Heute wird Sonja Borus/Shoshana Harari 94 Jahre alt. Wir gratulieren herzlich! Unsere Autorin traf sie vor einigen Jahren anlässlich einer Stolpersteinlegung für die Familie Borus in der Choriner Straße 2 in Berlin – Prenzlauer Berg…
Von Christel Wollmann-Fiedler
Stolpersteine wurden für vier ermordete jüdische Bürger in Berlin – Prenzlauer Berg verlegt. Auf dem Bürgersteig vor dem ehemaligen Wohnhaus der Familie Borus in der Choriner Straße 2 verlegte der Künstler Günter Demnig die vier bronzenen Steine in den Boden. Die einzige Überlebende der Familie Borus war von Israel nach Berlin gekommen. Sonja Borus hieß sie damals in Berlin, in Israel wurde sie Shoshana Harari, hat überlebt als damaliges Kind der „Villa Emma“ in Nonantola bei Modena, letztendlich durch die Flucht der Kinder in die Schweiz. Im Kibbuz Ruchama am Rande der Negev Wüste, nahe der Grenze zu Gaza, lebt sie bis heute. Zwei Töchter aus Israel begleiteten die alte Mutter, eine Tochter kam aus den Niederlanden und der Sohn aus Los Angeles, zwei Enkel waren die jüngsten Begleiter, um an der wichtigen sehr familiären Zeremonie in der Choriner Straße dabei zu sein. Für Shoshana Harari ein wichtiger Tag, ein sehr wichtiges Gedenken an die ermordeten Eltern und die beiden Brüder. Endlich nach vierundsiebzig Jahren konnte sie den von den Nazis Ermordeten die letzte noch bleibende Ehre erweisen.
Cord Bahlberg, der Architekt und Posaunist spielte „Where’er you Walk“, die Arie aus Georg Friedrich Händels Oratorium „The Story of Semele“, das 1744 in London uraufgeführt wurde. Der Historiker und Initiator dieses Gedenktages Dr. Klaus Voigt aus Berlin und Kenner und Erforscher der „Kinder der Villa Emma“ erzählt die traurige Geschichte der Familie Borus aus der Choriner Straße, erzählt, dass Abraham und Beila Borus, die Eltern der heute neunzigjährigen Shoshana Harari nach dem 1. Weltkrieg von Polen in die preußische Metropole Berlin einwanderten. Vor der großen Armut in Galizien und vor den Progromen sind sie geflohen und suchten Schutz, Arbeit und Zukunft im Berlin der Weimarer Republik. Abraham und Beila heirateten und bekamen drei Kinder. Zwischenhändler war Abraham und konnte die Familie recht und schlecht ernähren, bescheiden lebten sie und bewohnten zwei Zimmer und eine Küche in der Choriner Straße 2. Ein Badezimmer gab es nicht, die Toilette war eine Treppe tiefer, wie es damals in den Berliner Mietskasernen üblich war. Der Sohn Samuel, Sami, wurde 1923 geboren, 1927 Sonja und 1932 Martin. Die Kinder besuchten deutschsprachige jüdische Schulen in der Umgebung. Orthodox religiös war das Leben der Familie, am Sabbat und an den jüdischen Feiertagen gingen sie in die Alte Orthodoxe Synagoge in die Heidereutergasse im Alt-Berliner Marienviertel, in der Nähe der Neuen prunkvollen Synagoge in der Oranienburger Straße. Die Heidereutergasse und auch die Synagoge dort gibt es nicht mehr. Vor Jahren verschwand die Gasse, nur die Verlängerung, die Rosenstraße, blieb, wo seit über fünfundzwanzig Jahren das bildhauerische Werk aus Chemnitzer Porphyr der Bildhauerin Ingeborg Hunzinger zum Gedenken an den Protest der Frauen im Februar 1943, ihren Platz bekommen hat. Jüdische religiöse Speisen waren für die Familie Borus selbstverständlich, doch auch zionistischen Ideen gegenüber soll Abraham Borus aufgeschlossen gewesen sein, wie auch manch andere polnische Juden es waren.
