Unspezifisches Geraune

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Die Antisemitismusforschung hat ein Wahrnehmungsproblem. Kürzlich schlossen sich diverse Kulturinstitutionen und namhafte Einzelpersonen zu einer „Initiative GG 5.3 Weltoffenheit“ zusammen und behaupteten, dass „wichtige lokale und internationale Stimmen aus dem kritischen Dialog ausgegrenzt werden sollen“…

Rezension von Stefan Walfort

Als „gefährlich“ geißelte man in einem Pamphlet den Beschluss des Bundestags von Mai 2019, der vorsieht, die antisemitische BDS-Bewegung nicht weiter zu pampern. Forscherinnen wie Monika Schwarz-Friesel können eigentlich einpacken. Wenn Erkenntnisse dermaßen egal sind. Was nützt es da, jahrzehntelang konkretes Material, Briefe an den Zentralrat der Juden, Presseberichte, YouTube-Kommentare, zu begutachten? Unspezifisches Geraune über „missbräuchliche Verwendungen des Antisemitismusvorwurfs“ sind mittlerweile Standard. An einem Antisemitismusleugnungsdiskurs partizipiert längst eine breite, auf vermeintlich harmlose „Israelkritik“ eingeschworene Öffentlichkeit.

Ein Buch der britischen Rabbinerin Julia Neuberger könnte helfen, den verengten Blick zu weiten. Mit Verweis auf eine „Zunahme antisemitischer Vorfälle in Großbritannien“ konstatiert Neuberger eine erhöhte Nachfrage nach „einer praxistauglichen Definition“ des Antisemitismusbegriffs. Der IHRA (International Holocaust Remembrance Alliance) zufolge liegt Antisemitismus unter anderem dort vor, wo dämonisierende Erzählungen in Umlauf sind, beispielsweise Vergleiche zwischen Israel und NS-Deutschland. Die IHRA führt viele weitere Kriterien an und stößt damit international auf Anerkennung. Neuberger stimmt ebenfalls zu, wenngleich nicht zu allen Einzelheiten, doch zuweilen trötet sie auch ins gleiche Horn wie BDS-Apologeten: „(I)mmer öfter wird der Antisemitismusvorwurf instrumentalisiert; um andere zu diskreditieren, werden Menschen antisemitischen Verhaltens oder Denkens beschuldigt, ohne dass eine echte antisemitische Gesinnung im Spiel wäre“. Außerhalb als „rechtsextrem“ etikettierter israelischer Regierungskreise benennt Neuberger allerdings keine Personen, auf die ihr Vorwurf zuträfe.

Aus einem Anspruch heraus, zu differenzieren, übernimmt Neuberger BDS-Narrative, noch während sie sich eigentlich abgrenzt. Das macht das Buch in Teilen zum Ärgernis, obwohl es sich insgesamt wohltuend abhebt von der Blasiertheit, mit der sich der Kulturbetrieb hierzulande meist in Äquidistanz gegenüber israelischer Politik und islamistischen Terroristen übt. Appeasement letzteren gegenüber kann man Neuberger nicht nachsagen. Auch scheut sie sich eigentlich nicht, BDS klar als antisemitisch zu benennen. Antisemitische Gewalt ordnet Neuberger in eine lange Tradition von der Antike bis in die Gegenwart ein. Dabei geht es ausführlich um die Labour Party und offizielle „673 Meldungen über mutmaßliche antijüdische Beleidigungen“, die sich Mitglieder innerhalb nur eines knappen Jahres erlaubt haben.

Neubergers Fazit: Die britische Linke normalisiere Antisemitismus. Ausgerechnet Deutschland dient jedoch als positiver Gegenentwurf: „Deutschland hat sich nicht davor gedrückt, seine Verantwortung und Schuld anzuerkennen, anders als viele andere Länder, die in die Vernichtung der Juden durch den Nationalsozialismus verstrickt waren.“ Der jüngste Vorstoß der „Initiative GG 5.3 Weltoffenheit“ ist nur ein Beispiel von vielen dafür, dass wohl eher der Wunsch der Vater des Gedankens war.

Warum das Buch dennoch lesen? Was die Autorin aus der Ich-Perspektive schildert, wäre auch für diejenigen interessant, die mit Wissenschaftsprosa – noch – nichts anfangen können. Für alle, die eine argumentbasierte Auseinandersetzung noch nicht vollends meiden, könnte Neubergers Buch eine Einstiegshilfe sein.

Julia Neuberger: Antisemitismus. Wo er herkommt, was er ist – und was nicht, übers. von Anne Emmert, Berenberg Verlag, Berlin 2020, 240 Seiten, 16 Euro, Bestellen?