Praktische Lebensweisheit im jüdischen Sprichworte (II)

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Auch dieser Beitrag der Serie jüdischer Sprichwörter erschien in der Zeitschrift „Ost und West“. Er sammelt Sprichwörter zu Ehre, Hochmut und Bescheidenheit…

Die Zeitschrift „Ost und West“ verstand sich als „Illustrierte Monatsschrift für das gesamte Judentum“ und wollte im Kontext der „Jüdischen Renaissance“ dem westjüdischen Publikum die kulturellen Leistungen der sog. „Ostjuden“ vorstellen.

PRAKTISCHE LEBENSWEISHEIT IM JÜDISCHEN SPRICHWORTE

Von B. Hirsch
Ost und West, Heft 7/8, 1905

II. Menschenehre und Menschenwert; Hochmut und Bescheidenheit.

Ehre ist wie ein Schatten; je mehr du ihr nachläufst, desto mehr läuft sie dir davon.

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Lauf der Ehre nicht nach, so kommt sie dir ins Haus.
Vergl. die Erubin 13 b, und Thauchuma Leviticus IV.

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Geld verloren, nichts verloren — Ehre verloren, alles verloren.

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Willst du, dass die Leute dich achten, achte dich selbst zuvor.

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Wer selber keine Ehre hat, kann andere nicht in Ehren halten.

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Wer beleidigt, beleidigt sich.
Vergl. Kidduschin 70, a.

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Hochmut liegt auf dem Misthaufen, wer nur will kann ihn sich holen.

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Wer zu mir nicht kommt — kommt nicht zu mir.
Wortspiel, beruhend auf dem Doppelsinn von „zu jemandem kommen“: jemanden besuchen und: jemandesgleichen sein, mit ihm denselben Rang einnehmen. Also: wer sich für zu vornehm hält, um mich zu besuchen, der ist in der Tat nicht meinesgleichen und steht unter mir.

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Wo kein Derech-erez, dort ist auch keine Thora.
„Derech-erez“ (heb.) = Anstand, gute Sitte, vornehmes Betragen. Sinn: wo die Wohlanständigkeit fehlt, dort ist auch keine Bildung vorhanden oder sie kommt nicht zur Geltung. Vergleiche Leviticus Rabbah IX.

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Je grösser der Herr, für desto kleiner hält er sich.

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Je leerer die Fässer, ihr Lärm um so grösser.

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Hältst du dich zu klein, tritt dir der andere auf den Kopf.

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Mach dich nicht grün, sonst fressen dich die Ziegen.

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Sei nicht zu süss, damit man dich nicht aufesse; sei nicht zu bitter, damit man dich nicht ausspeie.
Findet sich in hebräischer Fassung in verschiedenen Versionen in den mittelalterlichen Sittenbüchern und dergl., wie Mivchar Happeninim, Omer Haschikcha usw.

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Leg’ dich in die Kleie, schleppeo dich die Schweine fort.

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Ueber einen niedrigen Zaun springen alle Böcke.

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Schande tut schlimmer weh, als Schmerz.

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Lieber Schmerz im Herzen, als Schande im Gesicht.

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Arbeit ist keine Schande (zumal im fremden Lande).

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Nur betrügen ist schändlich.

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Schändlicher ist heucheln, als stehlen.

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Wer vor den Leuten keine Scham hat, der hat vor Gott keine Furcht.

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Wer keine Scham hat, des Mutter war eine Hure.

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Wer keine Scham hat, der hat keine jüdische Ader im Leibe.
Vergleiche zu diesen drei Sprichwörtern: Bava Mezia 83, b; Jevamoth 79, a; Nedarim 20, a.

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Wer sich will die Ehr’ erhalten, muss seine Mahlzeit in zweien spalten.
Muss im Genuss massig sein. Vergl. Chollin 84, b.

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Hätte der Pfau nicht das schöne Gefieder, keiner würde ihn eines Blickes würdigen.

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Was nützen einem Ehrenbezeugungen, wenn er nichts zum Kauen hat?

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Wer auf dem Wagen obenan sitzt, der fällt auch zuerst hinunter.

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Eine Treppe fegt man von oben herab, nicht von unten herauf.

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Wer einen breiten Mund hat, der hat ein enges Herz.

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So lang einer im Hof sitzt, ist er der Herr (bȃr); wirft man ihn aus dem Hof hinaus, ist er der Narr.

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Nicht jeder, der obenan sitzt, ist auch ein Herr.

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Zu viel Anwah ist halbe Gaawah.
„Anwalt“ (heb ) = Demut, Bescheidenheit; „Gaawah“ = Hochmut, Stolz.

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Die Krähe fliegt hoch, schliesslich lässt sie sich auf ein Schwein nieder.

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Ein reiner Vogel lässt sich auf ein Schwein nicht nieder.
„Reiner Vogel“ entspricht dem heb. „Of tahȏr“.

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Betrachtet der Pfau sein Gefieder, lacht er, betrachtet er seine Beine, weint er.

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Zieht man einen Stecken schön an, hat er auch Chen.
„Chen“ (heb.) = Anmut, Lieblichkeit.

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Ein schöner Bart und schöne Peȏth — aber wenig Deȏth.
„Peȏth“ (heb.) = Schläfenlöckchen, gleich dem Bart eine Zierde des Männerantlitzes; „Deoth“ = Verstand, Einsicht.

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Ein „schöner Jüd“ — auf dem Grabstein.
„Schöner Jud“ = angesehene, vornehme Persönlichkeit.

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Verlässt der Rabbiner die Schuhl, darf jeder sich setzen auf seinen Stuhl.
„Schuhl“ = Synagoge.

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Drei Menschen mag Gott nicht leiden: einen Reichen, der stiehlt, einen Armen, der hochmütig ist, und einen Greis, der Schürzen nachläuft.

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So lange der alte König lebt, hat der junge (der Sohn) nichts zu befehlen.

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Reckt einer zu hoch den Kopf, bekommt er einen Klopf.
„Klopf“ = Hieb, Schlag,

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Der Hund bellt — und der Herr fährt seinen Weg.

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Will man wissen, was man gilt, lasse man sich Schidduchim vorschlagen.
„Schidduch“ (heb.) = Partie.

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Glücklich ist, wer seine Welt (sein Leben) in Ehren vollendet.