„Nach Errichtung der nationalsozialistischen Diktatur veränderten sich die Lebensverhältnisse der Familie zunächst nicht grundlegend, auch wenn sie jederzeit den Entzug der Aufenthaltsgenehmigung befürchten musste. Im Oktober 1938 erging der Befehl, alle noch in Deutschland ansässigen Juden mit polnischen Pässen in Abschiebehaft zu nehmen, wie es wörtlich hieß, und sie an die polnische Grenze zu schicken“, erzählt Dr. Klaus Voigt in seiner Einleitung.
Soshana Harari/Sonja Borus sitzt auf dem Stuhl vor dem ehemaligen Wohnhaus und zeigt mit der Hand herüber auf die Straße: „Dort stand ein Auto, in das mein Vater einsteigen musste. Zum letzten Mal habe ich ihn damals gesehen.“ Die Polen verriegelten die Grenze und 8000 Männer und Frauen harrten bei winterlichen Temperaturen im Niemandsland an der Bahnlinie Berlin – Posen/Poznan aus, weil sie nicht weiter kommen konnten. Untergebracht waren sie in Fabriken und Ställen, jüdische Hilfsorganisationen halfen. Sami dem älteren Bruder, bereits 15 Jahre alt, gelang es nach Polen zu kommen und sich einer Hachszara anzuschließen. 1941 erhielt Sonja von Sami einen Brief aus der Nähe von Lemberg. Es war das letzte Lebenszeichen von ihm, was aus ihm wurde, ist bis heute ungeklärt, Sonja hat ihn nie mehr gesehen.
Der Beginn des 2. Weltkriegs und der Überfall der Deutschen Wehrmacht auf Polen verschärfte die Situation der in Deutschland lebenden polnischen Juden. So wurden am 13. September 1939 alle noch in Deutschland wohnenden jüdischen Männer in Konzentrationslager gebracht. Auch Abraham Borus war dabei und weitere 533 polnische Juden, die in das KZ Sachsenhausen unweit von Oranienburg an der Havel gebracht, misshandelt und viele von ihnen umgebracht wurden. Frauen und Kinder blieben in ihren Wohnungen und mussten finanziell unterstützt werden. Recha Freier, die bekannte Zionistin, sammelte Geld und half. Beila Borus konnte die Miete nicht mehr bezahlen und zog mit ihren Kindern Sonja und Martin um die Ecke in die Lottumstrasse 13 in ein Zimmer. Bereits im April 1940 bekam sie die Mitteilung, dass Abraham, ihr Mann, in Sachsenhausen gestorben sei. Gründe gab es keine, doch Misshandlungen waren in Sachsenhausen an der Tagesordnung. Unerträglich wurde für Beila Borus das Leben mit den beiden Kindern, bei Siemens leistete sie Zwangsarbeit und Martin der Jüngste wurde tagsüber im Jüdischen Kinderheim in der Fehrbelliner Straße untergebracht. Sonja erinnert sich noch heute an den schmerzvollen Abschied von ihrem kleinen Bruder in dem Kinderheim als sie auf die Alija geschickt wurde.
Die Dreizehnjährige und andere vierzehn Mädchen, brachte Recha Freier von Berlin nach Zagreb, sie sollten von dort mit dem Zug über Istanbul nach Palästina gerettet werden. Auf die Alija wurde das Mädchen geschickt, was nicht gelang. Fehlende Papiere zur Einreise nach Palästina, die in Zagreb nicht mehr beschafft werden konnten, waren der Grund. So war Sonja Jahre ihres jungen Lebens mit anderen Kindern und Jugendlichen auf der Flucht vor den Nazis durch drei Länder. Josef Indig, der Kroate, hielt sein Recha Freier gegebenes Versprechen und brachte die Kinder und Jugendlichen mit Hilfe mutiger Bürger von Nonantola bei Nacht und Nebel in die Freiheit, in die Schweiz.
