Ein Pariavolk – Zur Anthropologie des Antisemitismus

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Der 2004 verstorbene Judaistik-Professor Hyam Maccoby liefert in seinem Werk eine „anthropologische“ (Maccoby 2019, 177) Analyse der Entstehung des Antisemitismus. Der anthropologische Zugang, so Maccoby, befasst sich mit Mythen und Bräuchen vornehmlich vormoderner Gesellschaften in vergleichender Perspektive. Im Zentrum stehen dabei Opferkulte und Kastenstrukturen, die herangezogen werden, um die Spezifik der Judenfeindschaft zu untersuchen…

Von Ingo Elbe

Die vergleichende Perspektive führt Maccoby dazu, gegen postkoloniale Nivellierungen oder bloße Xenophobie-Theorien (177, 219), die Spezifik des Antisemitismus herauszuarbeiten, die ihm zufolge in der einmaligen Kombination auch anderweitig anzutreffender Elemente besteht, nämlich des bestimmten Usurpationsmythos einer siegreichen Mehrheit, eines theologisch-gesellschaftlich begründeten Pariastatus einer Minderheit und des Mythos vom „Heiligen Henker“. (216)

Der moderne „Erlösungsantisemitismus“, wie Saul Friedländer ihn später nannte (Friedländer 2008, 87), und seine konsequente Umsetzung im Holocaust bauen Maccoby zufolge auf christlichen heilsgeschichtlichen Motiven auf, die im Rahmen eines völkischen oder rassistischen Bezugssystems lediglich modifiziert werden. Judenfeindschaft, die Maccoby mit dem von ihm selbst als problematisch erachteten Begriff des Antisemitismus belegt (Maccoby 2019, 51ff.), entstehe in ihrer systematischen, dämonisierenden Form „in Regionen, in denen eine vom Judentum abgeleitete Religion vorherrscht“ (50) und mit Hilfe einer „Methode der Usurpation“ (48) eine „Theologie der Verdrängung“ (49) betreibe. Die früheste Form dieser, allerdings hier noch extrem selektiven, Usurpation sei im Hellenismus bzw. in der Gnosis zu finden, die als erste einen „kosmischen Antisemitismus“ (77) entwickelt hätte. Erst die christliche Usurpationsmethode knüpfe aber systematisch an die jüdische Überlieferung an, deute sie als immer schon auf das Christentum hinweisende und werfe den Juden vor, diese Umdeutung nicht als letzte Wahrheit zu akzeptieren. Als Volk, so der christliche Mythos, seien die Juden schon in der Vergangenheit gegenüber ihrer eigenen protochristlichen Überlieferung böswillig ungläubig gewesen – bis hin zur Tötung ihrer Propheten. (94) Letztlich werde die irdische Demütigung der Juden als ‚Beweis‘ ihrer sündhaften Verstocktheit gefordert. Dabei erwähnt Maccoby, wie auch David Nirenberg in seinem Buch Anti-Judaismus (Kap. 4) und Bernard Lewis in Die Juden in der islamischen Welt, dass eine ähnliche Usurpationsmethode im Islam anzutreffen sei (49f.): Das vom Judentum Übernommene ist demnach immer schon islamisch, die realen Juden hingegen verstockt, bösartig, ungläubig. „Wird ein jüdischer Einfluß oder Bestandteil als solcher identifiziert“, schreibt Bernard Lewis über die islamische Vorgehensweise, „so erfährt er prinzipiell Ablehnung. Akzeptiert man ihn als Teil des authentischen Islam, so ist er per definitionem nicht jüdischen, sondern göttlichen Ursprungs.“ (Lewis 2004, 70)

