„Führer im Kampfe für die Interessen des Judentums“

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Der nächste Text, den wir in Kooperation mit dem Lexikus Verlag vorstellen, ist eine Festschrift für den Historiker Martin Philippson der Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaft des Judentums…

Philippson wurde 1846 in Magdeburg als Sohn einer Rabbinerfamilie geboren. Er studierte Geschichte und habilitierte sich 1871. Nachdem ihm in Deutschland als Jude ein Lehrstuhl verwehrt blieb, folgte er 1878 einem Ruf an die Freie Universität Brüssel. Zwei Jahre später wurde er als Rektor der Universität gewählt. Interne Spannungen und die Ablehnung der Studentenschaft ließen ihn diesen Posten aufgeben. Philippson zog sich ganz aus der Lehrtätigkeit zurück, ging nach Berlin und arbeitet dort als freier Historiker. 1902 half er mit, die „Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaft des Judentums“ zu gründen.

Die Gesellschaft gab 1916 zu Philippsons 70. Geburtstag die vorliegende Festschrift heraus. Martin Philippson verstarb im selben Jahr in Berlin.

Die Festschrift enthält unterschiedlichste Beiträge von der „Verfolgung der Juden in Mainz im Jahre 1012“, über „Die Anfänge allgemeiner Bildung unter den deutschen Juden vor Mendelssohn“ bis „Zur Handelsbedeutung der der Juden in Deutschland vor Beginn des Städtewesens“.

Das Vorwort berichtet u.a. von Philippsons Verdiensten um die Wissenschaft des Judentums, aber auch als Präsident des Deutsch-Israelitischen Gemeindebundes.

Zur Festschrift bei Lexikus

Einleitung

Von Jacob Guttmann, Breslau.

Die Huldigungsgabe, die wir dem hochverehrten Vorsitzenden unserer Gesellschaft zur Feier seines siebzigsten Geburtstag darbringen, enthält eine Reihe von Abhandlungen, die hauptsächlich dar Geschichte der Juden in Deutschland gewidmet sind. Wir haben geglaubt, dass diese Festschrift, indem wir ihr einen solchen Inhalt gaben, besonders geeignet sei, die Wesensart und die Lebensarbeit unseres Jubilars zu kennzeichnen. Als hervorragender Geschichtsschreiber, als warmherziger deutscher Patriot und als bekenntnistreuer Jude steht er vor uns da, hat er eine Wirksamkeit entfaltet, auf die er bei aller Bescheidenheit, die ihn auszeichnet, mit inniger Genugtuung zurückblicken darf und die uns, die große Schar seiner Freunde und Verehrer, mit Stolz erfüllt und zu tiefster Dankbarkeit verpflichtet.

Was Martin Philippson als Historiker, als tiefgründiger und weitblickender Forscher und als meisterhafter Darsteller auf den verschiedensten Gebieten der Geschichtswissenschaft geleistet hat, das zu würdigen, ist hier nicht der Ort und dazu fehlt mir als dem Nichtfachmann auch die Berechtigung. Aber auch in seinen wissenschaftlichen Arbeiten tritt überall das Bild einer edlen, von wahrhaft idealem Geist füllten Persönlichkeit, eines in sich gefestigten und geschlossenen Charakters entgegen. Der Historiker darf allerdings nicht auf der Zinne einer Partei stehen und die Dinge von einem einseitigen Gesichtspunkte aus beurteilen, sondern er soll von einer höheren Warte aus die geschichtlichen Erscheinungen in ihrem Zusammenhang überschauen und ihnen in ihrer Eigenart gerecht zu werden suchen. Aber bei allem Streben nach Objektivität in der Beurteilung und Darstellung der Personen und Ereignisse kann er doch selber nicht gewissermaßen in der Luft schweben und auf die Geltendmachung eines eigenen Standpunkts Verzicht leisten. So verleugnet Martin Philippson auch als Historiker niemals seine freiheitliche Gesinnung, seinen echtdeutschen und zugleich echtjüdischen Glauben an die Macht der sittlichen Ideale, an einen trotz aller Irrungen und Hemmnisse sich vollziehenden Fortschritt im Entwicklungsgang der Menschheit. In dieser Zeit des heiligen Kampfes, den unser deutsches Volk unter Preußens Führung gegen eine Welt von Feinden führt, dürfen wir wohl noch besonders auf seinen unerschütterlichen Glauben an den trotz aller zeitweilig eingetretenen Trübungen unverrückbar seinem Ziele zustrebenden deutschen Beruf Preußens hinweisen, wie er in seiner Geschichte des preußischen Staatswesens seit dem Tode Friedrichs des Großen und namentlich in dem Werke über den Großen Kurfürsten zum Ausdruck kommt, und auf das schöne Lebensbild, das er von der leuchtenden, aber auch einem so tragischen Schicksal erlegenen Idealgestalt unseres unvergesslichen Kaisers Friedrich III. entworfen hat.

