„Die Jagd nach dem Serum“

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Die 1964 in Reutlingen geborene Krimiautorin Irene Dorfner lebt und arbeitet in Kastl im Landkreis Altötting. Mittlerweile sind 34 Kriminalfälle mit ihrem Protagonisten Inspektor Leo-Schwartz von der Kripo in Mühldorf am Inn erschienen. Die Autorin scheut sich nicht, in ihren Kriminalromanen sehr aktuelle aber auch zeitgeschichtlich relevante Themen anzusprechen, von Drogenhandel über aktuelle „Sklavenarbeit“ bis hin zum Umgang mit NS Raubkunst…

Irene Dorfners neuer Krimi „Die Jagt nach dem Serum“ beginnt gegen Kriegsende in Peenemünde und im sogenannten Weinlager (KZ Mettenheim) im Landkreis Mühldorf. Es geht dabei um ein Gift, mit dem die Nazis den Krieg noch gewinnen wollten.

Max Brym im Gespräch mit Irene Dorfner in Altötting

Max Brym: Frau Dorfner, um was geht es in ihren Krimis ?

Irene Dorfner: Jeder gute Krimi beginnt mit einem Mord. Meist spielen die Krimis in meiner heimatlichen Region. Ich versuche aktuelle Probleme wie Menschenhandel, Drogenhandel, organisierte Kriminalität, aber auch den Umgang mit der jüngsten deutschen Vergangenheit und ihre kriminellen Folgen bis heute darzustellen.

Max Brym: Können Sie uns zu den zuletzt angesprochenen Fällen ein paar Beispiele geben?

Irene Dorfner: In dem Krimi „ Dreckiges Erbe“gerät Hauptkommissar Leo Schwarz bei einem Aufenthalt in Ägypten in den Sumpf der NS Raubkunst. Eine Journalistin wird verfolgt weil sie enteignetes Vermögen von Juden und Staaten  in Ägypten entdeckte. Anschließend werden beide gejagt. Denn Mitwisser können die Händler mit NS Raubkunst nicht gebrauchen.

Max Brym: Ihr neues Buch behandelt die verzweifelten Bemühungen des NS Regime,s noch kurz vor Kriegsende eine tödliche Waffe das „Serum“ im KZ Mettenheim bei Mühldorf in Bomber zu bekommen. Dazu kam es aber nicht mehr. Der Soldat Demelhuber konnte das Gift noch verstecken. Es tauchte erst siebzig Jahre später wieder auf. Wie kamen Sie auf dieses Thema ?

Irene Dorfner: Solche Themen haben mich immer interessiert. Ich war erschüttert als ich durch das ehemalige KZ Mettenheim ging. Kein Straßenschild und keine Gedenkstätte erinnert an das Grauen. Dabei wurden allein dort nach Kriegsende 2000 ermordete KZ Häftlinge aus einem Massengrab geholt. Es sind dort durch „Vernichtung durch Arbeit“ noch viel mehr Menschen gestorben. Mehrmals weinte ich bei der Recherche.

Max Brym: Gibt es etwas was an das Grauen und die Verbrechen im Landkreis Mühldorf erinnert?

Irene Dorfner: Ja im Mühldorfer Haberkasten gibt es zu dem KZ eine sehr umfangreiche und gute Dauerausstellung. Gemacht von dem „Verein gegen das Vergessen“. Ganz wesentlich wurde sie von Herrn Josef Wagner, Peter Müller aber auch von dem ehemaligen Häftling Max Mannheimer im KZ Mettenheim gestaltet.

Max Brym: Wie waren die Reaktionen auf den Krimi um das Serum ?

Irene Dorfner: Die Leute, denen das Buch gefallen hat, melden sich selten. Dafür aber andere unter dem Motto: Schon wieder was zu dem Schmarren oder Schlimmeres. Dies obwohl das Buch keine Geschichte des KZ Mettenheim ist. Sondern es beginnt mit dem giftigen Serum 1945 und endet mit der Jagt nach ihm 70 Jahre später.

Max Brym: Vielen Dank für das Gespräch Frau Dorfner und viele weitere spannende Krimis.

Irene Dorfner, Die Jagd nach dem Serum: Der 19. Fall für Leo Schwartz, Bestellen?

