Vom Hass zum Genozid

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Die erste Gesamtdarstellung der Schoah von Léon Poliakov aus dem Jahr 1951 erschien mit 70 Jahren Verspätung endlich auch auf Deutsch.

Von Jim G. Tobias
Zuerst erschienen in: Tachles, 21.01.2022

„Léon Poliakovs hervorragendes Buch über das Dritte Reich und die Juden ist das erste, das die späten Phasen des Nazi-Regimes strikt auf der Grundlage von Primärquellen darstellt“, schrieb Hannah Arendt seinerzeit in ihrer Rezension über Poliakovs Buch „Breviaire de la haine. Le III Reich et les Juifs“. „Wer wissen will, was wirklich geschah und wie es wirklich geschah“, so Arendt weiter, „kann es sich nicht leisten, diese Studie zu übersehen.“ Bald nach der französischen Originalausgabe wurde das Werk ins Englische, Italienische und Spanische übersetzt. Eine Übertragung ins Deutsche blieb aus! 70 Jahre mussten vergehen, bis dieses frühe Standardwerk in die Sprache der Täter übersetzt wurde und nun endlich unter dem Titel „Vom Hass zum Genozid. Das Dritte Reich und die Juden“ vorliegt.

Der arische Mythos

Léon Poliakov wurde 1910 in St. Petersburg geboren und lebte seit 1920 in Frankreich. In der Résistance kämpfte er gegen das nationalsozialistische Regime. Als Historiker forschte und publizierte er über Rassismus, Antisemitismus, jüdische Geschichte und die Schoah. Schon 1943 gründete Poliakov im Untergrund das „Centre de documentation juive contemporaine“ (CDJC), eine historische Kommission zur Dokumentation der Verbrechen an den französischen Juden. Das CDJC ist heute Teil des Mémorial de la Shoah, der zentralen Holocaust-Gedenkstätte Frankreichs. Léon Poliakov veröffentlichte zahlreiche Studien, wie etwa die achtbändige „Geschichte des Antisemitismus“, „Der arische Mythos“ oder zusammen mit Joseph Wulf „Das Dritte Reich und die Juden“, die, teilweise mit jahrzehntelanger Verspätung, ins Deutsche übersetzt wurden.

Von 1946 bis 1948 arbeitete Léon Poliakov als Sachverständiger der französischen Delegation beim Internationalen Gerichtshof in Nürnberg. Dadurch hatte er Zugang zu Prozessunterlagen, etwa Zeugenaussagen, zu internationalen Dokumenten sowie von den Alliierten sichergestellten NS-Akten, die er als Grundlagen für sein Buch nutzen konnte – ein direkter und früher Blick auf das Quellenmaterial. Nach seinem eigenen Bekunden suchte er eine Antwort auf die Frage: warum? „Was mir damals keine Ruhe liess und sicherlich nicht nur mir, das war das Geheimnis der Henker; das waren die Umstände, unter welchen die Führungsebene des Dritten Reichs beschlossen hatte, mich zu töten, ebenso wie Millionen andere menschliche Wesen.“ Die kaltblütige Vernichtung von jüdischen Männern, Frauen und Kindern, bei der „innerhalb von wenigen Jahren zwei Drittel aller Juden in Europa vom Erdboden verschwanden“.

Ablauf des Zivilisationsbruchs

Poliakov versucht den „Massenmord greifbar und plausibel zu machen“, wie Hannah Arendt schreibt. Nur wenn der Leser sein „ungläubiges Entsetzen weiterhin fühlt, nur dann wird er in der Lage sein, allmählich zu verstehen“. Überzeugend rekonstruiert der Autor den chronologischen Ablauf des Zivilisationsbruchs, der von Raub und Versklavung, Ghettoisierung und Deportationen geprägt war und schliesslich in den „Todesfabriken“ endete. Dabei zeigt er auch die Verbindung zwischen Massenmord und „Euthanasie“ auf, beschreibt die enge Zusammenarbeit der beteiligten deutschen Dienststellen und thematisiert das stillschweigende Einverständnis beziehungsweise die völlige Gleichgültigkeit der deutschen Bevölkerung. Ein weiteres grosses Verdienst Poliakovs ist es, dass er dem jüdischen Widerstand ein eigenes Kapitel widmet. Dieser wurde jahrzehntelang, auch von renommierten Historikern, vehement bestritten.

Bis zu seiner Emeritierung lehrte Léon Poliakov an der Pariser Sorbonne und starb hoch verehrt 1997 im französischen Orsay. In Deutschland wurden er und seine grundlegende Studie „Breviaire de la haine“ kaum wahrgenommen, in der Fachwelt seine Arbeit nicht rezipiert, ja sogar als unwissenschaftlich abqualifiziert. Dank an den Berliner Klaus Bittermann Verlag (Edition Tiamat), dass dieses wichtige Zeugnis der Schoah dem deutschen Leser zugänglich gemacht wurde. Ein „historisches Meisterwerk“, wie der Übersetzer Ahlrich Meyer, emeritierter Professor der Universität Oldenburg und ehemaliger Leiter der Forschungsstelle Nationalsozialismus und Zeitgeschichte, in seinem Nachwort schreibt. Dem ist ausnahmslos beizupflichten: „Vom Hass zum Genozid“ darf in keiner Bibliothek fehlen – auch oder gerade weil es schon vor 70 Jahren publiziert wurde.

Léon Poliakov, Vom Hass zum Genozid: Das Dritte Reich und die Juden, Berlin 2021. Bestellen?

Bild: Leon Poliakov im Zug auf der Fahrt nach Nürnberg, November 1945, Foto: aus dem besprochenen Band (Memorial de la Shoah)