Ein Gebet und eine Geschichte

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Aus dem Projekt „Treasures from Jewish Storytellers – Jüdische Geschichtenerzähler aus aller Welt und ihre Lieblingsgeschichten“

Moira Thiele

Die kleine Geschichte, die Ihnen schon in der Einleitung zu dieser Geschichtensammlung begegnet ist, kommt aus der Tradition des Chassidismus, der in schweren Zeiten der Verfolgung vor 300 Jahren in Polen, Litauen und der Ukraine entstand.

Wie alle frommen Juden ehren die Chassidim das Gesetz und die Schriften, aber mehr noch leben sie ihre Liebe zu Gott und den Menschen im hingebungsvollen Gebet, in frommen Liedern und im Rausch des Tanzes. Sie verehren ihre Rabbis und sind überzeugt, dass Gott ihnen Wunderkräfte verleiht. Rabbi Israel ben Elieser, genannt der Baal Shem Tov, der Meister des guten, des göttlichen Namens, war der große Begründer ihrer Bewegung und der berühmteste Rabbi der Chassidim.

Es ist eine Geschichte von der Weitergabe der Traditionen von Generation zu Generation, aber auch eine Parabel von der Bedeutung und dem Wert der Geschichten. Und so wird sie von Rinah Sheleff aus Israel erzählt:

Wenn der Baal Shem Tov sah, dass Unheil dem jüdischen Volk drohte, war es sein Brauch, an einen bestimmten Ort im Wald zu gehen, ein Feuer anzuzünden und ein besonderes Gebet zu sprechen. Und dies genügte, um das Unheil abzuwenden.

Generationen später, als sein Jünger, der berühmte Maggid von Mezritch, gebeten wurde, um Gnade für sein Volk zu flehen, ging er zum gleichen Ort im Wald und sprach zu Gott: »Du Vater voller Erbarmen, ich weiß nicht, wie das Feuer angezündet wird, aber ich kenne den Ort im Wald und kann das Gebet noch sprechen. Möge es genügen, um mein Volk in Sicherheit zu bringen.« Und es war genug.

Generationen später wollte der Rabbi Moshe-Leib von Sasov seine Anhänger vor einem Unheil schützen. Auch er ging an den Ort im Wald und rief zu Gott: »Herr der Welt, ich weiß nicht, wie das Feuer angezündet wird, und das Gebet kenne ich auch nicht. Aber ich kenne diesen Ort. Möge es genügen.« Und es genügte.

Als es an Rabbi Israel von Rizhyn war, seine Schüler zu beschützen, da saß er zuhause in seinem Lehnstuhl, den Kopf in den Händen, und er seufzte: »Herr des Himmels, ich kann das Feuer nicht anzünden und das Gebet habe ich nie gekannt, und ich kann mich nicht an den Ort im Wald erinnern. Ich kenne nur die Geschichte, und das muss genügen.«

Lasst uns hoffen, dass die Geschichte immer genügen wird.

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A Prayer and a Story

by Rinah Sheleff

When the Baal Shem Tov saw troubled times ahead for the Jewish people, he would go to a certain place in the forest, light a fire, and say a prayer. And this was enough to avert the troubles.

When his disciple, the Maggid from Mezeritch, the storyteller and preacher, found it necessary to ask for mercy for his people, he would go to that same place in the forest and speak to God: „Merciful Father, I don’t know how to light the fire, but I know the place in the forest, and I know the prayer. May that be enough to lead my people to safety.“ And it was enough.

Generations later, when Rabbi Moshe Leib of Sassov was called upon to save his followers, he would go into the forest and call upon God: „Master of the Universe, I can’t light the fire, and I don’t know the prayer. All I know is the place in the forest. May that be enough.“ And it was enough.

And when came the turn of Rabbi Israel of Rizhyn to protect his disciples, he would sit in his armchair, his head in his hands, and sigh: „Ruler of the Heavens, I can’t light the fire, I never knew the prayer, and I don’t remember the place in the forest. All I know is the story. May that be enough.“

Let us hope that the story will always be enough.