 

Leseprobe aus der Einleitung
Die Jagd nach dem Serum
Leo Schwartz … und die Schatten der Vergangenheit

Mai 1945 – Auf dem Mühldorfer Hart wird mit Hochdruck an einer Fertigungsstätte zum Bau der Messerschmitt Me262 gebaut. Hierzu werden weit über 2000 Zwangsarbeiter aus den umliegenden KZs hinzugezogen. Die Zeit drängt, denn die Alliierten rücken vor. Die Heeresleitung hat sich eine perfide Idee ausgedacht: Mit einem Serum bestückte Bomben sollen mit der Messerschmitt über Feindesland abgeworfen werden. Der Soldat Demmelhuber bringt einen Teil und die Anleitung dieses Serums vom bombardierten Peenemünde nach Mühldorf. Die Russen und Engländer wollten dieses Serum haben und stellen Demmelhuber. Der kann dieses Serum zusammen mit der Anleitung in einem Marterl (Wegkreuz) verstecken und es bleibt verschollen.
Über 70 Jahre später klaut eine Bande Materlfiguren im großen Stil – darunter auch die mit dem Serum. 
Die Mühldorfer Kriminalpolizei sucht mit Hochdruck danach. Aber auch die Engländer und Russen wollen dieses Serum haben…

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Leseauszug aus dem Buch

Drei Tage später war Demmelhuber endlich in Mühldorf angekommen. Die Reise von Peenemünde bis hierher war ein Abenteuer gewesen. Nur mit viel Mühe konnte er einen Wagen beschaffen, wobei der Sprit sehr viel schwieriger zur organisieren war. Viele Brücken und Straßen waren unpassierbar gewesen, wodurch er große Umwege in Kauf nehmen musste. Trotzdem hatte er es geschafft. Die Fahrt durch Mühldorf erfüllte ihn mit einem wohligen Gefühl. Hier vorn war er zur Schule gegangen, dort wohnten seine Großeltern. Es hatte sich in den zwei Jahren, seit er fort war, nicht viel verändert. Dort hinten, nur vier Straßen weiter, lebten seine Frau und seine kleine Tochter. Wie gerne wäre er zuerst nach Hause gefahren, aber das durfte er nicht. Er musste das Serum und die Papiere dem Kommandanten im Mühldorfer Hart übergeben, der dann die weiteren Schritte veranlassen würde.

Sein Husten wurde stärker, er hatte Probleme beim Atmen. Er bremste an der Hauptstraße und ließ eine Kolonne Wehrmachtsfahrzeuge passieren. Er betrachtete sein Gesicht im schmutzigen Rückspiegel. Was war das für ein entsetzlicher Ausschlag?

Als er im Mühldorfer Hart eintraf, blickte er sich erschrocken um. Das war alles, was bisher gebaut wurde? Die Anlage befand sich noch mitten im Bau und nichts deutete darauf hin, dass hier in Kürze Flugzeuge gebaut werden konnten. Nur sieben der zwölf geplanten Außengewölbe waren bisher fertig. Noch bevor Demmelhuber mit einem Verantwortlichen sprechen konnte, fuhren mehrere Lkw vor. Es folgte eine hektische Betriebsamkeit, die er nicht verstand.

„Was ist hier los?“ fragte er einen Gefreiten.

„Die Amerikaner sind nicht mehr weit weg. Hier wird alles evakuiert.“

„Und was ist mit der Produktionsstätte? Was ist mit der Me262?“

„Hast du es immer noch nicht verstanden? Der Krieg ist vorbei! Sieh zu, dass du dich in Sicherheit bringst!“

Demmelhuber konnte es nicht fassen. War wirklich alles zu spät? Gab es für das Deutsche Reich keine Hoffnung mehr? Was würde werden? Ging jetzt alles in Feindeshand über? Nein! Das konnte und durfte nicht sein! Die vielen Opfer konnten nicht umsonst gewesen sein. Er suchte nach einem Verantwortlichen, um diesen Wahnsinn hier zu beenden. Die Me262 musste gebaut werden, er hatte doch das Serum und die Liste mit den Inhaltsstoffen! Für einen Mann mit chemischen Fachkenntnissen dürfte die Herstellung des Serums eine Kleinigkeit sein.

Niemand wollte mit ihm sprechen, alle wimmelten ihn ab. Er fand ein Telefon und brauchte mehrere Anläufe, bis er endlich eine Verbindung nach Berlin bekam. Wiederholt verlangte Demmelhuber, einen Verantwortlichen zu sprechen.

