Glück und Schicksal, Leben und Tod in jüdischen Sprichworten

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Der nächste Beitrag der Serie jüdischer Sprichwörter stammt ebenfalls von Binjamin Segel und sammelt jüdische Sprichwörter über Glück, Schicksal, Leben und Tod…

Binjamin Segel wurde 1866 in Rohatyn geboren und wuchs in Galizien auf. Er sammelte ostjüdische Folklore, die er, wie auch im vorliegenden Beitrag, in deutschen, polnischen, hebräischen und jiddischen Publikationen veröffentlichte. Immer wieder widmete er sich auch der sog. Judenfrage und der antisemitischen Verfolgung von Juden. Mit „Die Protokolle der Weisen von Zion kritisch beleuchtet. Eine Erledigung“ (1924) versuchte er erstmals, das antisemitische Werk, das zum Leitfaden alles Verschwörungstheorien werden sollte, zu entkräften. Segel starb 1931.

Ost und West“, die sich als „Illustrierte Monatsschrift für das gesamte Judentum“ verstand und im Kontext der „Jüdischen Renaissance“ dem westjüdischen Publikum die kulturellen Leistungen der sog. „Ostjuden“ vorstellte.

GLÜCK UND SCHICKSAL, LEBEN UND TOD IN JÜDISCHEN SPRICHWORTEN

Von Binjamin Segel
Ost und West, Heft 2, 1904

Gott ist ein Vater, das Glück ist ein Stiefvater.

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Vom Glück zum Unglück ist ein Schritt; vom Unglück zum Glück — ein weiter Weg.

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Glücklich der König, dem das Glück im späten Alter begegnet.

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Besser das Glück sucht mich, als ich suche das Glück.

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Besucht dich das Glück, so reich ihm einen Stuhl.
Sinn: Lad‘ es zum Verweilen ein, da es bald enteilt.

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Das Glück lässt nicht lange mit sich spielen.

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Je später das Fest beginnt, desto länger dauert’s.

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Je mehr geharrt, desto mehr genarrt.

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Gut ist’s zu hoffen, aber schlecht ist’s zu harren.

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Nicht alle Pferde haben gleiches Glück.

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Nicht alle Purim trifft sich ein Wunder.
(Thalmudish.)

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Zum Unglück selber muss man Glück haben.

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Zum Glück braucht man keinen Verstand, aber zum Verstand braucht man Glück.

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Besser ein Ouintchen Glück, als ein Pfund Gold.
(Variante: . . als ein Zentner Verstand.) Quintchen = minimales Gewicht.

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Ist das Masal einem fehl, dann ist sein Dukat nicht gehl.
Masal (heb.) = Glück, Glückstern. Gehl (mhd.: gel) = gelb. Sinn: Wenn das Glück einem nicht hold ist, gilt selbst sein Gold nicht als vollwertig.

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Wem ein Schlimmmasel beschert ist, dem kommt es ins Haus (ungerufen).
Schlimmmasel: (hybride Wortbildung) = schlimmes Masal, Unglück.

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Wer ertrunken werden soll, der ertrinkt auch in einem Löffel Wasser.

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Auch nah’ beim Ufer kann man ertrinken.

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Der grösste Schwimmer ertrinkt schliesslich, der grösste Kletterer bricht schliesslich das Genick. 

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Glücklich ist nicht, wer hat was er begehrt, sondern wer nicht begehrt, was er nicht hat (haben kann). 

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Was du nicht kannst erlangen, möchtest du nimmer verlangen.

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Kann man nicht hinüber, muss man hinunter.

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Macht sich’s nicht, wie ich will, muss ich wollen, wie sich’s macht.

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Kann ich nicht, wie ich will, so sitz ich lieber still.

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Blick’ hinunter, und du erfährst, wie hoch du stehst.

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Es wird nicht hell, bevor es nicht ganz dunkel war.

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Wer die bösen Zeiten nicht überdauern kann, kann die guten nicht erleben.

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An das Gute gewöhnt man sich bald.

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Not bessert den Menschen, Glück verdirbt ihn.

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Wem’s zu gut geht, der läuft aufs Eis tanzen.

