Fasten wir wirklich an Jom Kippur?

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Maurycy Gottlieb, Juden beten in der Synagoge am Jom Kippur, 1878

Wir würden nicht leicht jemanden finden, für den das Fasten an Jom Kippur einfach ist. Wird es uns helfen zu wissen, dass wir damit lernen, unsere Gesundheit zu unterstützen, sogar unser Leben zu verlängern?…

Von Rabbiner Dr. Tom Kučera

Oder wird uns die Erkenntnis helfen, dass wir biochemisch gesehen nach einem Tag des Verzichts auf Essen und Trinken eher hungern als fasten? Beim Hunger werden Zuckerreserven aus der Leber verbraucht; Muskeln und Fettgewebe tragen dazu bei, dass Zucker neu gebildet wird, den wir für unser Bewusstsein (Gehirn) und Atem (rote Blutzellen) brauchen. Dies muss auch während Jom Kippur geschehen. Das richtige Fasten beginnt aber erst dann, wenn der Zuckerverbrauch eingespart wird, erstaunlicherweise vom Gehirn. Dies geschieht erst nach einigen Tagen des Hungerns, dabei müsste man natürlich trinken. Erst wenn das Gehirn für zwei Drittel seines Energieverbrauchs auf die sogenannten Ketonkörper umstellt, fängt das richtige Fasten an, ungefähr nach drei Tagen des Hungerns (Dabei müsste man natürlich trinken). Der Zuckerverbrauch wird also durch das Gehirn eingespart, dadurch wird unmittelbar der Proteinabbau in Muskeln gehemmt und dadurch das Überleben sichergestellt. Der Körper stellt sich dann auf die fast unbegrenzten Fettspeicher um, die bis zu 50 Tagen ausreichen.

Mögen uns diese Information helfen, Jom Kippur leichter zu tragen, mit dem Wissen, dass wir eigentlich immer „nur“ hungern, und dass biochemisch gesehen in unserem Körper qualitativ, wenn auch nicht quantitativ, ähnliche Prozesse wie beim Sport ablaufen. Jom Kippur ist ein geistiger Sporttag, bei dem wir unseren Willen und unser Durchhaltevermögen üben.

Und noch mehr. Wenn wir mithilfe von Jom Kippur lernen, regelmäßig zu fasten, verlängern wir unser Leben. Dies ist eine gewagte Behauptung: Das Fasten ist der Weg zum Verjüngen des Körpers. Es ist keine Science-Fiction, sondern die bisher weniger bekannte Wirklichkeit unserer Physiologie. Ich habe es erfahren, nachdem mir ein Mitglied einen Arte-Beitrag auf DVD über das Fasten gab. Da habe ich Valter Longo zum ersten Mal gehört und seine wissenschaftlichen Ergebnisse aus Los Angeles gesehen. Ich war so begeistert, dass ich einige seiner wissenschaftlichen Publikationen las.

