Praktische Lebensweisheit im jüdischen Sprichworte (I)

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Auch dieser Beitrag der Serie jüdischer Sprichwörter erschien in der Zeitschrift „Ost und West“. Er sammelt Sprichwörter zu Reden und Schweigen, Hören und Sehen…

Die Zeitschrift „Ost und West“ verstand sich als „Illustrierte Monatsschrift für das gesamte Judentum“ und wollte im Kontext der „Jüdischen Renaissance“ dem westjüdischen Publikum die kulturellen Leistungen der sog. „Ostjuden“ vorstellen.

PRAKTISCHE LEBENSWEISHEIT IM JÜDISCHEN SPRICHWORTE

Von B. Hirsch
Ost und West, Heft 5, 1905

I. Reden und Schweigen, Hören und Sehen.

Worte soll man wiegen, nicht zählen.

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Die ganze Welt steht auf der Spitze der Zunge.

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Schlimmer ist eine böse Zunge, als eine böse Hand.

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Leicht zu sagen, schwer zu tragen.

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Was beim Nüchternen auf der Lunge, ist beim Besoffenen auf der Zunge.

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Was ich im Sinne habe, nascht mir die Katze, nicht weg.

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Wer schweigt verspricht sich nicht.

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Je weniger man spricht, desto gesünder.

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Zu wenig Reden schadet zuweilen, zu viel — immer.

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(Solange) das Wort im Munde, bin ich der Herr. — das Wort aus dem Munde, bin ich der Narr.
Das Sprichwort ist im Original gereimt: Hār (mhd.) — Nār.

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Der Klugheit Schutzwehr ist Schweigen — aber Schweigen allein ist noch lange keine Klugheit.
„Der Klugheit Schutzwehr ist Schweigen“. (Aboth III, 13.)

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Schön Schweigen ist schwieriger als schön Reden.

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Wenn der Narr schweigt, hält man ihn auch für einen Klugen.
Spr. 17, 28.

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Was in einem ist, das gibt er von sich.

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Alle Stummen möchten gern viel reden.

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Alle Glieder des Körpers möchten reden — aber nur die Zunge allein stellt man heraus.

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Ein Hieb vergeht — ein Wort besteht.

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Ein Wort gilt soviel wie eine Unterschrift.
Kaufmännische Regel.

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Tut man den Mund nicht auf, fliegt keine Fliege hinein.

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Vom Sagen — wird man nicht tragen (= tragend, schwanger).
Sinn: Vom Reden bekommt man kein Kind.

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Gute Rede bringt gute Antwort.

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Wie’s in das Fass hineinhallt — so hallt es auch wieder hinaus.

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Der Welt kann man den Mund nicht schliessen.

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Mit Gold stopf man den Leuten den Mund

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Geschmadte (verruchte) Welt! Obgleich es . . . wahr ist, denkt sie sich’s aus.

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Ein Herz ist ein Spiegel des andern.

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Herzen erraten sich gegenseitig.

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Das Auge erzählt, was das Herze quält.

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Die Augen sind grösser als der Mund (Hals).

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Wenn die Augen nicht sehen würden — die Hände würden nicht greifen.

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Was deine Augen nicht gesehen, soll dein Mund nicht bestätigen.

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Besser schlecht gesehen, als gut gehört.

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Auf ein Auge ist mehr Verlass, als auf zwei Ohren.

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Mit einem Auge bemerkt der Blinde an dir mehr, als du an ihm mit beiden.

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Ein Gast auf eine Weil‘ — sieht auf eine Meil‘.

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Das Auge darf nicht sehen, was die Hand gibt.
Wohltätigkeitsregel.

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Schicke deine Ohren in die Gassen.

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Die Zunge gleicht bei manchem einer ledernen Deichsel.
Er dreht und wendet sie, wie es ihm beliebt.

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Die Zunge ist ein Lügner — die Feder ist ein Lügner.

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In jedem Traum ist (wenigstens) ein Hundertstel Wahrheit.

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In die Augen kann man hineinschauen, aber nicht ins Herz.

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Selber sich zu loben — passt nicht — aber es schadet nicht. 
Scherzhaft.

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Erbrechen und Besprechen ist ein wohlfeiles Heilmittel.

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Wo keine Worte helfen, greift man zu den Ruten.

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Der Blinde glaubt gern, wenn man ihm versichert, er habe eine schöne Frau.

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Der Blinde bat einen leichten Tod — man braucht ihm die Augen nicht zu schliessen.

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Ein Blinder hört gern allerlei Wünder (Wundergeschichten).

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Wenn der Taube eine Knarre hört, spricht er den Segen über den Donner.
Es ist ein besonderer Segen vorgeschrieben, den man beim Vernehmen des ersten Donners im Sommer spricht.

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Ein Stecken in der Hand hilft mehr, wie die Zunge im Mund.

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Der Verschwiegenste ist — der Magen.

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Ein (böses) Wort ist schlimmer als eine Ohrfeige.

