wird zum „‘state of crisis‘“, der für den globalen Süden „‘not the exception but the rule‘“ sei (Françoise Vergès) (136), der Krieg gegen den Terror nach 9/11 wird mit dem Algerienkrieg der Franzosen und mit dem Holocaust ‚in Verbindung‘ gebracht (139), ohne die gravierenden Unterschiede wahrzunehmen. Die Multidirektionalität, wie Rothberg und Co. sie praktizieren, sei ein Beispiel für das „Vichy Syndrome“ der Linken: „a … hysterical way of conflating historical events and compressing them to the most extreme (the Collaboration, the deportation of Jews, and their extermination)“ (139). Aber nicht nur das: Chaouat argumentiert treffend, dass Rothbergs Versuch der ‚Ent-Provinzialisierung‘ des Holocaustgedenkens mit einem hochgradig provinziellen Antisemitismusverständnis arbeitet, das sich vornehmlich auf White Supremacists konzentriert. „Rothberg seems oblivious to extra-European and non-Western avatars of antisemitism“ (125). Vor allem der weltweite islamische Antisemitismus werde ignoriert oder heruntergespielt, aber, so Chaouat, „Antisemitism can no longer be limited to a white, racial European problem.“ (125) Dort, wo wirkliche ‚Verflechtungen‘ und Analogien existierten, versage der Ansatz Rothbergs also. Dagegen lasse sich am Beispiel eines Romans von Boualem Sansal zeigen, dass ein Bezug auf den Holocaust und dessen Erlösungsantisemitismus durchaus Licht auf den Islamismus werfen könne: der von Sansal betonte antisemitische Identitätswahn von NS-„Übermensch“ und islamistischem „Super-Muslim“ (153) sei eine derartige, in der Sache begründete Parallele.

In Kapitel 4 belegt Chaouat die bereits im ersten Teil erwähnten Motive des „Jew-splittings“ am Beispiel der Schriften Enzo Traversos und Judith Butlers. Beide konstruierten eine romantisierte Diaspora zum wahren Judentum und erzählten eine Verfallsgeschichte dieser jüdischen Tradition. Die national gewordenen Juden mutieren nun zu Verrätern an ihrem zerstreuten, gewaltlosen Wesen. Ihr Versuch, eine souveräne Identität zu gewinnen, produziere rassistische Ausschlüsse und mache sie zu den neuen Antisemiten, weil Antisemitismus im Anschluss an die grotesken Thesen Edward Saids als ‚Anti-Semitismus‘ (orientalistischer Hass gegen Juden und Araber/Muslime gleichermaßen) gedeutet wird (181f.). Der subversive Jude „embodied a principle of disorder” und wird nach der Gründung Israels ersetzt vom konservativen „law-and-order Jew“ (170): „‘Jewish modernity‘“, zitiert Chaouat Traverso, „‘has completed its trajectory. After having been the Western world’s main source of critical thought …, Jews now find themselves … at the heart of its mechanisms of domination.’“ (174) Juden seien nun Teil der respektierten Eliten, nicht mehr „‘figure of otherness internal to the Western world‘“, sondern „‘ha[ve] become symbol for the latter‘“ (180). Analog zu Ideologemen der Critical Whiteness-Studies werden Juden nun zum Teil der herrschenden Klasse sowie zu Imperialisten erklärt und ihnen genau das Privileg und die rücksichtslose Machtgier zugesprochen, die Antisemiten in ihnen immer schon zu erkennen glaubten. Obwohl die Geschichte des 20. Jahrhunderts den Traum von der Symbiose von Judentum und europäischer Diaspora ebenso erschüttert habe wie der Stalinismus den Traum vom Aufgehen ‚jüdischer‘ Kritik in den Kommunismus, resümiert Chaouat, soll der Jude den postmodernen Romantikern des Exils zufolge gefälligst diasporischer Europäer, Revolutionär oder wenigstens antizionistischer Amerikaner bleiben (173). Traverso betreibe aber nicht nur „an inversion of the antisemites‘ essentialization of the Jew, the simple placement of a plus sign before their negative essentialization“ (170). Er erkläre zudem, der Antisemitismus nach 1945/48, sei, wenn nicht tot, so doch wenigstens nicht-systemisch und durch „Islamophobia“ (171) ersetzt worden: „‘Antisemitism has ceased pervading national cultures and has yielded its place to Islamophobia‘“ zitiert Chaouat Traverso (173). Zwar sei Traverso zufolge eine neue „Judeophobie“ zu verzeichnen, diese sei aber durch den arabisch-zionistischen Konflikt erzeugt worden, habe also reale, politische Gründe im Handeln Israels, wohingegen ‚Islamophobie‘ für bloßen, politisch unmotivierten Rassismus, ja „‘the dominant form of racism‘“ zu Beginn des 21. Jahrhunderts, stehe (173). Juden werden demnach heute gehasst, nicht weil sie Juden seien, sondern weil sie Konservative, Kolonisatoren und Rassisten, sprich: Privilegierte und Menschenfeinde seien. Auch dies ist Chaouat zufolge lediglich die Aufwärmung eines uralten antisemitischen Topos: „Jews are hated because of their hatred of others.“ (172) Weil also Juden sich mit dem ‚Verbrecherstaat Israel‘ identifizierten, müssten sie sich, dieser Logik zufolge, auch nicht wundern, wenn Synagogen oder jüdische Schulkinder zum Kriegsschauplatz des ‚legitimen Widerstands‘ der Palästinenser gegen die ‚Okkupation‘ werden. Zitat Traverso: „’Their total identification with the state of Israel ultimately promotes the negative equation that leads antisemites to desecrate a synagogue because they see in it a symbol of the ‘Jewish state’“ (179).

