Ein Gespräch mit Dr. Mykola Kuschnir, Direktor des Jüdischen Museums in Czernowitz/Ukraine…
Von Christel Wollmann-Fiedler
Czernowitz, 10. September 2019
Über Czernowitz, über das jüdische Leben vor dem 2. Weltkrieg habe ich von meinen Zeitzeugen und Freunden in Israel viel und vor allem Schönes gehört. 1940 kam dann das Schreckliche hinzu und 1941 wurde es noch Unmenschlicher. Wie war das denn wirklich während der Donaumonarchie und später in der rumänischen Zeit? War das Zusammenleben der verschiedenen Ethnien und Religionen so problemlos, wie man oft hört?
Das Leben der Juden in Czernowitz in der Zeit der Donaumonarchie und nach 1918 war durch verschiedene Faktoren beeinflusst. Wenn wir die 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts nehmen, müssen wir uns im Klaren sein, dass die Lage der Juden ziemlich schwierig war. Die Juden hatten keine Rechte, zum Beispiel kein Besitzrecht, auch war ihnen der Zugang zu bestimmten Berufen beschränkt. Sie durften nur Handel und Gewerbe treiben und es gab viele andere Beschränkungen und Zwänge. Das wurde negativ wahrgenommen von den Juden. Ich meine vor allem von den liberalen Juden, die schon gute Ausbildung hatten. Es gab solche in Czernowitz schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die meisten Juden waren strenggläubig und lebten zurückgezogen hinter den geistlichen Mauern der Gemeinde. Die Welt außerhalb der Gemeinde, wo Christen und verschiedene andere ethnische Gruppen miteinander oder nebeneinander lebten, interessierte sie sehr wenig.
Was hat der Kaiser in Wien den Juden versprochen und was hat er eingehalten, was wurde umgesetzt, was nicht?
Je nachdem von welchem Kaiser wir sprechen. Kaiser Joseph II., der Sohn von Kaiserin Maria Theresia, hat den Juden freie Religionsausübung zugesagt. Stattdessen verlangte er aber von ihnen, dass sie zu den „nützlichen Untertanen“ werden. D.h., sie sollten ihren altertümlichen Lebenswandel ändern. Auch im Umgang mit den Juden setzte die Regierung in Wien auf Zentralisierung, Säkularisierung, und Germanisierung. Man hat z.B. gefordert, dass die Juden deutschsprachige Familiennamen annehmen und ihre Kinder in die deutschsprachigen Grundschulen schicken. Die jüdischen Gemeinden in der Bukowina und selbst in Czernowitz lehnten alle Reformbestrebungen der Regierung entschieden ab und suchten die restriktiven Maßnahmen zu umgehen. Das war die 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts.
Die 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts erscheint schon in einem anderen Licht. Nach der Revolution von 1848/49 war es schon an der Zeit, dass auch die Juden bürgerliche Rechte bekommen. Auch in Österreich sprach man nun darüber. Die österreichische Administration in Czernowitz war bereit, den sog. „aufgeklärten“, d.h. besser gebildeten und fortschrittlich gesinnten, Juden die Rechte zu geben und unterbreitete dem Kabinett in Wien entsprechende Vorschläge. Trotz des vorübergehenden Sieges der Reaktion in den 1850er Jahren ebnete sich der Weg für die rechtliche Emanzipation der Juden. Schritt für Schritt wurden alte Zwänge und Beschränkungen aufgehoben bis es dann 1867 zur Gleichberechtigung kommt. Von jetzt an waren endlich auch die Juden als Bürger anerkannt. D.h. von Kaiser Franz Joseph I. erhielten die Juden der Bukowina bürgerliche Rechte. Diese Gleichberechtigung stellte eine Zäsur für die jüdische Gemeinschaft dar. In Czernowitz beginnt ab jetzt die Integration der Juden in die Gesellschaft. Viele von ihnen nehmen sehr schnell die neuen Möglichkeiten, z.B. den Zugang zu den sog. freien Berufen, in Anspruch und werden Rechtsanwälte, Ärzte usw. Auch als Angestellte oder Beamte können die Juden jetzt arbeiten. Die neuen sozialen Perspektiven weckten bei den Juden Interesse an Schul- und Universitätsbildung und es war in dem letzten Viertel des 19. Jahrhunderts ein enormer Anstieg des Prozentsatzes von jüdischen Kindern in staatlichen Schulanstalten zu verzeichnen. Auch an der Franz-Joseph-Universität Czernowitz studierten auf einmal viele Juden. Als gleichberechtigte Bürger wurden die Juden in die politischen Körperschaften gewählt. Schon in seiner ersten Legislaturperiode waren im Bukowiner Landtag als Abgeordnete der jüdische Rechtsanwalt Dr. Josef Fechner und der Kaufmann Isak Rubinstein tätig. Im Czernowitzer Stadtrat saßen ebenfalls viele Vertreter der jüdischen Gemeinde. Aber einen besonderen Einfluss hatten die Juden in der Wirtschaft. Hier, wie auch in vielen anderen Bereichen, hatten die Juden um die Jahrhundertwende federführende Positionen.
