Wenn das Geld nicht mehr zum Leben reicht

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Immer mehr Senioren in Israel leben unterhalb der Armutsgrenze. Weil die Rente oft nicht einmal für das Existenzminimum reicht, müssen Familienangehörige oder Hilfsorganisationen einspringen. Doch im aktuellen Wahlkampf war das kein Thema…

Von Ralf Balke

Inhalte verzweifelt gesucht! Auf diese Formel ließe sich der gerade zu Ende gegangene Wahlkampf in Israel bringen. Denn obwohl es – angefangen vom Umgang mit der Bedrohung aus dem Gazastreifen, über die Frage, was künftig mit dem Westjordanland geschehen soll, bis hin zu der Tatsache, dass Wohnraum für die meisten Israelis langsam unerschwinglich geworden ist – an Themen gewiss nicht mangelte, waren die Kampagnen der Parteien fast ausschließlich darauf ausgerichtet, ihre jeweiligen Spitzenkandidaten in den Vordergrund zu rücken. Und wenn es um die eigentliche Wahlentscheidung geht, dann rangiert in Israel traditionell sowieso die Sicherheitspolitik ganz weit oben auf der Agenda. Wirtschaftliche oder soziale Themen spielen dagegen eine deutlich geringere Rolle – in diesem Punkt unterscheidet sich der jüdische Staat in vielerlei Hinsicht von anderen westlichen Ländern. Dabei sollten bei den Verantwortlichen in der Politik durchaus die Alarmglocken läuten, wenn Israel trotz hervorragender makroökonomischer Daten in den Statistiken der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) regelmäßig die Spitzenplätze in den Bereichen ungerechnete Einkommensverteilung und Armut einnimmt.

Seit Jahren bereits zählt Israel zu den Staaten mit der höchsten Wirtschaftsdynamik unter den OECD-Mitglieder. So betrug das Wachstum des Bruttoinlandsproduktes (BIP) 2018 satte 3,6 Prozent. Und auch für dieses Jahr rechnen die Experten mit einem Plus von 3,5 Prozent. Die Arbeitslosenrate bewegt sich bei rund vier Prozent auf rekordverdächtig niedrigem Niveau. Ministerpräsident Benjamin Netanyahu spricht deshalb auch gerne von der „siegreichen Wirtschaft“ des Landes und schmückte sich mit den Lorbeeren, das Land ökonomisch voran gebracht zu haben. Weniger Optimismus dagegen verbreiten die Zahlen, die zuletzt vom HaMossad LeBituach Leumi, der nationalen Versicherungsbehörde, bekannt gegeben wurden. So lebten im Jahr 2017 von den zu diesem Zeitpunkt knapp 8,8 Millionen Israelis 1.780.500 unterhalb der Armutsgrenze. Darunter befanden sich 814.800 Kinder. Die positive Nachricht: Obwohl es insgesamt 47.900 Kinder mehr gab als noch 2016, verringerte sich erstmals seit Jahren die Gesamtzahl derer, die in Not leben, und zwar um 23.700. Trotzdem ist sie im OECD-Vergleich erschreckend hoch. Israel rangiert damit auf Platz zwei hinter der Türkei – schließlich leben immerhin 29,6 Prozent aller Kinder in Israel in prekären Verhältnissen. „Israel trägt den zweifelhaften Titel der Armuts-Champion in der westlichen Welt zu sein“, so der Kommentar von Itzik Shmuli, Abgeordneter der Arbeiterpartei, zu den Zahlen.