Der Erlösungs-Antijudaismus des Christentums unterscheide sich aber inhaltlich vom islamischen Typ der Judenfeindschaft. Die christliche Feindseligkeit habe nämlich „atavistische Wurzeln in der Schuldverschiebung […], die mit einem bestimmten Stadium des Menschenopfers verbunden ist.“ (Maccoby 2019, 169) Die christliche „Lehre des stellvertretenden Sühneopfers“ durch den Kreuzestod Jesu (126) (Jesus als „das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt hinwegnimmt“ (Joh. 1, 29)) führe zur projektiven Verarbeitung des Schuldgefühls in der durch diesen Tod gestifteten Gemeinschaft der Christen: In der Idee des „menschlich-göttlichen Opfers […] liegt die moralische Schwierigkeit […], dass der Initiierte eigentlich froh ist, dass der heilbringende Tod stattfindet, da er ohne ihn auf die Erlösung verzichten würde. Diese Freude muss freilich um jeden Preis verborgen werden, denn es kann nicht eingestanden werden, dass der Initiierte und die Gemeinschaft, zu der er gehört, durch ihren starken Wunsch und ihre Dankbarkeit darüber mitverantwortlich sind für den grausamen Tod. Folglich muss irgendeine dunkle Gestalt eines Verräters gefunden werden, auf den die Bluttat geschoben werden kann.“ (102). Diese Verräter (und im vorliegenden Fall letztlich sogar ‚Gottesmörder‘) seien im christlichen Denken Judas Ischariot (103f.), die als „furchterregende Überväter“ (116) gezeichneten Pharisäer (107) und schließlich das jüdische Volk insgesamt. (104f., 121) Der vorherrschende Umgang mit den Juden war dann auch – neben immer wieder zu verzeichnenden Pogromen – die prominent von Augustinus eingeforderte, theologisch begründete irdische Demütigung als Zeichen der Strafe für ihre Verstocktheit sowie die Abdrängung in den Pariastatus einer Gruppe, die zugleich gesellschaftlich geächtete, aber notwendige Tätigkeiten vollzog, wie beispielsweise die Kreditvergabe. Maccobys Ausführungen zu diesem sozialen Paria-Status der Juden als „Wucherer“, zur diesbezüglichen christlichen Doppelmoral und der jüdischen Haltung zur Zinsnahme (59-69) räumen mit verbreiteten antisemitischen Legenden auf. Der Vergleich mit dem indischen Kastensystem ist zudem theoretisch fruchtbar, wobei Maccoby stets auf die zentralen Differenzen zum Status des Judentums in der christlichen Gesellschaft hinweist. (68ff., 187-190)

Der ‚anthropologische‘ Ansatz Maccobys kann auch als Kritik an rein soziologischen Thesen von der Entstehung der systematischen Judenfeindschaft im Mittelalter überzeugen. Der „soziologische[…] Ansatz“, der „Erklärungen im rissig werdenden Gefüge der mittelalterlichen Gesellschaft findet“ (177) tendiere dazu, Judenfeindschaft als bloße Fremdenfeindlichkeit zu verstehen und die Juden als „unbeschriebenes Blatt zu betrachten“ (178), das sie im christlichen Denk- und Gefühlshaushalt keineswegs gewesen seien: „Die Juden in der mittelalterlichen Gesellschaft waren nicht einfach eine fremde Gruppe, auf die die momentanen Fantasien und Ängste bequem projiziert werden konnten. Sie waren eine Gruppe, die in einem sehr realen Sinn ganz und gar nicht fremd war, denn sie machte einen wesentlichen Teil der grundlegenden Fantasie aus, durch die der mittelalterliche Christ lebte und erlöst wurde.“ (177) Die zunehmende Feindseligkeit resultiere also vornehmlich aus der weitgehenden Durchchristianisierung: Die mittelalterlichen Ritualmord-, bzw. Kindermord- und Hostienschändungsvorwürfe gegen die Juden bauen demnach auf grundlegenden christlichen Mythen auf und sind eng mit der sich im 12./13. Jahrhundert durchsetzenden wörtlichen Auffassung der Transsubstantiationslehre verbunden (vgl. dazu Flasch 2009, 89): „Jetzt weckte die kannibalistische Fantasie, die das Verzehren [des Leibes und Blutes Jesu] während der Messe begleitete, Gefühle unbewusster Schuld, […] sodass auch diese Opferung den Juden zugeschrieben werden musste.“ (Maccoby 2019, 180)