Zum Führer im Kampfe für die Interessen des Judentums war unser Jubilar schon durch seine Abkunft berufen. Wir dürfen auf ihn das Goethesche Wort anwenden:

„Wohl dem, der seiner Väter gern gedenkt,
Der froh von ihren Taten, ihrer Größe
Den Hörer unterhält und still sich freuend
Ans Ende dieser schönen Reihe sich
Geschlossen sieht!“

Einer seiner Ahnen war der berühmte Frankfurter Rabbiner Jacob Josua Heschel, der Verfasser des in der rabbinischen Literatur hochgeschätzten Werkes „Pne Jehoschua“, dessen Andenken der Großvater unseres Jubilars, der verdienstvolle Lehrer an der Franzschule in Dessau, Moses Philippson, noch auf dem Sterbelager anrief, um in frommer Ergebung, des großen Ahnen würdig, nach einem nur kurzen Erdenwallen von hinnen zu scheiden. An seinem Vater Ludwig Philippson hatte unser Jubilar ein leuchtendes Vorbild hingebender und opferfreudiger Wirksamkeit im Dienste des Judentums. Länger als ein halbes Jahrhundert war Ludwig Philippson der unermüdliche, wegen seiner unvergleichlichen Verdienste von allen Parteien gleich hoch geschätzte Sachwalter nicht nur der deutschen Juden, sondern der Judenheit aller Länder, ist er mit seinem reichen Geist, mit seiner ungewöhnlichen schriftstellerischen Begabung, mit seinem edlen Mannesmut nach jeder Richtung bin für seine Glaubensgemeinschaft eingetreten.

Martin Philippson hat sich seiner Ahnen und eines solchen Vater würdig erwiesen. Ein fester und aufrechter Mann hat er mit seinem Bekenntnis zum Judentum niemals zurückgehalten, ist er unter Preisgebung seiner persönlichen Interessen für die Ehre und Würde des Judentums in die Schranken getreten. Nachdem er um seiner deutschen Gesinnung willen von seiner an der Brüsseler Universität mit großen Erfolg ungeübten Lehrtätigkeit zurückgetreten und in sein Vaterland zur war, hat er seine reiche Kraft und eine kostbare Zeit neben seiner wissenschaftlichen Arbeit den Angelegenheiten des Judentums gewidmet. Keinem Rufe, der an ihn erging, hat er sich versagt; stete stand er in der vordersten Reihe, wo es galt, die Sache des Judentums nach außenhin zu vertreten, im Inneren zur Hebung und Förderung des Judentums beantragen. Was im letzten Menschenalter nach dieser Richtung hin geschehen ist, dazu hat er vielfach die Anregung gegeben, das ist zum großen Teil unter seiner tatkräftigen Leitung zur Ausführung gebracht worden. Er war der berufene Führer, weil sich ihm alle Mitwirkenden freudig unterordneten in Anerkennung nicht nur seiner geistigen Überlegenheit, sondern auch der edlen Absichten, die ihn beseelten, der Vornehmheit seines Wesens, die in all seinem Tun und Handeln zum Ausdruck kam. Bei aller Festigkeit und Entschiedenheit, mit der er seinen Standpunkt vertritt, besitzt er doch das den echten Historiker auch in der Behandlung der Gegenwartsfragen kennzeichnende Verständnis für den Standpunkt des Gegners, ohne das ein Zusammenwirken der Angehörigen verschiedener Parteien zu gemeinsamen Zielen unmöglich ist. So hat er als langjähriger Leiter des Deutsch-Israelitischen Gemeindebundes, bei dessen Begründung und Ausgestaltung schon sein Vater in hervorragender Weise mitgewirkt hatte, eine von dem Vertrauen der ganzen deutschen Judenheit getragene Tätigkeit entfaltet, durch die es ihm gelungen ist, den Umfang dieser segensreichen Vereinigung bedeutend zu erweitern, ihr ganz neue Arbeitsgebiete zu erschließen und sie zu einem Ansehen emporzuheben, das sie immer mehr zum Mittelpunkt aller auf Hebung und Kräftigung der jüdischen Gemeinden gerichteten Bestrebungen gemacht hat. Auch in den heftigen Kämpfen, die den letzten Jahren innerhalb des Gemeindebundes ausgefochten wurden, hat es niemand gewagt, seine Persönlichkeit anzutasten, hat er es verstanden, durch seine vornehme Ruhe, durch seine jedem Parteifanatismus abholde Mäßigung ausgleichend und versöhnend einzuwirken und die Gefahr einer verhängnisvollen Spaltung abzuwenden.