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Wem das Leben lieb ist, dem ist die Welt hephker.
Hephker (spätheb.) = herrenloses Gut. Sinn. Wem es zu gut geht, der haut über die Stränge.

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Wem das Glück hold ist, bei dem kälbert auch der Ochse.

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Vor lauter guten Tagen kann einem auch das Herz zerspringen.

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Von fremden Sorgen bekommt man keine grauen Haare.

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Auf fremden Gräbern weint man sich die Augen nicht aus.

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Wer auf der Erde liegt, der kann nicht fallen.

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Was man just benötigt, findet man gerade nicht.

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Die Klugen gucken (sehen zu), wie die Dummen beglücken (Glück haben).

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Wenn es mit einem Menschen abwärts geht, legen sogar die Spinnen an der Wand Zeugnis wider ihn ab.

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Man bete nie, dass die Leiden ein Ende nehmen, denn mit den Leiden nimmt auch das Leben ein Ende.

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Die Leiden — des Nächsten mit Ergebenheit zu tragen ist gar leicht.

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Mitgift und Geerbtes haben kein Glück.
An dem Besitz, den man als Mitgift oder Erb­teil erhält und nicht selber erworben hat, haftet kein Glück.

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Schlimmasel, wohin gehst du? Zum armen Mann.

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Besser der Feind erlebt mein Glück, als ich sein Unglück.

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Gerade mitten im Tanze platzte die Saite.

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Just wenn man sich auf ein gutes Mahl freut, bringt der Teufel einen Gast.

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Alle sehen, wenn ich lache; keiner sieht, wenn ich weine.

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Eine Unglücksbotschaft hat Flügel.

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Keiner weiss, wes der kommende Tag ist.

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O Gott, erhebe mich nicht und stürze mich nicht.

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Eltern können ihren Kindern alles geben, nur nicht das Glück.

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Nichts ist so schlimm, dass nicht was Gutes daraus erwachsen könnte.

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Grosses Glück altert selten.

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Je dümmer das Stück, je grösser sein Glück.
Stück: verächtlich von einem dummen Menschen.

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Jage nach dem Glück, und du brichst das Genick.

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Glücklich allein, wer in Ehren ins Grab steigt.

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Das Gute sowie das Schlimme währt nicht ewig. 

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Wenn Gott alle Bürden, die die Menschen zu schleppen haben, nebeneinander an die Wand aufhängen wollte, jeder Mensch würde hastig nach seiner eigenen greifen.

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Hölle, sowie Himmel kann man schon auf dieser Welt haben.

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Wer sich an dem Glück des Nächsten er­freut, erlebt sein eigenes.

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Es lacht sich von selber, es weint sich von selber.

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Parnassah (gibt Gott) laut Verdienst des Mannes, Nachkommenschaft laut Verdienst der Frau.

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Wem das Glück lächelt, der wohnt fern von der Brandstätte und nahe beim Hochzeitsfest.

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Wen ein Unglück treffen soll, den triffts auch auf geradem Wege.

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Glücklich verlebte Zeiten melden sich im späten Alter.
Sinn: Die Erinnerung an glückliche Zeiten verklärt noch das späte Alter.

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Krankheit und Unglück kommen zentner­weise und gehen lotweise.

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Unglücklich fühlt sich der Mensch nur so lange, bis die Leiden den richtigen Platz gefunden haben.
Bis er sich an sie gewöhnt hat.

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Jeder Mensch lebt nur beim Nächsten zu­frieden.

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Der Goj hat’s Glück.

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Geht’s dem Menschen gut. vergisst er Gott.

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Beim Nächsten ist (finden wir) alles besser als bei uns.

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Der Glückspilz wird mit einem goldenen Löffelchen im Munde geboren.

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Wem das Glück tut spielen, der trifft auch ohne zu zielen.

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Verstand ohne Glück, ist wie ein unge­schliffener Edelstein.

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Was nützt Glück ohne (Gottes) Segen?

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Leben kann nur Gott geben, den Tod nimmt man sich (oft) selber.

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Wäre nicht der Tod, das Leben hätte nicht den geringsten Wert.

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Sagt man dir „gestorben“ — glaube!
Vergl. Gittin 30 b.

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Ueberflüssig (ist es) zu beten um Tod und um Regen.