Die Juden sind, folgt man Maccoby, theologisch, soziologisch und emotional zentrale „Sündenträger“(201) für das Gründungs- und Erlösungsopfer im Christentum. Sie seien Paria, die zugleich die Rolle des „Heiligen Henkers“ einnehmen – der Gestalt, die vermeintlich das heilsbringende und gemeinschaftsstiftende Menschenopfer vollziehe und der zugleich die damit einhergehende Schuld dafür zugeschrieben werde. (205) Die für den einzelnen Juden gegebene Möglichkeit der Konversion zum Christentum sei damit dem Judentum als Ganzem verwehrt (201), weil „die Juden ein notwendiges Element in der christlichen“ Schuld- und „Religionsökonomie“ darstellten. (211) Dieser Hinweis relativiert hinsichtlich der Frage der Konversionsmöglichkeit zugleich ein wesentliches Moment der klassischen Unterscheidung von christlichem Antijudaismus und modernem Antisemitismus. Allerdings geht Maccoby in seinem erhellenden und vor allem in der argumentativen Auseinandersetzung mit konkurrierenden Ansätzen weitgehend überzeugenden Werk zu weit, wenn er eine ungebrochene Kontinuität der christlichen Judenfeindschaft behauptet. Den modernen Antisemitismus lediglich auf die Hartnäckigkeit von Stigmatisierungen im gesellschaftlichen Unbewussten zurückzuführen (198), ist denn doch zu wenig soziologisch gedacht. Ignoriert werden die genuin modernen Quellen des Antisemitismus, die erst erklären können, wie eine tendenziell säkularisierte Gesellschaft, die den Anspruch der Rechtsgleichheit unter Marktbedingungen formuliert, den Antisemitismus permanent reproduziert und ein Bild des Juden als Inkarnation bedrohlicher Abstraktionen und ‚völkerzersetzender‘ moderner Dynamiken hervorbringt. Offen bleibt, wie die christlich antijüdischen Stereotype in einem neuen weltanschaulichen Bezugssystem tradiert und modernisiert werden konnten. Dass seit dem 19. Jahrhundert erst recht „von ihrer [der Juden] Ausrottung […] das Glück der Welt abhängen“ (Horkheimer/Adorno 1997, 197) sollte, ist jedenfalls nicht mit Rekurs auf eine eliminatorische Tradition im Christentum (mit ihrer Forderung sofortiger Vernichtung oder der Idee des endzeitlichen Verschwindens des Judentums) allein zu erklären. (212)

Ungeachtet dieser für starke Kontinuitätstheorien des Antisemitismus charakteristischen Probleme ist das Buch von Maccoby ein aufklärerisches Werk im besten Sinne: Es zeigt, wie wichtig archaische Motive und die vormoderne religiöse Dämonisierung der Juden auch für das Verständnis des modernen Judenhasses sind. Es zeigt jedoch nicht, dass dies als Wiederkehr des Archaischen in der Moderne durch die Moderne zu fassen wäre. (Vgl. Adorno 1991, 41f., Bruhn 1994, Rensmann 1998, Weyand 2016) Zugleich liefert Maccoby einen wichtigen Beitrag zur Kritik der postmodernen Auflösung des Begriffs der dämonisierenden systematischen Judenfeindschaft in ein ‚koloniales Othering‘.

Hyam Maccoby: Ein Pariavolk. Zur Anthropologie des Antisemitismus. Herausgegeben von Peter Gorenflos. Hentrich&Hentrich. Leipzig 2019, Bestellen?

Ingo Elbe ist Privatdozent und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Philosophie der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Letzte Publikation zum Thema Antisemitismus: The Anguish of Freedom. Is Sartre’s existentialism an appropriate foundation for a theory of antisemitism? In: Antisemitism Studies 2020. Weitere Publikationen unter: https://uol.de/philosophie/pd-dr-ingo-elbe/publikationen

Weitere Literatur

Adorno, Theodor W. (1991) [1951]: Die Freudsche Theorie und die Struktur der faschistischen Propaganda. In: Ders.: Kritik. Kleine Schriften zur Gesellschaft. 10. Aufl. Frankfurt/M.
Bruhn, Joachim (1994): Unmensch und Übermensch. Über Rassismus und Antisemitismus. In: Ders.: Was deutsch ist. Zur kritischen Theorie der Nation. Freiburg i.Br.
Flasch, Kurt (2009): Das Abendmahl: Ding oder Zeichen. Berengar von Tours gegen Lanfrank. In: Ders.: Kampfplätze der Philosophie. Große Kontroversen von Augustin bis Voltaire. 2. Aufl. Frankfurt/M.
Friedländer, Saul (2008) [1997/2007]: Das Dritte Reich und die Juden. Gesamtausgabe. München.
Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W. (1997) [1944/47]: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. In: M. Horkheimer: Gesammelte Schriften, Bd. 5. Frankfurt/M.
Lewis, Bernard (2004) [1984]: Die Juden in der islamischen Welt. Vom frühen Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert. München.
Nirenberg, David (2015) [2013]: Anti-Judaismus. Eine andere Geschichte des westlichen Denkens, München.
Rensmann, Lars (1998): Kritische Theorie über den Antisemitismus. Studien zu Struktur, Erklärungspotential und Aktualität. Berlin-Hamburg
Weyand, Jan  (2016): Historische Wissenssoziologie des modernen Antisemitismus. Genese und Typologie einer Wissensformation am Beispiel des deutschsprachigen Diskurses. Göttingen.