Zu ganz besonderem Danke aber ist unsere Gesellschaft dem hochverehrten Jubilar verpflichtet. Sie ist wesentlich seine Schöpfung. Er hat sie begründet, hat sie bis auf den heutigen Tag mit nie ermattender Tatkraft geleitet, hat ihr die Ziele gesteckt, die sie zu verfolgen hat, und hat ihr durch seine Werbetätigkeit, besonders indem er die Teilnahme seines hochherzigen Bruders, des Herrn Franz Philippson in Brüssel, für sie zu gewinnen wusste, die Mittel verschafft, deren sie zu Erfüllung der ihr gestellten Aufgaben bedarf. Er hat sich dadurch ein unvergängliches Verdienst um das Judentum erworben. Die jüdische Wissenschaft, deren Pflege und Förderung in früheren Tagen als eine der heiligsten Pflichten der Gesamtheit wie der einzelnen betrachtet wurde, hat im modernen Judentum eine arge Vernachlässigung erfahren. Das ist um so beklagenswerter, als ihr jede Unterstützung durch den Staat oder aus sonstigen öffentlichen Mitteln, wie sie den anderen Wissenschaften zu teil wird, bisher versagt geblieben ist. Für ihre Vertreter gibt es keine Lehrstühle an den Universitäten; keine Akademie oder gelehrte Gesellschaft hat sich je verpflichtet gefühlt, ihr irgendwelche Förderung angedeihen zu lassen. Die Männer, denen die moderne Wissenschaft des Judentums ihre Begründung und Fortbildung verdankt, haben sich vielfach unter den bittersten Entbehrungen ihrer Forschertätigkeit gewidmet, haben nicht selten schwere Opfer bringen müssen, um die Werke, die sie geschaffen, dem Druck übergeben zu können. Es ist ein ehrenvolles Zeugnis für den hohen Idealismus, der in unserer Gemeinschaft lebt, dass die jüdische Wissenschaft trotz alledem auf den verschiedensten Gebieten so Hervorragendes geleistet hat.

Um diesem Notstand, in dem die jüdische Wissenschaft sich befand, abzuhelfen, wurde um die Mitte des vorigen Jahrhunderts von Ludwig Philippson das „Institut zur Förderung der Israelitischen Literatur“ gegründet, das eine Reihe von Jahren hindurch eine sehr verdienstvolle Tätigkeit entfaltet und hervorragende Werke der jüdischen Wissenschaft zur Veröffentlichung gebracht hat. Als dieses Institut einging, trat wieder der alte, trostlose Zustand für die Wissenschaft des Judentums ein. Neues Leben hat in den letzten Jahrzehnten sich vielfach innerhalb des Judentums geregt; große Organisationen sind geschaffen worden, die nach den verschiedensten Richtungen Bedeutendes geleistet haben und noch mehr für die Zukunft versprechen. Aber die Wissenschaft des Judentums ging dabei leer aus; für sie wollte sich noch immer kein Erlöser finden. Es ist ein verhängnisvoller Irrtum, die Pflege der Wissenschaft als einen Gegenstand von bloß theoretischem Interesse zu betrachten, gewissermaßen als einen schönen Luxus, den man sich wohl unter Umständen gestatten könne, mit Rücksicht auf angeblich dringendere Bedürfnisse aber sich versagen müsse. Die Pflege der Wissenschaft hat vielmehr, besonders für uns Juden, auch eine eminent praktische Bedeutung. Die Wissenschaft ist eine Lebensbedingung für jede Gemeinschaft, die höheren Zielen nachstrebt; sie ist ein Quell der Verjüngung, aus dem der Gesamtheit neue Säfte und Kräfte zuströmen, die sie vor innerer Verknöcherung, vor geistiger Erstarrung bewahren. Ohne wissenschaftliche Vertiefung kann aber erst recht eine so ganz und gar auf ihre geistige Bedeutung gestellte Gemeinschaft wie das Judentum auf die Dauer nicht bestehen. Wir können uns, um unsere immer wieder angezweifelte Existenzberechtigung nachzuweisen, der Aufgabe nicht entziehen, den Anteil des Judentums an dem Geistesleben und der Kulturentwicklung der Menschheit darzulegen, den Lehrinhalt des Judentums vor dem Zeitbewusstsein und gegenüber den mannigfachen bewussten und unbewussten Entstellungen zu rechtfertigen und der Welt zu zeigen, dass die Grundanschauungen, zu denen unsere Glaubensgemeinschaft sich bekennt, durch keine spätere Lehre und auch durch die Ergebnisse der modernsten Wissenschaft nicht überwunden sind. In dem schweren Kampf, den wir noch immer zu kämpfen haben, können wir die Wissenschaft als die wirksamste Abwehrwaffe nicht entbehren.