„Verstehen Sie nicht?“ schrie der Mann ihn an. „Hier ist niemand mehr, alle sind abgehauen oder haben sich ergeben.“

„Ergeben?“

„Die Russen sind in Berlin, die Amerikaner und Engländer haben bereits große Teile des Deutschen Reiches besetzt. Der Krieg ist vorbei.“

Jetzt hatte Demmelhuber endlich verstanden. Resigniert legte er auf und beobachtete das Chaos um sich herum. Sollte er nicht einfach auf einen der Lkw aufspringen? Nein! Auch für ihn war der Krieg vorbei. Er setzte sich in den Wagen, startete, aber er kam nur wenige Meter weit. Der Tank war leer. Hier in diesem Chaos Sprit zu finden, war zwecklos. Er beschloss, zu Fuß nach Hause zu gehen. Nur eine Stunde trennte ihn von seinen Lieben.

Ihm ging es immer schlechter. Er begann, stark zu schwitzen. Der Ausschlag hatte sich über den Körper ausgebreitet. Sein Körper juckte fürchterlich und die dicken Pusteln begannen zu nässen. Seit er losgelaufen war, musste er sich mehrfach übergeben.

Demmelhuber kam nicht weit. In einem Waldstück des Mühldorfer Harts hielt unweit ein Jeep: Die Amerikaner waren bereits hier! Nein, das waren Engländer! Er musste nicht nur sich selbst, sondern vor allem das Serum und die Liste der Inhaltsstoffe in Sicherheit bringen. Trotz seiner zunehmenden Schwäche rannte er los, aber zwei Uniformierte liefen ihm hinterher; auch der Jeep folgte ihm. Der Abstand zwischen ihnen verringerte sich rasch. Nicht mehr lange, und sie hatten ihn. Das Serum und die Liste durfte nicht in Feindeshand gelangen. In Berlin bekam er den Befehl, beides mit seinem Leben zu verteidigen. Und Befehl war Befehl. Wohin damit? Mit zitternden Händen öffnete er die Mappe und riss die wichtige Seite heraus. Dann nahm er den Glasbehälter aus dem Lederetui und wickelte ihn aus den Tüchern. Er steckte nur die eine Seite und das Serum ein, alles andere warf er in hohem Bogen weit von sich. Es war ihm klar, dass die Verfolger ihn beobachteten, darauf hatte er es abgesehen.

„Das muss er sein,“ rief Captain Monroe zu seinen Männern. Er hatte es sich persönlich zur Aufgabe gemacht, Demmelhuber und dieses wahnsinnige Vorhaben zu stoppen. „Hinterher, Männer!“ Er selbst fuhr den Jeep und ließ Demmelhuber nicht mehr aus den Augen. Er lenkte den Jeep waghalsig durchs Gelände und riskierte einen Unfall. Das war gleichgültig. Sollte Demmelhuber das Serum bei seiner Flucht verlieren, waren sie sowieso alle dem Tod geweiht, das wussten er und seine Kameraden, als sie sich freiwillig meldeten. Monroe beobachtete, wie Demmelhuber die Tasche weit von sich warf. Sie war offen und der Inhalt verteilte sich übers Gelände. „Dort hinten! Holt die Tasche und sammelt den Inhalt ein!“ befahl Monroe.

„Was ist mit dem Deutschen?“ rief der junge Corporal Johnson.

„Erst die Unterlagen! Den Mann kriegen wir später!“

Während die Engländer die Tasche und den Inhalt einsammelten, rannte Demmelhuber weiter. Wohin mit der Liste und dem Serum? Er konnte sie nicht einfach im Wald verstecken, das war zu gefährlich. Die Verfolger würden jeden Zentimeter absuchen und würden beides finden. Er musste sich dringend etwas einfallen lassen. Dann sah er ein Marterl mit einer Marienfigur. Wann wurde diese aufgestellt? Und vor allem warum? Er wusste, dass viele dieser Marterl an Stellen aufgestellt wurden, an denen Familienmitglieder verunglückten. Einige wurden auch aus Dankbarkeit oder als Fürbitten aufgestellt. Der Unterschied war wichtig, denn wenn dieses Marterl für einen Verunglückten errichtet wurde, könnte die Figur hohl sein. Das wusste er von dem Marterl, das sich auf dem Grundstück seiner Großeltern befand, das im Jahr 1832 nach einem tödlichen Unfall eines Kindes errichtet wurde. Die Figur an dem Marterl war hohl, wovon er durch Zufall Kenntnis bekam. Man gab damals persönliche Dinge oder Andenken in den Hohlkörper, was aber in den letzten Jahrzehnten nur noch selten gemacht wurde.

