„Kindermörder Israel“ als antisemitisches Stereotyp

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Unser Autor Armin Pfahl-Traughber hielt am 15. November 2021 an der RWTH Aachen digital einen Vortrag zum Thema „Ab wann sind Einwände gegen die israelische Politik antisemitisch?“. Dabei benannte er auch die Formulierung „Kindermörder Israel“ als antisemitisches Stereotyp. Im Chat kritisierten dies insbesondere palästinensischstämmige Studierende. In der Debatte erläuterte Pfahl-Traughber diese Position. Hier findet sich als ausführlichere Erläuterung noch ein nachträglicher Text dazu.

Von Armin Pfahl-Traughber

Mitunter wird auf Demonstrationen auch „Kindermörder Israel“ gerufen, wobei diese besondere Formulierung für ein antisemitisches Stereotyp steht. Bevor diese besondere Einschätzung näher begründet wird, soll zunächst der sachliche Hintergrund thematisiert werden. Dazu sei zunächst an die genaue Definition von Mord erinnert: Es geht dabei um eine gegenüber einem oder mehreren Menschen erfolgte bewusste und gezielte Tötung. Damit stellt sich zunächst die Frage, ob Israel gezielt Kinder umbringt. Eine differenzierte Antwort auf diese Frage setzt einige Reflexionen voraus: Dass auch Kinder bei israelischen Raketeneinsätzen sterben, entspricht angesichts einschlägiger Berichte leider der Realität. Dabei gilt es aber zu berücksichtigen, dass die gemeinten Angriffe meist die Folge von vorherigen Raketenangriffen sind. Die Hamas eskaliert primär von sich aus so den Konflikt. Dabei werden aus propagandistischen Gründen auch zivile Opfer einkalkuliert, erfolgen doch deren Angriffe mitunter offenbar bewusst aus der Nähe von Schulen.

Einschlägige Fotos von getöteten Kindern dienen dann der politischen Propaganda, womit sich vom israelischen Agieren ein negatives Zerrbild zeichnen lässt. Dies geschieht etwa über Aufnahmen bei Beerdigungen, die dann als Filme in die Nachrichten kommen und einen antiisraelischen Unmut schüren sollen. Doch so bedauerlich derartige Ereignisse sind, stellt sich hier doch die Frage, ob die Einschätzung „Kindermörder Israel“ dafür angemessen ist. Selbst wenn man besonders böse Absichten dem israelischen Militär unterstellen würde, würde dieses eben angesichts der von diesen Bildern ausgehenden Wirkung auf ein solches Vorgehen verzichten. Denn mit Kindern sind insbesondere hilflose, unbeteiligte und wehrlose Menschen die Opfer. Gibt es angesichts dieser Ausgangssituation dann genaue Belege dafür, dass Israel gezielt palästinensische Kinder umbringt? Es kommt zu gezielten Angriffen auf palästinensische Terroristen, womit so deren Gewalthandlungen gegen Menschen auf israelischem Territorium unterbunden werden sollen.

Über die Angemessenheit derartiger Handlungen kann man streiten, gleichwohl haben sie nichts mit Belegen hinsichtlich einem Bild „Kindermörder Israel“ zu tun. Es kommt bei solchen Angriffen auch dazu, dass Kinder ihr Leben verlieren. Dies ist aber nicht die Folge einer konkreten Zielsetzung. Demnach geht mit einer Formulierung wie „Kindermörder Israel“ auch eine unangemessene Unterstellung einher. Ihre propagandistische Dimension ist aufgrund der bewussten oder unbewussten Fehlwahrnehmung eine einseitige Verzerrung. Doch muss es sich bei „Kindermörder Israel“ auch um ein antisemitisches Stereotyp handeln? Direkte Aussagen gegen Juden sind mit solchen Vorstellungen nicht verbunden. Es geht doch scheinbar nur um schiefe Einwände gegen das israelische Vorgehen. Auch eine einseitige und falsche Propaganda muss nicht auf judenfeindlichen Vorstellungen gründen. All diesen Einwänden kann man zustimmen, gleichwohl können sie keine Gültigkeit beanspruchen. Denn in diesem Fall artikuliert sich ein altes antisemitisches Stereotyp.

Gemeint ist die mittelalterliche Legende vom „Ritualmord“, wonach Juden angeblich kleine Kinder entführten, um sie um religiöser Riten willen zu töten. Derartige Auffassungen haben sich jahrhundertelang im christlich geprägten Europa gehalten. Auch die Nationalsozialisten nutzten sie für ihre Propaganda. Und dann fanden derartige Behauptungen auch spätestens ab 1840 („Damaskus-Affäre“ als Stichwort) große Verbreitung in der islamisch geprägten Welt. Ab 1948 war ebendort die antiisraelische Agitation mit derartigen Stereotypen verbunden, gab es dazu doch einschlägige Bücher und Filme wie von Persönlichkeiten kursierende Stellungnahmen. Die Auffassung vom „Kindermörder Israel“ ist demnach von der Legende vom „Ritualmord“ eine zeitgenössische Variante. Den heutigen Demonstranten, die derartige Parolen rufen, muss dieser ideengeschichtliche Hintergrund nicht bekannt sein. Sie agieren dann nicht unbedingt subjektiv gewollt, aber objektiv wirkend mit eben diesem alten judenfeindlichen Stereotyp, das so auch in der Gegenwart seine Wirkung entfaltet.

Bild oben: Darstellung der Ritualmordlegende „Martyrium des Simon von Trent“, Nürnberger Weltchronik von Hartmann Schedel. 1493