Wenn ich in den Unterhaltungen mit den alten Czernowitzern meinte, dass sie „die Deutschen“ waren, kam sofort die Erwiderung: “ Nein, wir waren die Juden“. Wie ist das zu verstehen?
Gute Frage, gute Bemerkung. Da haben wir wieder zu unterscheiden zwischen der österreichischen Periode und der rumänischen nach 1918. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts hat die Regierung mehrmals indirekt angedeutet, dass die Juden der Monarchie eigentlich „Deutsche mosaischen Glaubens“ sind. Die Nachkommen von Abraham waren folglich nicht als ethnische Gruppe oder als Volk anerkannt, sondern nur als Religionsgemeinschaft, doch bei den Volkszählungen wurden sie zu den Deutschen gezählt. Dies entsprach auch der oben schon erwähnten Germanisierungspolitik der Habsburger, die anfänglich zwangsweise vorangetrieben wurde. In der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts war alles schon wieder umgekehrt. Die jüdische Bevölkerung der bukowinischen Hauptstadt wählte mehr und mehr die deutsche Sprache und die deutsche Kultur als Mittel für ihren sozialen Aufstieg. Es vollzieht sich die freiwillige Akkulturation, die Assimilation natürlich auch, doch nicht mehr zwangsweise.
In Czernowitz entsteht auf dieser Grundlage ein interessantes Phänomen, die sogenannte deutsch-jüdische Kultursymbiose, die auch ein politisches Bündnis zwischen den österreichischen Deutschen und den Juden möglich machte. Die beiden Gruppen bewiesen ihre Loyalität gegenüber den Habsburgern und agierten gemeinsam im Landtag. Auch in den studentischen Verbindungen an der Universität Czernowitz waren die Deutschen und die Juden lange Zeit gemeinsam. Dabei ist nicht zu vergessen, dass die orthodoxe Judenschaft in der Stadt weiterhin präsent war. In der Tat muss man über zwei jüdische Welten in Czernowitz, die parallel existierten, sprechen: einer orthodoxen und einer liberalen. Die Vertreter der Letzteren waren bemüht, „normale“ Menschen zu sein. Sie zogen sich bürgerlich an, ihr Habitus und das Benehmen waren genauso, wie bei den anderen Bürgern. Sie teilten österreichische Kulturwerte. Es gab Salons in Czernowitz, wo die Juden auch dabei waren. Es gab, wie auch bei den anderen ethnischen Gruppen, eine jüdische liberal gesinnte und assimilationsfreudige Oberschicht. Nach 1918 änderte sich die Situation für die Juden in Czernowitz komplett. Denn von einer quasi privilegierten Gruppe wurden sie plötzlich zu einer der Minderheiten im rumänischen Staat mit allen daraus resultierenden Problemen und Nachteilen. Aber das schlimmste war, dass die Regierung in Bukarest anstrebte, die Bevölkerung der Bukowina umgehend zu Patrioten Rumäniens zu machen. Mittels einer harten Rumänisierungspolitik, von welcher die deutschsprachigen Juden und die Ukrainer am meisten betroffen wurden.
Wie reagierten die Juden darauf? Unterschiedlich aber meistens ablehnend. Die einen – und das war typisch für die jüngere Generationen – befassen sich immer mehr mit den zionistischen Ideen bzw. Parolen. Sie fühlten sich in rumänischen Cernauti nicht mehr zu Hause und neigten immer öfter dazu, nach Palästina auszuwandern, um dort ihr neues jüdisches Zuhause gemeinsam aufzubauen. Die zweiten – und das waren die Vertreter der unteren Schichten – huldigten nun dem Sozialismus, Internationalismus und der Arbeiterschaft und träumten von der Weltrevolution. Und die Dritten, – und das waren die Vertreter der alten jüdischen Elite aus der österreichischer Zeit – versuchten, sich anzupassen und die Rechte der Bukowiner Juden als Bestandteil der Judenschaft Rumäniens mit den ihnen zur Verfügung stehenden verfassungskonformen Mitteln zu verteidigen. Nur in einem waren alle drei Gruppen einig: sie fühlen sich nicht dem Deutschtum, sondern dem Judentum angehörend.