Wie alt war diese Figur da vorn? Das war jetzt nicht wichtig. Er riss die Figur vom Sockel und schüttelte sie. Er drehte und drückte an der Figur, sie war jetzt seine einzige Rettung. Die Engländer hatten seine Spur wieder aufgenommen und kamen näher. Dann spürte er, wie der Fußteil der Marienfigur nachgab. Hektisch drehte er solange, bis das Teil ab war. Die Figur war tatsächlich hohl!  Er nahm die verschiedenen Andenken aus der Figur und steckte sie in seine Jackentasche. Dann stopfte er die Liste und das Serum in den Hohlkörper, beides fand gerade so Platz darin. Rasch stellte er die Marienfigur zurück an ihren Platz. Hatten die Engländer gesehen, was er gemacht hatte? Darum kümmerte er sich nicht, sondern rannte weiter.

Captain Monroe war wütend. Genau die Seite, die wichtig war, wurden herausgerissen. Auch das Serum hatten sie nicht gefunden. An dem Befehl und den Anweisungen zum Bau der Bombe war er nicht interessiert. Sein Interesse galt einzig und allein der Anleitung und dem Serum, von dem er nicht wusste, welche Auswirkungen es hatte. Aufgrund des Lederetuis und der Tücher vermutete er, dass Demmelhuber beides immer noch bei sich trug. Dieser hinterlistige Teufel hatte sie getäuscht. Der verdammte Deutsche war sehr gerissen und hatte sich einen zeitlichen Vorsprung verschafft, den sie so schnell wie möglich aufholen mussten. Noch vermutete er die Pläne und das Serum bei Demmelhuber. Er würde nicht so dumm sein, beides im Wald zu verstecken. Es würde ein Leichtes werden, beides zu finden.

Endlich hatten sie ihn aufgespürt und näherten sich ihm. Seine Kräfte schwanden.

Mehrmals versuchte Monroe, ihn zum Aufgeben zu bewegen und kramte alle deutschen Worte aus seinem Gedächtnis, die ihm einfielen. Aber Demmelhuber reagierte nicht.

Sebastian Demmelhuber konnte nicht mehr. Er blieb völlig entkräftet stehen und drehte sich zu den Verfolgern um. Wie konnte er die Engländer davon abhalten, ihn nicht einfach abzuknallen? Es war Krieg und niemand würde sich für seinen Tod interessieren. Er griff in die linke Jackentasche, wo er das Foto seiner kleinen Tochter immer aufbewahrte. Er wollte es hochhalten und damit die Engländer besänftigen.

Während Monroe das Foto als solches erkannte, verstand Johnson die Geste falsch. Er vermutete, dass der Deutsche nach seiner Waffe griff, zog seine Waffe und schoss auf Demmelhuber. Der brach tot zusammen.

Erst jetzt erkannten die Engländer Demmelhubers Zustand und waren schockiert. Der Mann sah furchterregend aus, das Gesicht war eine einzige Fratze. Alle hielten sich sofort Tücher vors Gesicht.

„Keiner fasst die Leiche an. Zurück!“ befahl er. „Sofort!“

Monroe geriet in Panik. Demmelhuber musste sich infiziert haben. Monroe musste schnell handeln, vielleicht war es für ihn und seine Kameraden noch nicht zu spät. Er holte den Benzinkanister vom Wagen und begoss die Leiche damit. Monroe suchte in seiner Jacke nach einem Feuerzeug. Das dauere Johnson zu lange. Er warf seine eben angezündete Zigarette auf die Leiche, die sofort in Flammen aufging. Die Gerüchte um das Serum waren also wahr. Aber um was ging es genau? Hatten sie sich bei ihm angesteckt? Sofort nach ihrer Rückkehr mussten sie sich untersuchen lassen, aber das musste warten. Hatte Demmelhuber die Pläne und das Serum bei sich? Wenn ja, wäre jetzt beides vernichtet. Konnten sie sich darauf verlassen?

Mehrmals gingen sie den Weg ab, den Demmelhuber gegangen war. Hier war nichts.

