Das Antisemitismus-Problem des Jeremy Corbyn

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Ein Kommentar zur Kontroverse um den Labour-Vorsitzenden…

Von Armin Pfahl-Traughber

Jeremy Corbyn, der Vorsitzende der britischen Labour-Partei, hat ein Antisemitismus-Problem. Doch worin besteht es genau? Ist er selbst Antisemit? Engagiert er sich zu wenig gegen Antisemitismus? Ist er ein Israelfeind? Oder handelt es sich um eine politische Kampagne gegen ihn? Diese Deutungen kursieren nicht nur in Großbritannien, blickt man auf die öffentliche Kontroverse zum Thema. Anlässe dazu gaben und geben immer wieder diverse Skandale, die mit Corbyns persönlichen Kontakten und Entwicklungen in der Labour-Partei zusammenhängen. Dabei lässt sich eine polarisierte Debatte wahrnehmen, wobei jeweils die Eckpunkte des Meinungsspektrums eingenommen werden. An einem Blick auf die Positionen der anderen Seite mangelt es. Der jeweilige Diskurs wird nur bezogen auf die eigene Sichtweise geführt. Differenzierungen gibt es kaum, die Kategorien werden durcheinander geworfen. Demgegenüber soll hier folgende Deutung stehen: Corbyn ist kein Antisemit, aber ein Israelfeind – und das ist auch für sich allein ein Problem!

Zunächst zum erstgenannten Aspekt: Ist Corbyn ein Antisemit? Antisemitismus meint Feindschaft gegen Juden als Juden. Eine derartige Auffassung lässt sich für ihn aber nicht nachweisen. Es gibt sogar eine kontinuierlich bekundete Gegenposition, denn Corbyn distanzierte sich immer wieder öffentlich von der Judenfeindschaft. Doch hier bedarf es auch eines genauen Blicks auf die eingenommene Position. Es blieb bei seinen Bekundungen unklar, was er genau unter Antisemitismus verstand. Für Corbyn gab es diesen offenbar nur bei Rassisten und Rechtsextremisten. Dass es Judenfeindschaft auch bei Linken oder Muslimen geben könnte, war und ist außerhalb seines Vorstellungsvermögens. Und Antisemitismus scheint sich für ihn nur in Aversionen gegen einzelne Juden, aber nicht gegenüber dem Staat Israel ausdrücken zu können. Diese Einseitigkeit erklärt das fehlende Problembewusstsein und die mangelnde Sensibilität, die bei seinen bedenklichen Kontakten und Kooperationen vor wie nach seiner Wahl zum Vorsitzenden deutlich wurden.

Dazu muss man aber etwas zu Corbyns politischer Entwicklung wissen: Er ist ein typischer Linker mit einer 1970er Jahre-Sozialisation, was auch und gerade für außenpolitische Fragen gilt. Daher nahm er die seinerzeit kursierende „antiimperialistische“ Grundhaltung ein, was bedeutet, dass man sich auf die Seite der von westlichen Staaten angeblich oder tatsächlich Unterdrückten stellte. Es entstand zugunsten von „Befreiungsbewegungen“ ein dualistisches „Gut“-Böse“- und „Schwarz-Weiß“-Weltbild. Dabei fanden weder Interesse, dass die gemeinten Akteure bedenkliche Auffassungen vertraten, brutale Gewalttaten durchführten, menschenrechtsfeindliche Handlungen begingen oder diktatorische Systeme verankerten. So deutete Corbyn, aber auch mehrheitlich die politische Linke den Nahost-Konflikt. Israel galt als Täter, die Palästinenser als Opfer. Demgemäß positionierte man sich auf der einen, scheinbar richtigen Seite. Dieser ausgeprägte „Antiimperialismus“ schlug dann mitunter auch in einen israelfeindlichen Antisemitismus um.