Unsere Gesellschaft hat sich die Erfüllung der so lange versäumten Ehrenpflicht gegen die Wissenschaft des Judentums zur Aufgabe gemacht. Wenn sie nach einem dreizehnjährigen Bestand nicht ohne Befriedigung zurückblicken darf auf das, was sie bisher geleistet hat, so hat sie dies zum großen Teil unserem Jubilar, ihrem ersten Vorsitzenden, zu verdanken. Gehört die Wissenschaft des Judentums auch nicht zu seinem besonderen Arbeitsgebiete, so hat sich sein wissenschaftlicher Sinn doch auch hier bekundet in den fruchtbaren Anregungen, die er uns gegeben hat, und in dem Verständnis, das er den Anregungen anderer entgegenbrachte. Auch wo er einmal anderer Ansicht war, hat er sich den Gegengründen seiner Mitarbeiter stets zugänglich gezeigt, denn ihm kommt es immer nur auf die Sache an, der er fern von jedem Eigendünkel gern seine Person unterordnet. So ist er jedem von uns mit der ihn auszeichnenden Liebenswürdigkeit und Höflichkeit des Herzens entgegengekommen, die uns die Mitarbeit an dem gemeinsamen Werke zu einer wahren Freude gemacht hat. Mit peinlicher Gewissenhaftigkeit wacht er über die Ausführung der übernommenen Arbeiten, dass sie der Wissenschaft und unserer Gesellschaft zur Ehre gereichen; den Säumigen ist er ein ernster Mahner, jeder aufstrebenden Kraft ein wohlwollender Förderer. Er selber hat sich an den Unternehmungen der Gesellschaft in hervorragender Weise beteiligt durch das für den Grundriss der Gesamtwissenschaft des Judentums gelieferte dreibändige Werk, das die „Neueste Geschichte des jüdischen Volkes“ behandelt und in dem er unserer Wissenschaft auf einem bisher noch gar nicht in Angriff genommenen Forschungsgebiet eine durch die erstaunliche Fülle des mühsam herbeigebrachten Materials und durch die Klarheit und den Gedankenreichtum der Darstellung ausgezeichnete Arbeit dargeboten hat.

Von den Pflegern der Wissenschaft sagt der Talmud, dass sie mit dem zunehmenden Alter nicht ermatten, sondern an innerer Abgeklärtheit noch mehr gewinnen. Das bewährt sich auch an unserem verehrten Vorsitzenden. In unverminderter Geistesfrische tritt er in das siebzigste Lebensjahr ein, das man als die Schwelle des Greisenalters zu bezeichnen pflegt. Eine große, gottgesegnete Lebensarbeit liegt hinter ihm, die aber, wie wir zu Gott hoffen, noch lange nicht abgeschlossen ist, sondern noch reiche Früchte tragen wird. Möge er seinem hochgeschätzten Familienkreise, dem Judentum, der Wissenschaft und unserer Gesellschaft noch lange erhalten bleiben als leuchtendes Vorbild im Leben und im Streben nach des Lebens heiligen Idealen.

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