„Verlieren wir keine Zeit, Männer. Ich rufe Verstärkung. Sollen die sich alles nochmals vornehmen und jeden einzelnen Stein umdrehen.“ Monroe war besorgt. Er hatte nicht nur Angst um seine Gesundheit, sondern war auch für die seiner Kameraden verantwortlich. Als die Verstärkung in Schutzanzügen eintraf, machten sich er und seine Männer auf den Weg zum Arzt, der sie lange untersuchte. Alle waren im Moment in blendender Verfassung, niemand hatte sich augenscheinlich angesteckt. Der Arzt bestand darauf, dass Monroe und seine Männer in Quarantäne blieben, bis wirklich ausgeschlossen werden konnte, dass sie erkrankt waren.

Mehrere Tage durchkämmten die Engländer mit Unterstützung der Amerikaner das ganze Gebiet um den Toten. Weder das Serum, noch die Pläne dafür konnten gefunden werden. Alle trösteten sich damit, dass alles in Flammen aufging. War das so? Keiner konnte sich wirklich sicher sein.

2.

Über 70 Jahre später…

Die Mühldorfer Kriminalbeamten diskutierten über die Anweisung von Rudolf Krohmer, dem Leiter der Polizeiinspektion Mühldorf am Inn. Da kein aktueller Fall vorlag, sollten alte Fälle überarbeitet werden.

„Sie kommen immer wieder mit demselben Mist daher,“ maulte Hans Hiebler. Der 55-jährige hasste stupide Büroarbeit und hatte keine Lust darauf, staubige Akten zu wälzen, während sich draußen noch die letzten warmen Tage des ansonsten so traurigen Sommers ankündigten. Die Aussicht darauf, die wenigen sonnigen Tage im Büro zu verbringen, demotivierten ihn.

„Hans hat Recht,“ sagte Leo Schwartz. Auch der 51-jährige gebürtige Schwabe hatte keine Lust auf die Arbeit.

„Ich darf doch sehr bitten!“ sagte Krohmer ernst, wobei er einen verächtlichen Blick auf Leos T-Shirt warf. Über die Abbildungen von Rockbands hatte er sich längst gewöhnt, aber diese Freiheitskämpfer in den letzten Wochen, deren Konterfei von knallbunten Symbolen unterstrichen wurden, kränkten seine Augen.

„Ich habe gehört, dass die Kollegen einen interessanten Fall bearbeiten,“ sagte Werner Grössert, der nichts gegen Aktenarbeit einzuwenden hatte. Allerdings interessierte ihn das, was er vorhin auf dem Flur aufgeschnappt hatte, sehr viel mehr. „Es geht um Diebstahl und Schmuggel von Heiligenfiguren, die vermehrt in unserer Gegend auftreten. Wir sollten die Kollegen unterstützen,“ sagte der 40-jährige voller Überzeugung. Wie immer trug Werner Grössert einen modischen Anzug mit Hemd, Weste und Krawatte und hob sich rein optisch sehr von Leo und Hans ab, die hauptsächlich in bequemer Freizeitkleidung zum Dienst erschienen. Warum auch nicht?

„Um was geht es dabei?“ wandte sich Leo an seinen Vorgesetzten.

„Es stimmt, was Herr Grössert sagte. Eine Diebesbande hat sich offenbar darauf konzentriert, Heiligenfiguren zu klauen, wobei das Material nicht wichtig zu sein scheint. Die Diebstähle betreffen nicht nur unsere Gegend, die Bande agiert im gesamten süddeutschen Raum. Ich habe mit meinen Kollegen gesprochen, die sich seit Monaten damit herumschlagen müssen.“

„Sind die Figuren so wertvoll, dass sich ein Diebstahl lohnt?“

„Nein, eben nicht. Das ist es, was den Fall so kompliziert macht. Es scheint auch völlig gleichgültig zu sein, wer dargestellt wurde. Ich hoffe, dass dieser Unsinn so schnell wie möglich aufhört. Es wird nicht mehr lange dauern und die Presse wird hellhörig. Können Sie sich vorstellen, was dann los ist?“ stöhnte Krohmer.

„Gerade deshalb sollten wir die Kollegen unterstützen,“ wiederholte Werner. Leo und Hans stimmten zu. Dieser Fall war sehr viel verlockender als trockene Aktenarbeit.

„Meinetwegen,“ brummte Krohmer.