Auch Judith Butlers Schriften gelten Chaouat zu Recht als Musterbeispiele des postmodernen „Jew-splittings“. Jüdischsein ist für Butler der Inbegriff der gewaltlosen Auslieferung an den Anderen, der das Andere in sich aufnehmenden, gespaltenen Identität. Wahres Jude-Sein kann demnach nur als Negation des personalen und nationalen Autonomiegedankens existieren und die Idee jüdischer Souveränität wird per definitionem zum Betrug an dieser idealen „Jewishness beyond identity“ (208). Zu Recht weist Chaouat darauf hin, dass Butlers dekonstruktives Konzept des Jüdischen als inkarnierte Nicht-Identität und ihr Ressentiment gegen den Zionismus bei aller Differenz im Gegenstand systematisch mit Grundmotiven ihrer radikalkonstruktivistischen Gender-Theorie verbunden sind: „I would therefore suggest reading as two intertwined questions that of Jewish identity and that of sexual identity in Butler’s theoretical trajectory. … ‘the Jewish Jew‘, or Zionist … would stand for a figure of order, symbolic, and natural transmission – everything that gender theory rejects as heteronormative“. (209, 212) Die Ausblendung ethischer Dilemmata sowie faktischer Konflikte und Begrenzungen im Politischen (hier: die Frage des jüdischen Umgangs mit dem die Juden mit Vernichtung bedrohenden ‚Anderen‘ in Gestalt von Hamas, Hisbollah oder dem Iran) zugunsten einer reale Gefahren de-realisierenden Wunschvorstellung von „Kohabitation“, weist Chaouat zufolge Züge eines „moral narcissism“ (222) auf, der auch der radikalen Dekonstruktion des Geschlechts zugrunde liege. Auch wenn Chaouat keine ausführliche Analyse von Butlers antizionistischer Kampfschrift Parting Ways liefert (einem Buch voller Halbwahrheiten, verzerrender Auslassungen und Legenden über den arabisch-israelischen Konflikt), so sind seine Detailuntersuchungen zu Butlers, vorsichtig gesagt, tendenziöser Arendt- und Levinas-Lektüre in diesem Buch doch erhellend – insbesondere seine Kritik an Butlers Behauptung, Levinas betrachte die Palästinenser als ‚Menschen ohne Antlitz‘, denen gegenüber keine ethischen Rücksichten bestehen sollen (215-222).

Chaouats Buch bietet einen ebenso instruktiven wie erschreckenden Einblick in die Vorstellungswelt eines akademisch-politischen Milieus, dessen Ressentiment gegenüber dem jüdischen Staat und dessen groteske De-Realisierung antisemitischer Gewalt und Propaganda ‚der Anderen‘, vor allem islamischer politischer Akteure, viel zu wenig kritische Beachtung finden. Vieles bleibt in Chaouats Werk unausgeführt, zu viele Themenstränge und Theoretiker werden angesprochen und gestreift. Neben einer tiefergehenden philosophischen Auseinandersetzung mit einigen Positionen fehlt vor allem die Nachzeichnung der empirischen Fehlwahrnehmungen, Auslassungen und oft auch schlichten Lügen, auf denen das Israelbild der postmodernen Spitzenakademiker beruht (zu diesem Zweck kann Ben-Dror Yeminis ausgezeichnetes Buch Industry of Lies hinzugezogen werden). Doch Chaouat ist sich der Grenzen seines Werks bewusst und versteht es als Inspiration für weitere Forschung. Eine solche Forschung zum postmodernen Antisemitismus steht erst am Anfang und wird große institutionelle Hürden überwinden müssen – haben die postmodernen und postkolonialen Dogmen doch in weiten Teilen des globalen akademischen Betriebs erheblichen Einfluss gewonnen. Eine deutsche Übersetzung wäre dringend angeraten, gerade um den nicht nur in Berkeley und Paris, sondern auch in Berlin permanent reproduzierten geistigen Provinzialismus eines auf die klassische nationalistische Rechte fokussierten Antisemitismusbegriffs zu überwinden.

Bruno Chaouat: Is Theory Good for the Jews? French Thought and the Challenge of the New Antisemitism. Liverpool University Press. Liverpool 2020 [2016], Bestellen?

Ingo Elbe ist Privatdozent und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Philosophie der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Letzte Publikation zum Thema Antisemitismus: The Anguish of Freedom. Is Sartre’s existentialism an appropriate foundation for a theory of antisemitism? In: Antisemitism Studies 2020. Weitere Publikationen unter: https://uol.de/philosophie/pd-dr-ingo-elbe/publikationen