Paraschat haSchawua: Haasinu

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Am kommenden Schabbat wird die letzte Perikope in der Synagoge vorgetragen. Sie besteht lediglich aus einem Kapitel, und das ist im Stil, nicht im Inhalt, ziemlich ungewöhnlich. Es hört sich nicht an wie die übrigen Bücher und Texte der Tora, die im prosaischen Stil erzählend, mahnend, Gesetze und Verhaltensweisen verkündend wirken. Es ist von der Form her ein Gedicht, ein poetischer Text…

Wochenabschnitt Haasinu; 5. Moses, K. 32; Schabbat, 26. Sep. 2020

Lauschet ihr Himmel, ich werde reden / und die Erde höre die Sprüche meines Mundes.
Wie der Regen fließe meine Lehre / wie der Tau riesele meine Rede,
wie die Regentropfen auf das Gras / wie der Schauer auf das Kraut.
Denn ich will den Namen Jahwe verkünden / gebt unserm Gott allein die Ehre!
Der Felsen, vollkommen sind seine Werke / denn alle seine Wege sind recht.
Treu ist Gott und kein Böses an ihm / gerecht und wahrhaftig ist Er.

Nach dieser Einleitung enthält diese Dichtung Bedrohungen und Bestrafungen des untreuen Volkes, ferner die Rache an den bösen Völkern, die das eigene Volk misshandelten. Nichts Ungewöhnliches. Ungewöhnlich ist allein der Stil, die Sprache. Es ist nicht die Sprache der frühbiblischen Zeit. Die Bibelforscher sind sich nicht einig, ob es die Sprache der Propheten (Jesaja Mitte des 8. Jhd. v.) ist und zu jener Zeit verfasst wurde oder zur Zeit der Psalmen (6. bis 2. Jhd. v.). Dass es aber nicht die Sprache von Moses oder seiner Zeit ist, das merkt jeder Bibelinteressierte leicht.

Es stellt sich heraus, was einigen schon immer bekannt war, dass auch für den perfekten Hebräisch-Kenner der biblische Text missverständlich sein kann. Das hat vor einigen Jahren ein neuer Bibelforscher festgestellt. Jigal Bin-Nun, ein in Marokko gebürtiger Jude, der im Alter von achtzehn Jahren nach Israel emigrierte und im reifen Alter sich für die Bibel zu interessieren begann, hat betont, dass die Bibel in der Regel von Menschen mit festen, bereits in der Erziehung verhafteten Vorstellungen, gelesen wird und deshalb ihr Blick und ihr Verständnis für den einfachen und klaren Text getrübt ist. Eine seiner „Entdeckungen“ – im gesamten Kodex des hebräischen Testaments findet man keinen klaren Hinweis für einen monotheistischen Glauben, keine Erwähnung, dass Gott Jahwe der alleinige Herrscher im Himmel ist. Vor allem deuten viele Hinweise darauf, dass Jahwe nicht den Israeliten als erstes erschienen ist und dass er bereits vor der Besiedlung Kanaans durch die Israeliten anderen Völkern bekannt war.

Bin-Nun ist überzeugt, dass die Bücher des AT nur scheinbar chronologisch geordnet sind; dass die einzelnen Bücher nicht jeweils von einer Person oder einer Redaktion verfasst wurden und dass selbst einzelne Kapitel oft von mehreren Redakteuren bearbeitet wurden. Das fünfte Buch der Tora sei eigentlich das erste der fünf Bücher Moses, was nicht erst jetzt Konsens unter vielem Bibelforschern ist. Die Geschichten der Erzväter, der Könige David und Salomo, der Kampf Davids gegen Goliath seien Legenden, auch wenn sie manchmal einen wahren Kern haben mögen. Manche Erzählungen wie die Schöpfung seien Übernahmen von Sagen anderer Kulturen.

Bin-Nun meint, dass die meisten Erzählungen einer wissenschaftlichen Widerlegung gar nicht bedürfen. Er erzählt von seiner fünfjährigen Enkelin, die eines Tages vom Kindergarten zurückkam und ihm die Geschichte von der Schlange im Paradies erzählte, die gesprochen hatte. Worauf er sie fragte, ob eine Schlange denn sprechen könne. Darauf hat die Kleine erstaunt in einem etwas vorwurfsvollen Ton gesagt: Aber Opa, das ist eine Erzählung!

Schabbat Schalom

Dr. Gabriel Miller absolvierte umfangreiche rabbinische und juristischen Studien, war Leiter der Forschungsstelle für jüdisches Recht an der Universität zu Frankfurt am Main, Fachbereich Rechtswissenschaft. Außerdem gibt er die bei den Lesern von haGalil längst gut bekannte Website juedisches-recht.de heraus.

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