Woher, aus welchen Landschaften kamen die Juden, die sich in Czernowitz angesiedelt haben und warum kamen sie in die Bukowina?
Zu dem Zeitpunkt als die Bukowina im Jahre 1775 österreichisch wurde lebten hier insgesamt 526 jüdische Familien. Dann begann sehr starker Zuzug der Juden, vor allem aus Galizien. Klar, es gab natürlich auch Übersiedler aus anderen Regionen. Aber in Galizien lebten schon seit dem Mittelalter viele Hunderttausende von Juden. Die jüdischen Gemeinden lebten dort sehr oft in Armut und viele Juden suchten Möglichkeiten für ein besseres Leben. Nun gingen sie in die österreichische Bukowina. Hier – im Unterschied zu Galizien, wo die österreichische Gesetzgebung für die Juden schon früher eingeführt war – blieb die alte Ordnung vorerst in Kraft. Dieser Status Quo bedeutet für die Juden, dass sie z.B. vom Militärdienst befreit waren. Auch war es in der Bukowina viel ruhiger als in Galizien, wo die jüdischen Gemeinden im Rahmen der Regierungsreformen schon Umbrüche und Turbulenzen erlebten
Das Gebäude in dem wir uns befinden, wurde 1908 im feinsten Jugendstil als Jüdisches Volkshaus gebaut von Architekt Julius Bochner.
Das Gebäude wurde von der Leitung der jüdischen Gemeinde Czernowitz vor für allem für den Sitz ihrer Administration bestimmt. Seine Pläne hat Julius Bochner, und nicht Lewandowski, dessen Name fehlerhaft auf der Tafel draußen geschrieben steht, entworfen. Bochner war ein bekannter Architekt in der Stadt und hat auch andere Häuser gebaut. Er war Vorstandsmitglied der jüdischen Gemeinde und hatte Anteile an einer Ziegelfabrik. Und für die Fassade bestellte man extra einen Künstler aus Wien.
Sie sind ein exzellenter Kenner des Bukowiner Judentums und leiten seit 2010 das Jüdische Museum in Czernowitz, in dem wir gerade miteinander sprechen. Wie kommt es, dass Sie als Nicht-Cczernowitzer und Nichtjude sich um dieses ganz spezielle Thema kümmern?
Gute Frage. Ja, ich habe keine jüdischen Wurzeln oder Herkunft, ich bin auch kein gebürtiger Czernowitzer, auch kein Bukowiner. Ich kam 1990 hierher zum Studium. Die ehemalige erzbischöfliche Residenz, in der die Universität untergebracht ist, hatte mich sehr fasziniert. Na, und erst die Stadt. Solch eine Stadt hatte ich in meinem Leben damals noch nie gesehen. Ich stamme aus einem Dorf in der Zentralukraine. Ich habe natürlich typisch sowjetische Städte dort gesehen, aber so eine Stadt wie Czernowitz hatte ich noch nie gesehen. Zum ersten Mal habe ich Czernowitz 1989 im Rahmen einer Dienstreise meines gottseligen Vaters besucht. Damals habe ich ihm gesagt, dass ich hier studieren möchte. Er war alles andere als fasziniert von dieser Idee, weil es weit vom Zuhause war, musste es aber hinnehmen. Einige Jahre später gab es an der Uni einen Wettbewerb in deutscher Sprache. Ich hatte ein gutes Ergebnis und bekam einen zweiwöchigen Aufenthalt in Augsburg. Das war die erste Auslandsreise in meinem Leben. Bayern, Augsburg, für mich war das ein anderer Planet. Dort habe ich viele interessante Menschen kennengelernt, auch den damaligen Leiter des Bukowina Instituts, Professor Johannes Hampel, der inzwischen leider verstorben ist. Er wollte wissen, was ich nach dem Studium machen werde. Nun, vielleicht eine wissenschaftliche Laufbahn, war meine Antwort. Dann fragte er mich nach dem Thema, das für mich als Historiker interessant ist. Ich konnte damals noch nicht antworten. Professor Hampel wies mich dann auf die Jüdische Geschichte in der Bukowina hin. Ich weiß nicht mehr, wie ich damals reagiert habe. Später, als ich ein Thema für meine Diplomarbeit angeben musste, erinnerte ich mich an dieses Gespräch und habe mich für die Jüdische Geschichte der Bukowina in der österreichischen Periode entschieden. Ab 1994 habe ich mich dann mehr und mehr mit dem Thema beschäftigt. Schritt für Schritt musste ich für mich die Jüdische Geschichte als solche entdecken. Was bedeutet Judentum überhaupt? Religion, Traditionen usw. Für mich als Nichtjude war das sehr kompliziert. Es gab auch Sprachprobleme. Die Unterlagen sind natürlich alle auf Deutsch. Meine deutschen Sprachkenntnisse waren damals sehr primitiv, geschweige denn Jiddisch oder Hebräisch. Ich habe natürlich Hebräischkurse gemacht, doch es reichte nicht aus. Etwas später, während meines Studienaufenthaltes in Wien, habe ich die Möglichkeit bekommen, Jiddisch bei Professor Jakob Allerhand privat zu lernen. Ich brauchte also viele Jahre, um diesem Thema näherzukommen. 