Ein neues Buch schildert die Berliner Jahre der Dichterin Else Lasker-Schüler…
Von Gerhard Haase-Hindenberg
Erschienen in: Jüdische Allgemeine v. 20.02.2019
Es war der kleinen Else (eigentlich Elisabeth), dem jüngsten von sechs Kindern von Aaron Schüler und seiner Frau Jeanette, durchaus in die Wiege gelegt, einmal eine der bedeutendsten Lyrikerinnen deutscher Sprache zu werden, auch wenn im Haushalt des jüdischen Privatbankiers niemand davon ausgehen konnte. Das Licht der Welt erblickt Else Schüler am 11. Februar 1869 in Elberfeld, einem heutigen Stadtteil von Wuppertal.
In jener Zeit war man selbst in liberalen jüdischen Kreisen weniger darum bemüht, individuelle Talente der Töchter zu fördern, als vielmehr, sie in »gute Verhältnisse« zu verheiraten. Auch Else findet sich zunächst unter der Chuppa wieder – mit Berthold Lasker, einem jungen Arzt und Bruder des damaligen amtierenden Schach‐Weltmeisters. Kurz darauf zieht die 25‐Jährige mit ihrem Ehemann nach Berlin. Die aufstrebende Weltstadt bietet kurz vor der Jahrhundertwende kreativen Leuten mannigfaltige Möglichkeiten. Else ist entschlossen, sie zu nutzen.
Aus Anlass des 150. Geburtstages der Dichterin hat Jörg Aufenanger, auch er gebürtiger Wuppertaler, über deren Berliner Jahre ein bemerkenswertes Buch geschrieben. Den Moment der Abnabelung von der bürgerlichen Idylle kommentiert er lapidar: »Als junges Mädchen habe sie gedichtet und gemalt, wird sie mehrfach beteuern. Nur Arztgattin und Hausfrau will sie nicht sein.«
Detailreich schildert der Biograf die Berliner Jahre zwischen Aufstieg und Fall, Comeback und Vertreibung jener schillernden Figur der deutschen Literaturszene im ersten Drittel des vergangenen Jahrhunderts, die sich selbst geheimnisvoll »Prinz von Theben« nennt.
Ihr Auftritt auf der literarischen Bühne im Jahre 1902 ist wie ein Paukenschlag. Mit dem Gedichtband Styx polarisiert die Lyrikerin von Anfang an; und das Pro und Contra macht auch vor der jüdischen Welt nicht halt. »Sie bewährt sich als späte und nicht unwürdige Enkelin jener uralten Sänger, die einst die Psalmen oder das Buch Hiob gedichtet haben … Wer über die moderne Lyrik mitreden will, der lese Styx von Else Lasker‐Schüler«, schreibt der Kritiker Samuel Lublinski in der Chanukka‐Ausgabe seiner Zeitschrift »Ost und West«.
Franz Kafka hingegen schreibt in einem Brief an eine Freundin: »Ich kann ihre Gedichte nicht leiden, ich fühle bei ihnen nichts als Langeweile über ihre Leere und Widerwillen wegen des künstlerischen Aufwands.« Karl Kraus nennt ihre Verse »hohe Unverständlichkeiten«, ist jedoch begeistert von ihnen. Und Biograf Aufenanger glaubt in ihr mit dem Abstand von fast 120 Jahren die »bedeutendste deutsche Lyrikerin in der Nachfolge von Annette von Droste‐Hülshoff« zu erkennen.
Die Dichterin selbst versteht sich augenscheinlich als eine Art »Gesamtkunstwerk«, die mit nahezu allen namhaften Künstlern und Intellektuellen im Vorkriegs‐Berlin den Kaffeehaustisch am Kurfürstendamm teilt. »Man konnte weder damals noch später mit ihr über die Straße gehen, ohne dass alle Welt stillstand und ihr nachsah. Extravagante weite Röcke oder Hosen, unmögliche Obergewänder, Hals und Arme behängt mit auffallendem unechtem Schmuck«, wird sich später Gottfried Benn an die erste Begegnung im Sommer 1912 erinnern.