Generell ist das Bild alles andere rosig. Zwar hat sich der Anteil der Israelis, die zu der Mittelschicht gezählt werden, von 47,9 Prozent auf 53,4 Prozent erhöht. Doch die ohnehin dramatische Altersarmut legte weiter zu: Statt 20,8 Prozent wie noch 2016, zählen nun 21,8 Prozent aller Senioren zur Gruppe der Armen. Zudem wird sich das Problem weiter verschärfen, weil Israels Gesellschaft unabhängig von der Tatsache, dass die Geburtenrate mit rund drei Kindern pro Frau das Doppelte des OECD-Durchschnitts beträgt, zunehmend älter wird. Aktuell gibt es in Israel rund eine Million Menschen in der Altersgruppe von 65 plus. Diese wird bis zum Jahr 2015 auf knapp 1,7 Millionen anwachsen. Auch zählt die Lebenserwartung mit über 80,3 Jahren bei Männern und 83,9 Jahren bei Frauen zu den höchsten in der Welt. Zudem ist eine vergleichsweise große Zahl an Personen in Israel, vor allem aus dem Kreis der Haredim und der arabischen Israelis, nie einem Beschäftigungsverhältnis nachgegangen, was ebenfalls zu dem Problem beiträgt. Als eine der ersten Maßnahmen wurde wie in Deutschland daher das Renteneintrittsalter angehoben. Seit 2004 können Männer nicht mehr mit 65 Jahren in den Ruhestand gehen, sondern erst mit 67. Für Frauen liegt es aktuell bei 62 Jahren. Ein System der Frühverrentung ist dagegen unbekannt. Auch gehen 19,4 Prozent aller Israelis bis zum Alter von 70 Jahren einem Job nach, weil nicht wenige von ihnen ansonsten nicht über die Runden kämen oder nicht aufhören wollen, zu arbeiten.

Heute leben laut eines aktuellen Reports der sozialen Hilfsorganisation „Latet“, zu Deutsch „Geben“, bereits mindestens 175.000 ältere Menschen unterhalb der offiziellen Armutsgrenze. Angesichts einer monatlichen gesetzlichen Mindestrente von aktuell 1.554 Schekel, umgerechnet ca. 380 Euro, für eine Einzelperson unter 80 Jahren sowie 1.641 Schekel, umgerechnet ca. 400 Euro, ab dem 80. Lebensjahr sowie 2.335 Schekel, umgerechnet ca. 570 Euro, für Paare unter 80 Jahren und 2.422 Schekel, umgerechnet ca. 590 Euro, für Paare ab dem 80. Lebensjahr, kann man sich sehr gut vorstellen, wie prekär die Lage für viele Senioren sein kann. Zwar hatte 2017 die Regierung eine sogenannte „Heizungszulage“ in Höhe von jährlich 562 Schekel, umgerechnet ca. 140 Euro, für ungefähr 247.000 Personen beschlossen, weil Medienberichte über frierende alte Menschen im israelischen Winter für Entsetzen gesorgt hatten. Doch eine weitere Erhöhung der Renten lehnten die Verantwortlichen in der gerade abgelaufenen Legislaturperiode ab. Und angesichts der horrenden Lebenshaltungskosten in Israel, die denen in der Schweiz nicht ganz unähnlich sind, spitzt sich die Lage für viele Israelis noch weiter zu. Dazu ein Bericht der OECD von 2016, der folgendes Fazit zieht: „Armut ist in Israel insbesondere deshalb unter älteren Menschen verbreitet, weil die Mindestrenten so niedrig sind. Um dem entgegenzuwirken sollten – ohne Personen davon abzuhalten, weiterhin am Erwerbsleben teilzuhaben – die gesetzlichen Mindestrenten deutlich erhöht werden.“