2007 begannen die Vorbereitungen für dieses Museum. Einige Themen hatte man mir übertragen, jüdische Presse, jüdische Konferenz 1908. Zwei Jahre später kam das Angebot, das Museum zu übernehmen. Seit 2010 bin ich in diesem Haus und leite das Jüdische Museum.
Bei einer Präsentation konnte ich sehen, dass die Zeremonienhalle auf dem Jüdischen Friedhof in der Selena Straße saniert wird und ein moderner Anbau entstehen soll. Eine Gedenkstätte für die Bukowiner Juden soll dort hineinkommen. Hat die geplante Einrichtung Einfluss auf Ihr Museum, auf Ihre Arbeit?
Es geht um ein sehr großes Projekt, dessen Ziel ist es, ein Holocaustmuseum und eine Gedenkstätte einzurichten. In der ehemaligen Leichenhalle, die derzeit saniert wird, soll die Gedenkstätte entstehen und in einem Neubau die Dauerausstellung über den Holocaust in der Bukowina untergebracht werden. Natürlich hat das neue Museumsprojekt Einfluss auf unsere Arbeit hier. Zum einen, weil wir als Museumspersonal jetzt Doppelaufgaben haben. Zum anderen, weil die Dauerausstellung hier auch neukonzipiert werden soll, bevor das neue Museum in der Selena Straße seine ersten Besucher empfängt. Denn wir haben auch in der aktuellen Ausstellung Materialien bzw. einen Informationsblock zum Thema Holocaust. Sie sind aber sehr oberflächlich und nehmen nur Randstellungen ein. So war das im ursprünglichen Konzept des Jüdischen Museums in Czernowitz, das vorsah, dass man hier in erster Linie das Leben der Juden und nicht den Tod zeigt. Es wurde aber von den Begründern des Museums schon damals den Holocaustüberlebenden und deren Nachkommen das Versprechen gegeben, dass auch das Thema Shoa in der Bukowina und dessen Bedeutung einen angemessenen Platz finden wird. Mit dem neuen Museumsprojekt wird nun dieses Versprechen eingehalten.
Ihr Museum ist ein sehr wichtiges, kleines, aber feines, sehr informatives Museum. Ich glaube, es gibt kaum weitere Jüdische Museen dieser Art in der Ukraine, in Russland oder in Rumänien. Ist das richtig?
Teilweise. In Moskau gibt es inzwischen ein sehr großes Museum, das als Jüdisches Museum und Zentrum für Toleranz betitelt ist. Bei ihm handelt es sich um das Judentum auf dem riesengroßen Territorium des Russischen Reiches. Wir sind stattdessen ein lokales Museum, in dem die hiesige Geschichte präsentiert wird. Dabei gehen wir davon aus, dass sich die hier ansässigen Juden durch ihre kulturelle Prägung eine spezifische lokale Identität und ein Selbstbewusstsein angeeignet haben, welches sich von dem der Juden in Galizien oder in Bessarabien unterscheiden. In der Ukraine gibt es ein großes Jüdisches Museum in Dnipro, ein etwas kleineres in Odessa und ein privates Jüdisches Museum in Krywyj Rih (russ. Kriwoj Rog), einer Industriestadt in der südlichen Ukraine. Etwas Gemeinsames haben alle diese Museen: Das Thema des Holocausts und des Zweiten Weltkriegs hat in ihren Ausstellungen einen prioritären Platz gefunden. Alle Jüdischen Museen in der Ukraine – unseres ist da auch keine Ausnahme – sind keine staatlichen oder kommunalen Einrichtungen. Sie entstanden durch private oder bürgerliche Initiativen, wie es bei uns der Fall war. Für Rumänien kann ich nicht sprechen. Meines Wissens gibt es in der Stadt Sighetu Marmației ein Museum „Elie-Wiesel-Haus“. Ich habe auch gehört, dass die Arbeit an dem Holocaustmuseum in Bukarest inzwischen ins Stocken geraten ist.