„Wer bearbeitet den Fall?“

„Asanger und Stumpf.“

Leo stöhnte auf. Ausgerechnet Asanger! Mit ihm war er mehrfach aneinandergeraten, die beiden waren zu unterschiedlich. Tobias Asanger war 42 Jahre alt und wollte auf der Karriereleiter bis ganz nach oben kommen. Das war nicht verwerflich, wenn er dabei nicht so plump und hinterfotzig vorgehen würde. Er verkaufte Ideen und Erfolge anderer als seine eigenen. Dabei überging er Kollegen, die auch deshalb nicht scharf darauf waren, mit ihm zusammenzuarbeiten. Joachim Stumpf war aus ganz anderem Holz geschnitzt. Der 48-jährige war immer höflich und hielt sich gerne zurück. Er war nicht fürs Rampenlicht geschaffen. Außerdem hatte Stumpf eine Vorliebe für warme Leberkäs-Semmeln, von denen sich der Junggeselle fast ausschließlich ernährte. Immer und überall musste man zur Nahrungsaufnahme anhalten. Metzgereien liebten Joachim Stumpf, aber Kollegen konnten irgendwann den Geruch von warmen Leberkäs-Semmeln nicht mehr ertragen. Asanger reagierte gereizt auf die Marotte seines Kollegen, was diesen aber nicht störte. Was blieb den beiden anderes übrig, als sich zusammenzuraufen? Niemand wollte mit ihnen zusammenarbeiten. Also lag es auf der Hand, dass sie irgendwie miteinander auskommen mussten.

Krohmer bat Asanger und Stumpf ins Besprechungszimmer. Auch jetzt hatte Stumpf eine Leberkäs-Semmel in der Hand. Deren Geruch griff schnell um sich und füllte den Raum. Nach wenigen Minuten knurrte Leos Magen. Er hatte heute verschlafen und noch nichts gegessen.

„Wie weit sind die Ermittlungen im Fall der Heiligenfiguren?“

„Bisher gibt es nicht viel,“ sagte Asanger und öffnete die dünne Akte. „Insgesamt wurden in den letzten vier Monaten in unserem Zuständigkeitsbereich 68 Figuren gestohlen.“

„68 Stück?“ rief Leo. „So viele? Alle aus Kirchen?“

„Natürlich nicht. Auch aus kleineren Kapellen, von Marterln und sogar aus Privathaushalten wurden diese Figuren gestohlen. Bevor die Bande bei uns zuschlug, agierte sie in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz.“

„Wie viele geklaute Figuren werden den Dieben bisher insgesamt zugerechnet?“

„527 im süddeutschen Raum. Und das sind nur die, die der Polizei gemeldet wurden. Wir gehen von einer sehr viel höheren Stückzahl aus. Vermutungen nach liegt die Zahl bei über siebenhundert Stück.“

„Es steht außer Frage, dass es sich um dieselben Täter handelt?“

„Ja. Die Diebe treiben ein Spielchen mit den Opfern und der Polizei. An jedem Ort, wo eine Figur geklaut wurde, hinterlassen sie ein Guatl, wobei der Geschmack variiert.“

„Ein was?“ Leo verstand kein Wort.

„Lernen Sie endlich bayerisch Herr Schwartz! Ein Guatl ist ein Bonbon. Hier sind einige Fotos.“

Tatsächlich sah man darauf verschiedene Bonbons.

„Konnten Sie die Spur der Bonbons verfolgen?“

„Keine Chance. Das ist Massenware und kann überall gekauft werden.“

„Was geschieht mit dem Diebesgut?“ wollte Werner wissen.

„Wir vermuten, dass sie verhökert werden. Was sollen die Diebe sonst damit machen? Verheizen? Einschmelzen?“ Asanger wollte einen Witz machen, aber er war der einzige, der lachte.

„Amerikaner sind ganz scharf auf solche Volkskunst,“ sagte Werner unbeeindruckt. „Wir sollten den amerikanischen Markt im Auge behalten. Was ist mit dem Zoll? Paketdiensten? Internet?“

„Wir sind nur zu zweit. Wie sollen wir das alles bewerkstelligen?“

„Dann bekommen Sie jetzt Unterstützung von drei Kollegen. An die Arbeit. Sehen Sie zu, dass Sie den Fall so schnell wie möglich lösen….“

Irene Dorfner, Die Jagd nach dem Serum: Der 19. Fall für Leo Schwartz, Bestellen?

Website der Autorin https://irene-dorfner.com/