Zwar gibt es neben der gesetzlichen Rentenversicherung in Israel ebenfalls die betriebliche Altersvorsorge als zweite Säule, die seit 2008 verpflichtend ist. Jedoch können Personen nur davon profitieren, wenn sie eine Erwerbsbiographie hatten, was bei vielen Haredim, israelischen Arabern und zahlreichen Einwanderern, aber vor allem bei Frauen, nicht immer oder nur phasenweise der Fall war. Auch eine private Altersvorsorge kann sich nicht jeder leisten. Und so entspricht die Zahl derer, die als arm gelten, ziemlich genau dem Prozentsatz der Israelis, der eben nicht die Mittel dafür aufzubringen vermochte, in entsprechende private Vorsorgemodelle einzuzahlen. Soziale Hilfsorganisationen wie „Latet“ beobachten, dass viele derer, die nur die Mindestrente erhalten und mit Glück vielleicht noch von ihren Kindern finanziell unterstützt werden, sich nicht einmal das Lebensnotwendigste mehr leisten können. 88 Prozent der Empfänger ihrer Zuwendungen, so „Latet“, können sich keinerlei Pflegemaßnahmen zuhause bezahlen, zwei Drittel fehlen die finanziellen Mittel für ihre Medikamente, weshalb sie alle bei den Nahrungsmitteln oder der Bekleidung sparen müssen. Und weil das Geld hinten und vorne nicht reicht, können sie sich ganz banale Dinge wie einen Besuch im Café nicht mehr gönnen, was wiederum die sozialen Kontakte beeinträchtig. Über 80 Prozent aller von „Latet“ befragten Senioren gaben an, sich einsam und isoliert zu fühlen.

Problematisch finden die NGOs ebenfalls die Definition der Armutsgrenze. Laut der nationalen Versicherungsbehörde gelten Personen als arm, wenn sie ein monatliches Einkommen von derzeit weniger als 3.423 Schekel, umgerechnet ca. 840 Euro, zu Verfügung haben. Bei Paaren gilt eine Grenze von 5,477 Schekel, umgerechnet ca. 1.350 Euro, und bei einer Familie mit drei Kindern sind es 10.270 Schekel, umgerechnet ca. 2.520 Euro. Diese Richtwerte werden immer wieder leicht nach oben korrigiert und entsprechen ziemlich genau der Hälfte eines Durchschnittseinkommen, die dann an den jeweiligen Personenkreis angepasst werden. Nicht nur „Latet“ findet, dass die Kriterien für die Definition der Armutsgrenze an den Realitäten vieler Senioren in Israel aufgrund der exorbitant hohen Lebenshaltungskosten für zahlreiche Dinge des täglichen Bedarfs vorbei gehen. Sozialexperten reden daher von mindestens 300.000 älteren Menschen, die eigentlich als arm gelten müssen. Sie haben einen eigenen Index, nachdem sie bewerten, ob sich jemand in prekären Verhältnissen befindet oder nicht. Dabei werden Ausgaben für Medikamente und Lebensmittel deutlich stärker berücksichtigt.

Laut „Latet“ müsste unabhängig vom Alter sowieso eine halbe Million Israelis mehr in den Statistiken als arm bezeichnet werden als bisher. Das Sozialforschungsinstitut Adva Center sieht das so ähnlich und spricht von der Gruppe der „Beinahe-Armen“, also jenen Personen, deren Einkünfte bis zu 25 Prozent über der offiziellen Armutsgrenze liegen. „Wir haben herausgefunden, dass die Unterschiede zwischen den offiziell als arm Geltenden und jenen, die sich in diesem Spektrum darüber bewegen, sehr minimal waren“, erklärt sein Direktor Dr. Shlomo Swirksi. Er plädiert gleichfalls für eine stärkere Unterstützung sowohl der Armen als auch der „Beinahe-Armen“. Doch der Staat scheint sich in vielerlei Hinsicht mit dem Phänomen der Altersarmut irgendwie abgefunden zu haben und überlässt das Helfen gerne anderen. Und weil gerade Pessach vor der Tür steht, lässt sich das aktuell sehr gut beobachten. Seit Tagen bereits wirbt das gesamte Who’s who der Hilfsorganisationen in Israel im Internet, den sozialen Medien oder per Telefonkampagnen mit dem Verweis auf die erschreckenden Zahlen in den Statistiken um Spenden, damit auch die wachsende Gruppe der in prekären Verhältnissen lebenden Senioren zu den Feiertagen halbwegs versorgt wird.