Wie war das nach dem 2. Weltkrieg. Die Überlebenden von Transnistrien gingen oft weiter nach Rumänien oder gleich in die weite Welt. Wieviel Czernowitzer Juden gab es damals noch in der Stadt und wie viele später. Woher kamen die fremden Juden?
Da fehlen leider die genauen Statistiken. Wir wissen nicht wie viele in Transnistrien überlebt haben. Schätzungsweise ein Drittel, das ist aber sehr vage. Etwa 20.000 Juden wurden in Czernowitz gerettet, weil sie als Arbeitskräfte in der Stadt bleiben durften. Im Mittelpunkt dieser Rettungsaktion steht, wie bekannt, der Bürgermeister Traian Popovici. Aber nicht nur er, das wäre ungerecht. Es gab auch andere, z.B. der ehemalige Deutsche Konsul in Czernowitz Dr. Fritz Schellhorn. Er war auch in diese Rettungsaktion involviert oder spielte sogar die führende Rolle. Da müssen wir noch weiter forschen. Denn es gab offensichtlich auch andere Persönlichkeiten mit guten Kontakten nach Bukarest, die sich für die Czernowitzer Juden einsetzten. Fazit: Diese 20.000 Juden wurden hier gerettet. Wobei auch diese Zahlen nur ungefähre sind. Im Frühjahr 1944 war Transnistrien von der Sowjetarmee befreit und die bukowinischen Juden, die in Ghettos und den Arbeitslagern überlebt haben, machten sich auf den Weg nach Hause. Die Überlebenden aus der Südbukowina gingen mit oder ohne Papiere über die Grenze, die es schon wieder gab. Auch in die Nordbukowina sind viele Überlebende zurückgekehrt, vor allem nach Czernowitz. Man fand hier aber eine unsichere Situation: Die Sowjets, die wieder Herren der Lage waren, deuteten an, dass diese Juden in der Stadt nicht erwartet werden. Aus Angst vor der Zukunft haben sich nun auch die Czernowitzer Juden entschieden, nach Rumänien auszuwandern. Rumänien war in der Nähe und als ehemalige rumänische Bürger hatten sie gemäß einem zwischen der Sowjetunion und der neuen Regierung in Bukarest vereinbarten Abkommen auch ein Recht dazu. Schätzungsweise handelt es sich um etwa 30.000 Juden, die in den Jahren 1945/46 die Stadt am Pruth verließen.
Woher kamen die anderen dann später hinzu. Es gibt hier in Czernowitz eine Jüdische Gemeinde.
1946 blieb noch ein kleiner Bruchteil der Czernowitzer Juden in der Stadt. Einige Jahre später setzt sich eine relativ intensive Einwanderung der sog. „Sowjetjuden“ nach Czernowitz ein. Es geht um die jüdischen Einwohner vor allem aus den östlichen und zentralen Gebieten der Sowjetukraine sowie auch aus Bessarabien, deren Heimatstädte in Schutt und Asche lagen. Im Unterschied dazu blieb Czernowitz, welche als Jüdische Stadt bekannt war, von Zerstörungen verschont und es gab da viele Wohnungen und Häuser, die nun leer standen. Unter den Ansiedler gab es auch jüdische Familien – oft aber nur einzelne dem Tod entkommene Personen – aus den kleinen Städtchen Transnistriens, die mit den bukowinischen Juden in Ghettos und Arbeitslagern bekannt wurden und zusammen mit ihnen den Schrecken des Holocausts erlebten. Hinzu kommen auch sowjetische Bürger jüdischer Herkunft, die als Parteifunktionäre und Verwaltungspersonal hierher geschickt wurden. Solche Menschen füllten Czernowitz nach und nach auf bis in den 1950er Jahren in der Stadt wieder etwa 30.000 Juden wohnten. Von einer Jüdischen Gemeinde oder von einem gemeinschaftlichen Leben der Juden in Czernowitz in der Nachkriegszeit kann man nicht sprechen. Unter dem Vorwand, dass sich der sowjetische Staat jetzt um Alle kümmere, haben die Sowjets alle Bemühungen, eine Jüdische Gemeinde auf die Beine zu stellen, abgesagt. Es wurde nur eine jüdische religiöse Gruppe registriert, die auch das Recht bekam die Synagoge zu benützen. 1958 wurde der legale Status dieser Gruppe wieder entzogen und die Synagoge widmete man in eine Möbelfabrik um.