Das Jahr vor dem Ersten Weltkrieg ist für Else Lasker‐Schüler, wie Aufenanger zu berichten weiß, »ein erfolgreiches, produktives Jahr, sie verfasst Gedicht auf Gedicht, allerorten erscheinen sie. Und sie findet einen neuen Verlag, der ihre Prosaskizzen herausgibt. Ihr im Vorjahr erschienener Roman Mein Herz erhält in vielen Besprechungen höchstes Lob.«
Ihr Alias‐Name »Prinz von Theben« ist einer jüdisch‐muslimischen Geschwistersehnsucht geschuldet, wie sie in jener Zeit in der Erzählung »Der Scheik« deutlich wird: »In dem Tore von Bagdad ruhen eingeschnitten die Bilder meines Urgroßvaters, des Scheiks, des obersten Priesters aller Moscheen, und seines Freundes, des jüdischen Sultans Mschattre‐Zimt.«
Vier Jahre Krieg haben nicht nur das Land, sondern auch dessen Kultur verändert. Die Zeit zwingt zur Positionsbestimmung, und Else Lasker‐Schüler wendet sich – wie Aufenanger schildert – mit den Hebräischen Balladen und der Erzählung »Der Wunderrabbiner von Barcelona« der Kultur ihrer jüdischen Herkunft zu. »Im ersteren hatte sie biblische Motive als Vorlage benutzt, in dem ›Wunderrabbiner‹ nun erfindet sie eine zeitlose Geschichte, ein Ereignis, das ein Pogrom auslöst.«
Gegen Ende 1925 scheint ihre Schaffenskraft zu versiegen. Der Zeitgeist nimmt eine neue Richtung an, und der Biograf nennt die Gründe: »Sowohl ihre gefühlsbetonte, phantasierende Lyrik, als auch die Aufschrei‐Literatur der Expressionisten sind passé … Die Generation der Bohemiens tritt ab, sie sind nur noch ein Überbleibsel vergangener Tage. Eine neue Sachlichkeit macht sich breit.«
In diesem Jahr stirbt mit 28 Jahren ihr Sohn, der ein Schattendasein geführt hat und dessen Vater niemand kennt, an Tuberkulose. Er wird auf dem Jüdischen Friedhof in Berlin‐Weißensee beigesetzt. Just in diesem Moment ersteht die Welt ihrer eigenen Kindheit noch einmal auf. Zum zweiten Mal nach 1919 erlebt die Berliner Theaterwelt eine Inszenierung ihres Stückes Die Wupper.
Die Tantiemen helfen, den finanziellen Ruin der Dichterin hinauszuzögern. Ihren seelischen Zustand vertraut Else Lasker‐Schüler einer Freundin in einem Brief an: »Ich bin so allein im Innern und überfahre mich immer selbst.« Hinzu kommt, dass der alltägliche Antisemitismus immer offener zutage tritt. Jörg Aufenanger beschreibt en detail, wie Else Lasker‐Schüler ihn erlebt haben muss.
Kurz vor dem Ende ihrer Zeit in Deutschland macht sie noch einmal von sich reden. Geschickt nutzt die Dichterin das neue Medium Radio, um ihre Texte unter die Leute zu bringen. »Else Lasker‐Schüler findet für ihre genialen Dichtungen keine Verlage, aber nun wenigstens den Rundfunk und der sie«, stellt die »Vossische Zeitung« treffend fest. Am 21. November 1932 wird ihr endlich der Kleist‐Preis mit der ersehnten finanziellen Zuwendung zugesprochen.
Einen Monat später erscheint im »Berliner Börsen‐Courier« ihr letztes Gedicht in Deutschland. Es endet mit den Zeilen: »Wir stehen längst geknickt wo angelehnt / Am grauen Steine einer alten Mauer / So ausgelöscht und haben uns gesehnt / Nach einem einzigen Lichtchen in der Weltentrauer.« Zwölf Jahre und zwei Monate später stirbt die Dichterin, die sich einst »Prinz von Theben« nannte, mit fast 76 Jahren verarmt in Jerusalem. Es ist der 22. Januar 1945.
Jörg Aufenanger: »Else Lasker‐Schüler in Berlin«. be‐bra, Berlin 2019, 207 S., 20 €, Bestellen?