2 Kommentare

  1. In seiner Rezension bemängelt Ingo Elbe etwas abstrakt, dass es Maccoby in „Ein Pariavolk“ offenließe, „……wie die christlichen antijüdischen Stereotype in einem neuen weltanschaulichen Bezugssystem tradiert und modernisiert werden konnten“. Das stimmt nur teilweise. Im zweiten Band der bei Hentrich & Hentrich erschienenen Maccoby-Trilogie „Der Antisemitismus und die Moderne“, dem letzten Werk des Autors von 2004, beschreibt er in Teil 2 und 3 beispielhaft und präzise, wie dies geschah. Er demonstriert die Entwicklung anhand der Schriften von Luther, Voltaire, Marx und Nitzsche, bis hin zu Shakespeare, T.S. Eliot und Ezra Pound. Außerdem zeigt er, dass der Holocaust einen exakten Vorläufer im Spanien des 16. Jahrhunderts hatte, nachdem eine Integration der massenhaft zwangskonvertierten Juden infolge der Reconquista dem Klerus unmöglich erschien. Analog zur angeblich minderwertigen jüdischen Rasse wurde die „limpieza de sangre“, die Reinheit des Blutes der Katholiken postuliert, welche Juden von öffentlichen Ämtern u.v.m. ausschloss. Sie wurden die ersten, und lange Zeit einzigen Opfer der Inquisition, die der Grausamkeit des Holocaust in nichts nachstand. Die Catholica verzichtet nach einer Konversion – im Gegensatz zu den Nazis – nur dann auf Verfolgung, wenn sich die Zahl der (Zwangs-) Konvertierten in Grenzen hält. Der konstruierte Unterschied beruht also auf Heuchelei. Aber bereits in „Ein Pariavolk“ beschreibt Maccoby, dass Hitlers Vorstellung vom Tausendjährigen Reich einen Vorläufer in den christlichen Endzeitbewegungen hat. Alternativ zur Wiederkehr Christi inclusive der Bekehrung aller Juden, kommt es hier zum Kampf zwischen dem jüdischen (!) Antichrist und Jesus und sämtliche Juden – Mann, Frau und Kind – werden getötet. Im nationalsozialistischen Deutschland wurde Hitler zum „Triumphierenden Christus“. Die direkte Verbindung zwischen mittelalterlich-christlichem und modernem „politischem“ Antisemitismus wird von Maccoby offengelegt, ein Tabubruch im Land des immer noch gültigen Hitler-Konkordates.

    Peter Gorenflos, Herausgeber der Maccoby-Trilogie

  2. Antisemitismus und Rassismus lassen sich nur schwer bekämpfen, solange im Internet einige rassistische und faschistoide Organisationen und Blogs aktiv sind, die vorgeben, proisraelisch, projüdisch und prozionistisch zu sein. Sie werden beschämenderweise von Juden, Zionisten und Israelis toleriert und gar finanziell unterstützt.

    Diese sind im deutschen Sprachraum z.B. Journalistenwatch, German Media Watch, Freie Welt, Heplev und Haolam. Sie haben zu antisemitischen und rassistischen Organisationen, Blogs, NGOs und Parteien (AfD) beste Beziehungen. Geeint sind sie durch ihren Hass auf Bundeskanzlerin Angela Merkel, ihren pathologischen Hass auf politische Gegner vom PM Netanyahu, ihre abgöttische Liebe zu Trump und die rabiate Art & Weise im Umgang mit politisch Andersdenkenden im Internet.

    Wenn wir Juden und Zionisten beabsichtigen, Antisemitismus zu bekämpfen, dann müssen wir zunächst diese rassistischen, menschenverachtenden und faschistischen Organisationen ächten.

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