Am 12. Januar 1943 wurde Beila Borus von Siemens aus zu einer Sammelstelle gebracht und Martin am gleichen Tag vom Kinderheim. Nach Auschwitz wurden beide deportiert und sicherlich sofort ermordet. Sonja erfuhr später, als sie bereits in Nonantola bei Modena in der „Villa Emma“ untergebracht war, von dem Ende der Mutter und des kleinen Bruders Martin. Begreifen konnte sie diese schreckliche Nachricht nie!
Die Idee der Stolpersteine für die Familie Borus ist bereits einige Jahre alt. Micheline Schöffler, die Witwe des Verlegers Heinz Schöffler aus Darmstadt, spendete spontan einen Beitrag für die Finanzierung von zwei Steinen. Susanne Mucchi aus Berlin gab den Anteil für den 3. Stein. Sie verwaltet den künstlerischen Nachlass ihres Ehemannes Gabriele Mucchi und dessen erster Ehefrau, der Bildhauerin Jenny Wiegmann-Mucchi, die bereits 1969 starb. Helmut Walz, Leiter des Reinickendorfer Arbeitskreises Politische Bildung, gab einen Beitrag für den 4. Stein. Alljährlich fährt Helmut Walz mit Schülergruppen zu Gedenkveranstaltungen ins tschechische Dorf Lidice, das 1942 von den Nazis ausgelöscht wurde. Besatzungstruppen erschossen die Männer des Ortes, deportierten die Kinder nach Litzmannstadt/Lodz und die Frauen nach Ravensbrück.
„Stolpersteine sind eine diskrete und zugleich wirksame Form der Erinnerung. Sie sind im Alltagsleben präsent und geben auf einer knappen Inschrift an, was während der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft mit Menschen in der unmittelbaren Nachbarschaft, ja im eigenen Haus geschah: Verhaftung, Deportation, Mord in einem Konzentrationslager oder einem Vernichtungslager, Erschießung, Hinrichtung, Freitod in auswegloser Lage. Es waren Menschen wie Du und ich, ganz überwiegend Juden, meist tief in die deutsche Gesellschaft integriert, aber auch politische Gegner des verbrecherischen Regimes, die ihren Widerstand mit dem Leben bezahlt haben.“ (Voigt)
Dr. Voigt stellt sich wie viele andere der nachfolgenden Generation die Frage: „Warum wurden diese Menschen allein gelassen? Warum hat sich in der Nachbarschaft, im eigenen Haus keine Hilfe gerührt? Gewiss, Hilfe hat es gegeben, aber viel zu wenig und viel zu selten. Sonja Borus verdankt ihr Leben nicht zuletzt der spontanen Hilfsbereitschaft beherzter Einwohner von Nonantola im Moment höchster Gefahr. Wie aber war es möglich, dass das Regime in der Bevölkerung eine so große Passivität, eine so starke Indifferenz erzeugt hat?“ (Voigt)
Shoshana Harari erhob sich von ihrem Stuhl, gestützt von ihren Kindern. Erzählen wollte sie, danken wollte sie, doch zu bewegt war ihre Seele. Rosen zieren die vier Gedenksteine, Sonja und ihre vier Kinder sind gemeinsam am Ort ihrer Kindheit. Der Sohn Itamar Harari spricht das Kaddisch, das Totengebet. Die Posaunenklänge von Cord Bahlburg , „Endless Love“ von Lionel Richie, ziehen um die Ecke Choriner- Lottumstraße in Berlin Prenzlauer Berg.
Sonja Borus: Sonjas Tagebuch. Flucht und Alija in den Aufzeichnungen von Sonja Borus aus Berlin 1941-1946. Herausgegeben von Klaus Voigt, Metropol Verlag Berlin, 2014, Bibliothek der Erinnerung Band 24, 192 S., Euro 19,00, Bestellen?