Der Antisemitismusvorwurf gegen Corbyn bezieht sich denn auch auf solche Kontexte und Verbindungen: Er nahm an Erinnerungsfeiern für ein Massaker an Palästinensern teil, das von einem Holocaust-Leugner durchgeführt wurde, was er angeblich nicht gewusst habe. Er plädierte für die Umbenennung des Holocaust-Erinnerungstages in einen Völkermord-Erinnerungstag, solle doch allen Opfern gedacht werden, ohne die damit einhergehenden Sensibilitäten zu beachten. Er lud einen islamistischen Agitator zu einer Solidaritätskonferenz ins Unterhaus ein, der antisemitische Ritualmordvorwürfe und Verschwörungsideologien propagierte, wovon er aber keine Kenntnis gehabt habe. Er solidarisierte sich mit einem „antizionistischen“ Vikar, der antiisraelische Konspirationsvorstellungen verbreitete, was für ihn bei den verbreiteten Links ein technisches Versehen war. Er protestierte gegen die Entfernung eines Gemäldes, das als Juden gekennzeichnete Bankiers bei der Ausbeutung von Schwarzen zeigte, welches er im Nachhinein nicht genauer betrachtet haben wollte.

Blickt man auf diese und andere Fälle, so nahm Corbyn danach eine Distanzierung vor. Es kann sich hier auch um Fehler, Unkenntnisse und Versehen gehandelt haben. Doch die Fülle des Gemeinten macht deutlich, dass es Corbyn zu all dem an einer kritischen Einstellung mangelte. Dies galt und gilt noch für andere Kontakte: So sprach er einmal von den „Freunden“ von der Hamas und Hizb‘ Allah, wobei er dies angesichts späterer Einwände angeblich nur im Sinne von „Gesprächspartnern“ gemeint habe. Oder er beteiligte sich an einer Kranzniederlegung für PLO-Funktionäre, angeblich ohne zu wissen, dass einige von ihnen mit für das Olympia-Massaker von 1972 verantwortlich waren. Er nahm in Katar an einer Konferenz teil und saß dort neben Hamas-Funktionären auf dem Podium, seien diese doch für ihn primär Gesprächspartner gewesen. Die dabei bekundete Dialogbereitschaft brachte er indessen nicht israelischen Organisationen gegenüber auf, was denn auch für Corbyn in Kombination miteinander für eine klar israelfeindliche Position steht.

Ganz bewusst wird hier von einer feindlichen und nicht nur von einer kritischen Einstellung gesprochen. Denn es lässt sich bei Corbyn keine differenzierte Einschätzung gegenüber Israel konstatieren, wobei eine menschenrechtlich motivierte Kritik nicht nur gegen dessen Regierung, sondern auch gegenüber den Palästinenserorganisationen vorgetragen werden würde. Bei Corbyn findet sich einerseits eine Anklage gegenüber Israel, andererseits ein  Schweigen gegenüber der Hamas. Auch wenn hier der Antiimperialismus und nicht der Antisemitismus den Grund liefert, handelt es sich aus menschenrechtlicher Perspektive um ein Problem. Denn bekanntlich halten sich die genannten Gegner Israels in einem weitaus größeren Maße nicht an damit einhergehende Standards. Es kann hier noch nicht einmal von einer nötigen gleichrangigen Distanz gesprochen werden, geht doch die Hamas weitaus brutaler als Israel gegen die Palästinensermehrheit vor. Bei Corbyn erfolgt denn auch eine Distanzierung von der Hamas nur auf Nachfrage, nicht als Position im Selbstverständnis.

Gleichwohl gibt es für einen Antisemitismus – verstanden als Feindschaft gegen Juden als Juden – bei ihm keine Belege. Für Corbyn handelt es sich angesichts von fehlendem Engagement erkennbar um ein Nicht-Thema, das er entgegen anderslautender Bekundungen auch als Labour-Vorsitzender nicht wirklich angeht. Die von ihm selbst initiierte Charkabarti-Untersuchung zum Thema veranschaulichte dies, entstand doch der gemeinte Bericht in viel zu kurzer Zeit und arbeitete noch nicht einmal die dafür relevanten Skandale näher auf. Ähnlich verhält es sich mit anderen Fällen, wo einschlägige Ereignisse von Mitgliedern an die Parteiführung gemeldet, diese aber nicht engagiert genug einer kritischen Untersuchung ausgesetzt wurden. Damit hat man es mit fehlender Aufmerksamkeit für die Judenfeindschaft bei Labour zu tun. Diese besondere Einstellung und die erwähnte Israelfeindlichkeit bilden denn auch das eigentliche Problem, was Corbyn um der Glaubwürdigkeit für seine bekundeten anti-antisemitischen Grundpositionen konsequenter angehen müsste.

Bild oben: Rt Hon Jeremy Corbyn, Leader of the Labour Party, UK Outlining Labour’s Defence and Foreign Policy Priorities, 12 May 2017, (c) Chatham House, London