Wann ist die Jüdische Gemeinde entstanden?
Zu einer kurzen Renaissance des jüdischen Lebens kam es in Czernowitz erst in der späteren Gorbatschow-Zeit im Zuge der Liberalisierung in der UdSSR. Man konnte jetzt ohne Angst über die Vergangenheit sprechen, die verschiedenen Aspekte der Jüdischen Geschichte diskutieren. Auch der Holocaust war nicht mehr ein Tabuthema. Es entstanden in der Stadt zahlreiche jüdisch-bürgerliche Initiativen, die dahin ausgerichtet waren, der Stadt die vergessenen Namen von bedeutenden jüdischen Persönlichkeiten zurückzugeben, eine jüdische Schulanstalt zu gründen, den überwucherten jüdischen Friedhof zu pflegen und selbstverständlich auch der Opfer des Holocausts öffentlich zu gedenken. Auch jüdische regierungsunabhängige Organisationen entfalteten nun ihre rege Tätigkeit. Sie machten sich zur Aufgabe die jüdische Kultur zu fördern, die soziale Fürsorge um die alten und bedürftigen Glaubensgenossen zu gewährleisten und auch den Juden bei der Repatriierung nach Israel zu helfen. Im Grunde genommen ersetzten sie gewissermaßen die fehlende Jüdische Gemeinde und erzielten auf diesem Gebiet zahlreiche Erfolge. Dies alles dauerte aber nicht lange. In der Situation einer tiefen politischen und sozialen Krise in der nun unabhängigen Ukraine nahm die Auswanderungswelle nach 1991 wieder deutlich zu und die Zahl der jüdischen Einwohner in Czernowitz ging sehr schnell zurück. So kam die kurze Renaissance von damals wieder zum Stillstand. Es sind in der Stadt meistens ältere Juden geblieben, die einen neuen Anfang in einem neuen Land nicht wagten. Eine wahrhafte Jüdische Gemeinde, d.h. eine Dachorganisation, die alle Gruppen und Strömungen in der heutigen Czernowitzer Judenschaft vereinigt und als Nachfolgerin der Gemeinde aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg auftritt und als solche wahrgenommen wird, fehlt bis heute.
Wieviel Gemeindemitglieder sind es heute?
Die letzten offiziellen Zahlen haben wir von der Allukrainischen Volkszählung aus dem Jahre 2001. In Czernowitz zählte man damals 1.400 Juden. Jetzt werden es schätzungsweise noch 1.000 sein, obwohl der Rabbiner viel größere Zahlen nennt. Nur die nächste Volkszählung wird uns Auskunft geben.
Herr Dr. Kuschnir, Sie haben mir so viel erzählt, wofür ich Ihnen sehr danke
Mykola Kuschnir, geboren am 11. Mai 1973 im Dorf Myhaliwzi, in der Region Winnyzja, Zentralukraine. 1980 – 1990 – Besuch der Schule. 1990-1996 – Studium der Geschichte der Ukraine sowie der osteuropäischen Geschichte an der Czernowitzer Jurij-Fed‘kowitsch Universität. 1996-2004 – Arbeit in der Stadt- und Gebietsverwaltung Czernowitz. 1999-2000 – Forschungsaufenthalt in Wien. 2004-2014 – Dozentur am Lehrstuhl für Internationale Beziehungen der Czernowitzer Nationalen Jurij-Fed‘kowitsch Universität. 2014 – 2016 – Leitung (ehrenamtlich) des bürgerlichen Forums (Beirats) der Stadt Czernowitz. Seit 2010 – Leitung des Czernowitzer Museums für Jüdische Geschichte und Kultur der Bukowina. M.K.
Alle Fotos: (c) Christel Wollmann-Fiedler