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Ein Wort gleicht einem Pfeil — beide haben grosse Eil.

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Das Aug’ ist so klein — und sieht die ganze Welt.

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Dass deine Ohren hören, was dein Mund spricht!

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Der Schuster spricht vom Leisten, der Bäcker spricht von der Schippe.

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Die Hausfrauen beklatschen ihre Mägde im Salon, die Mägde ihre Hausfrauen in der Küche.

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Wenn die Mägde sich zanken, erfahren die Hausfrauen von den Diebstählen.

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Verläumdung ist das schlimmste Laster.

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Was ein Kind spricht — das hört sich immer gescheit an.

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Der Hals ist keine Fiedel.
Man kann nicht aus ihm jegliche beliebige Melodie herausbekommen.

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Geschwister zu haben hat noch keiner bereut.

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Wenn die Hunde bellen, muss man immer hinausgehen und nachsehen.

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Hunde muss man bellen lassen.

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Der Hund bellt — und der Herr fährt seinen Weg.

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Wenn die Leute lachen — so haben sie über wen und über was zu lachen.

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Einen Brief kann man lesen — einen Brief kann man singen.
Je nach der Stimmung, in der man ihn liest, so lautet er.

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Ist die erste Zeile eines Briefes krumm geschrieben, so taugt der ganze Brief zu nichts.

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Wenn der Zornmütige sich ausgetobt hat, so vergeht sein Zorn.

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Gerät der Mensch einmal in Hitz’ — so hört er nicht den Donner und sieht nicht den Blitz.

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Singt man im Sommer, so weint man im Winter.
Wenn man sich des Sommers nichts für den Winter vorbereitet.

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Mitten im Essen darf man nicht reden.
Vergl. Thaanith 5, b.

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Der Lügner gleicht einem Stummen — beide reden nicht die Wahrheit.

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Eine halbe Wahrheit ist eine ganze Lüge.

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Besser du sprichst: ich weiss es nicht — als dass du Lügen gestraft würdest.

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Die Zunge hat schon manchen an den Galgen gebracht.

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Die Zunge ist des Menschen schlimmster Feind.

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Die Zunge hat keine Knochen — und zerbricht Knochen.
(Kommt in heb. Fassung im „Omer-haschikcha“ vor.

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Dem Freunde gebe man einen schlechten, dem Feind einen guten Rat.
Weil die Leute meist das Gegenteil von dem tan, was man ihnen rät.

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Wo viele Mäden — dort ist viel Reden.
Mäden (mhd : maiden) = Mädchen.

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Weiber haben neun Mass Rede (Geschwätzigkeit).
Vergl. Kidduschin 49, a.

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Wer viele Fragen stellt, bekommt viele Antworten.

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Es tut weh, zu reden, und schweigt man, so platzt einem die Galle.

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Nicht alles, was der Mund spricht, meint das Herz.

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Vom Psalmensagen tut einem der Bauch nicht weh, aber satt kann man davon nicht werden.

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Manches Wort ist nicht so witzig wie wahr.

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Am Sabbat geredt — vier Wochen frei.
Wenn man am Sabbat ein Geschäft abschliesst, so steht es den Parteien vier Wochen lang frei, es rückgängig zu machen; da am Sabbat der Abschluss von Geschäften eigentlich verboten ist, so kommt den an diesem Tage getroffenen Abmachungen keine bindende Kraft zu.

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Der Lohn des Schweigens ist bisweilen grösser als der des Redens.
Vergl. Pesachim 22, b.

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Nur das Schüttere erzählt man, aber das Dichte behält man für sich.
Schütter = dünn. Sinn: die Menschen erzählen nur das Geringere, Nebensächliche. Was sie am tiefsten bewegt verschweigen sie.

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Dem Klugen helfen Worte, dem Narren ist mit Stockstreichen nicht geholfen.

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Jeder Narr ist hochmütig.

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Dem Narren ist alles erlaubt.

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Ein Sprichwort ist ein Wahrwort.

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Ein gojisch Wörtel ist, lehavdil, eine Thorah.
Gojisch Wörtel = bäuerliches Wörtchen, Bauernsprichwort. Lehavdil (heb.) = zum Unterschied, wird gebraucht, um Profanes von Heiligen zu scheiden. Sinn des Sprichwortes: Ein Bauernsprichwort enthält oft eine tiefe Wahrheit, wie ein Wort der Thorah.

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Wer ist ein Held? Wer ein „Gleich-Wörtel“ zurückzuhalten vermag.
Gleich-Wörtel = guter Einfall, treffender Witz, auch Sprichwort. — Scherzhaft nachgebildet dem bekannten Spruch Aboth IV, 1.

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Nichts ist gleicher, als eine schiefe Leiter, und nichts ist schiefer als ein gleiches Wörtel.
Gleich = treffend, wahr, richtig.

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Mit Kleingeld ist man nicht reich, und mit Sprichwörtern ist man nicht klug.