Valter Longo hat eine Scheinfastendiät entwickelt, die das Fasten vortäuscht und den Körper in einen Regenerationsmodus zwingt. Sie ist zuckerarm und proteinarm, aber reich an bestimmten gesunden Fetten. Mit präzisen Studien zeigte er, dass eine proteinarme Ernährung allgemein optimal ist, um die Schutzmechanismen der Zellen aufrechtzuerhalten. (Schon dies ist ungewöhnlich, weil Sie zum Beispiel in jedem amerikanischen Restaurant danach gefragt werden, welches Protein Sie zu Ihrem Salat nehmen.) Wie funktioniert der Regenerationsmodus? Die Scheinfastendiät täuscht das richtige Fasten vor, folglich baut der Körper viele Zellstrukturen und ganze Zellen ab (sog. Autophagie). Dies ist im Grunde nicht gut und zeigt auf die Stresssituation eines fastenden Körpers. Jedoch werden gleichzeitig Prozesse aktiviert, die wesentlich vorteilhafter sind: die Aktivierung der Stammzellen in Blut und Rückenmark, die die abgebauten Zellen ersetzen und damit den Körper verjüngen. Die im Fasten abgebauten Zellen werden durch die neu gebildeten ersetzt (im Alter von 18 bis 70 Jahren, über 70 nicht mehr.) Die Zellregeneration wird angeregt, und der zelluläre Alterungsschutz wird geschaffen. Das Fasten greift auf eine millionenjährige Evolution zurück und aktiviert die Verjüngung, die so universal ist, dass es einen messbaren Einfluss auf Herz-Kreislauf-Erkrankungen, neurodegenerative Erkrankungen und Autoimmunkrankheiten hat. Diese Aufzählung deckt sich mit den einzelnen Kapitelnamen von Longos Buch, das im März 2018 unter dem weniger ansprechenden Titel „Iss dich jung” erschien. Valter Longo hat den Begriff Juventologie für die Biochemie der Langlebigkeit geprägt, die nicht nur mit einer Ernährung, sondern mit dem gelegentlichen Mangel an Ernährung zu tun hat. Das Fasten aktiviert unser Selbstheilungsprogramm. Dabei geht es um keinen asketischen Lebensverdruss, sondern lediglich um fünf Tage pro Monat, und dies jeden dritten Monat bei Gesunden, drei Monate lang bei vielen Patienten, wieder fünf Tage pro Monat. In diesem Sinne habe ich bisher kein Fasten gemacht, einige unserer Mitglieder schon.

Das Altern mit mehr Vitamin C zu beeinflussen, ist gemäß dem Autor, „wie durch zusätzliche Celli eine Symphonie verbessern zu wollen.” Dafür müsste man eine bessere Symphonie schreiben. Die Symphonie des Fastens kann sogar bei einer Krebstherapie helfen. Es ist etwas gegen die Intuition und erregt oft den Widerstand der Ärzte, weil die klinischen Studien immer noch laufen und daher keine Publikation mit der Auswertung an den Patienten vorliegt. In dem erwähnten Arte-Dokument sagt die amerikanische Richterin Nora Quinn, dass ihr die fünftägige Scheinfastendiät vor, während und nach der Chemotherapie das Leben gerettet hat. Valter Longo hat mit Mäuseversuchen eindeutig gezeigt, dass die Scheinfastendiät die normalen Zellen wie beschrieben in den Regenerationsmodus zwingt, jedoch die Krebszellen, die keinen normalen Stoffwechsel haben, so durcheinanderbringt, dass sie für die Krebstherapie sensibilisiert und dadurch schneller vernichtet werden. Das Ergebnis: 50 Prozent weniger Tumore bei Mäusen, mit keinem Verlust der Muskelmasse. Diese „differenzierte Stressresistenz“ des Fastens, wie es Longo nennt, wurde beim Veröffentlichen im Jahr 2008 mit dem magischen Schutzschild verglichen, das für die Normalzellen aktiviert wird, jedoch nicht für die Krebszellen. Dies ist vielleicht mit einer einwöchigen Wüstenwanderung zu vergleichen, die eine aus Beduinen und Stadtbürgern zusammengestellte Gruppe macht. Alle Teilnehmer werden herausgefordert, aber auf unterschiedliche Weise die beeindruckende Wüstenwanderung verkraften.

Vor diesem Hintergrund können wir auf eine besondere Weise die Worte der Tora-Lesung der letzten Alija an Jom Kippur wahrnehmen: Ach be´assar lachodesch haschwii hase, jedoch am Zehnten des siebten Monats, jom kippurim hu, mikra kodesch jihje lachem, sei euch eine besondere Zusammenrufung, we´initem et nafschotechem, und lernt, euren Körper zu beugen. (Lv 23:27). Mögen wir ein leichtes Fasten haben. Zom kal.

Dr. Tom Kučera ist Rabbiner der Liberalen jüdischen Gemeinde Beth Shalom in München.

Bild oben: Maurycy Gottlieb, Juden in der Synagoge am Jom Kippur, 1878