Antisemitismus seit 9/11

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Jeder, der den Tag bewusst wahrnehmen konnte, erinnert sich daran, was er am 11. September 2001 wo getan hat. Die terroristischen Anschläge mit fast dreitausend Toten haben sich tief ins Bewusstsein vieler Menschen eingebrannt. Deren vielfältige weltpolitische Folgen muss man nicht referieren, sie finden sich in den täglichen Nachrichten. Es gab und gibt aber auch Auswirkungen dieser Ereignisse, die wohlmöglich nicht so bewusst sind. Dazu gehört der Antisemitismus, welcher dadurch einen weiteren Schub erhielt…

Von Armin Pfahl-Traughber

Diese Auffassung vertritt der Politikwissenschaftler Samuel Salzborn, der mit „Antisemitismus seit 9/11. Ereignisse, Debatten, Kontroversen“ einen umfangreichen Sammelband nicht nur, aber auch dazu herausgegeben hat. In der Einleitung schreibt er: „Versucht man … den Antisemitismus seit den Anschlägen von 9/11 zu systematisieren, fallen mindestens drei Momente auf. Seine Entgrenzung, seine Trivialisierung und seine Bagatellisierung“ (S. 9). 

Dies machen die 23 Abhandlungen deutlich, die wiederum in vier große Kapitel gegliedert sind. Hier sollen zunächst nur die jeweiligen Themen genannt werden. Bei „Antisemitismus und politische Mitte“ geht es um den Alltagsantisemitismus, einen Rückblick auf die „Möllemann-Debatte“, die Beschneidungskontroverse 2012, die Auseinandersetzung um das israelfeindliche Grass-Gedicht als Tabubruch, Norbert Blüms „Israelkritik“ als Ticketmentalität, Judenfeindlichkeit im deutschsprachigen Rap und die Vereinten Nationen als „größte antizionistische Organisation der Welt“ (S. 133). Danach steht der „Rechte Antisemitismus“ im Mittelpunkt. Angesprochen werden dortige antisemitische Verschwörungsvorstellungen, die Judenfeindlichkeit im Rechtsterrorismus, dann auch bei der NPD und der AFD und ebenso bei den „Montagsmahnwachen für den Frieden“. Ein eigener Aufsatz ist noch der besonderen Situation in Ungarn gewidmet. 

Danach geht es um den „islamischen Antisemitismus“, wobei manchmal die Formulierungen „islamsicher Antisemitismus“ und „islamistischer Antisemitismus“ wechseln. Gleich zwei Beiträge behandeln die Judenfeindlichkeit im Kontext des islamistischen Terrorismus. Dann gibt es eine Abhandlung zu Antiamerikanismus und Antisemitismus in seiner Verschränkung, auch und gerade nach 9/11. Und schließlich steht hier der Iran bezüglich von Holocaustleugnung und Vernichtungsdrohungen im Zentrum. Dann geht es noch um den „linken Antisemitismus“, wobei gefragt wird, ob „Die Linke“ eine antisemitische Partei sei. Hier fällt der Blick auch auf Antisemitismus in Protestbewegungen, ganz allgemein bezogen auf die dortige Identitätspolitik, dann aber auch hinsichtlich Attac mit einer Fallstudie. Und gegen Ende gibt es einen Rückblick auf die Augstein-Debatte von 2013 sowie eine Analyse zur BDS-Kampagne gegen Israel und der Rolle von Roger Waters.

Die Beiträge stammen von guten Kennern der jeweiligen Materie. Allein die Inhaltsangabe sollte nicht nur Neugier wecken, sie steht für Aufmerksamkeit für neuere Entwicklungen. Mitunter werden dabei auch Fragen aufgegriffen, die in anderen Publikationen bereits breiter thematisiert wurden. Dies gilt für ältere Fälle wie die zu Augstein oder Möllemann, teilweise auch zu AfD und NPD. Es gibt aber auch viele Aufsätze zu bisherigen Desideraten in der gegenwärtigen Forschung, wozu etwa die Analysten zu antisemitischen Hintergründen bei islamistischen Anschlägen zählen. Auch methodisch verdienen manche Abhandlungen besonderes Interesse, wofür etwa die Analyse zu Norbert Blüms „Israelkritik“ und seinen Hintergründen zählt. Bei der genauen Lektüre mancher Texte fällt aber auch auf, dass gegenteilige Auffassungen aus der Literatur nicht immer genügend berücksichtigt wurden. Dieser Einwand schmälert aber nicht die Relevanz dieses wichtigen Sammelbandes.

Samuel Salzborn (Hrsg.), Antisemitismus seit 9/11. Ereignisse, Debatten Kontroversen, Baden-Baden 2019 (Nomos-Verlag), 452 S.

Bild oben: United Airlines Flight 175 crashes into the south tower of the World Trade Center complex in New York City during the September 11 attacks, (c) TheMachineStops (Robert J. Fisch), derivative work: upstateNYer