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Wovon immer man spricht, stets kommt man auf den Tod hinaus.

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Denkt man an den Tod, so ist man des Lebens nicht sicher.

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Vor dem Tod kann man sich nicht verstecken.

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Der Tod erlöst von allen Leiden.

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Der Tod ist der beste Arzt.

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Vor dem Tod und vor dem Dalles kann man sich nicht versichern.

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Der Tod schacht’ und bleibt immer gerecht.

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Der Todesengel ist nicht wählerisch.

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Der Todesengel findet immer eine Ausrede.

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Der Todesengel fragt nicht danach, ob der Tote auch Thachrichim (Leichengewänder) hat.

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Der Tod (des Feindes) ist keine Rache — nur eine Bequemlichkeit.
Weil wir ja alle sterben müssen.

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So mancher lebt nur noch aus Neugierde.

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Den einen gelüstet’s zu leben, der andere muss leben.

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Vor Vergnügen lebt man nicht, aus Kummer stirbt man nicht.

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Vor Jugend lebt man nicht, vor Alter stirbt man nicht.

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Der Junge kann sterben, der Alte muss sterben.

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Manche alte Scherbe überlebt einen neuen Topf.

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Manch altes Ross trägt auf dem Rücken (als Decke) die Haut eines jungen Füllens.
Vergl. Syschedrin 52a: Genesis Rabbah 67; Leviticus Rabbah 20.

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Eine Stunde in Gan-Eden ist besser als das ganze Leben hienieden.
Vergleiche Aboth IV, 57.

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Eine Minute gelebt ist auch gelebt.

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Immer besser als zu sterben!

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Lieber zehnmal verdorben, als einmal ge­storben.

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Das ärmste Leben ist besser als der reichste Tod.

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Zu sterben versäumt man niemals.

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Nach dem Tode hilft keine Theschuvah.
Theschuvah = Busse.

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Aut die Toten ist kein Verlass.

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Der Mensch stirbt nur sich selber weg.

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Was die Erde einmal zugedeckt, muss schliess­lich vom Menschenherzen vergessen werden.

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Des Menschen Leben vergeht wie ein Traum, und wenn er erwacht, liegt er auf einmal in der Erde.

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Dieses ganze Leben ist nur ein Traum: — aber besser ein schöner, als ein hässlicher Traum.

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Möchte der Mensch nur solange leben, als er sich selber ernähren kann.

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Und sieht der Mensch auch das Grab schon offen, er höre nimmer auf zu hoffen.
Vergleiche Berachoth 8a. Jerusch. Berachoth IX, 1.

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Solange der Mensch lebt, ist ihm die Welt zu klein, und wenn er tot ist, hat er an den vier Ellen des Grabes genug.

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Im Sterben schliesst der Mensch die Augen und öffnet die Hände.
Seine Begierden erlöschen und seine Macht sinkt.

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Was gäbe es Köstlicheres in der Welt als den Schlaf, wenn nur die bösen Träume nicht wären!

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Soeben gelebt, schon gestorben! Soeben ge­storben, schon begraben!

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Vor der Zeit stirbt keiner.

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Erde ist überall, man kann überall begraben werden.

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Könnte man sich vom Tode loskaufen, die armen Leute hätten einen schönen Groschen.
Loskaufen: durch Almosengeben.

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„Aus dem Staube kommen wir, zum Staube kehren wir zurück“ — unterwegs jedoch schmeckt ein Gläschen ganz gut.

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Jeder weiss, dass er sterben wird, aber keiner glaubt es.

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Wenn der Mensch schon in der Gesissah liegt, glaubt er noch immer nicht, dass er stirbt.
Gesissah = Todesröcheln, letzte Züge.

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Einem Verstorbenen soll man stets die Wahr­heit nachsagen.

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Auf dem Grabstein sind alle Leute schön.

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Wer ohne Rechnung lebt, stirbt ohne Widdu.
Widdu (heb.: widduj) = Sündenbekenotnis vor dem Tode, Busse.

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Eine langwierige Krankheit ist ein sicherer Tod.

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Einen Toten trägt man (vom Friedhof) nicht zurück.

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Besser ein schöner Tod, als ein hässliches Leben.

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Leben ist leicht, Sterben ist schwer.