In den vergangenen Wochen wird in Deutschland viel, sehr viel über Antisemitismus gesprochen, geschrieben, diskutiert. Dabei ist eigentlich schon alles gesagt, seit Jahrzehnten schon…
Von Andrea Livnat
Am überraschendsten ist eigentlich wie überrascht alle sind. Ja, Deutschland hat ein Antisemitismus Problem. Ja, auch Flüchtlinge sind Antisemiten. Aber dass in Deutschland jüdische Schulen und andere Einrichtungen wie Hochsicherheitstrakte bewacht werden müssen, dazu hat es keine Flüchtlinge gebaucht, das haben die „Deutschen“ ganz alleine geschafft. Auch Anschläge wie auf das jüdische Seniorenheim in München, wo 1970 sieben Juden verbrannt sind, ging nicht auf das Konto von Flüchtlingen, genauso die Brandanschläge auf die Synagoge in Lübeck oder die vielen vielen Friedhofsschändungen, um nur einige Beispiele zu nennen.
Nur um nicht missverstanden zu werden, den Antisemitismus, den Flüchtlingen mitbringen und den Menschen mit arabischen Hintergrund hier unter dem Deckmantel der Kritik an Israel pflegen, muss man unmissverständlich benennen und bekämpfen. Und dabei muss klar sein, dass es nicht darum geht, eine Trennung zwischen Juden in Deutschland und Israel zu machen. Juden in Deutschland muss man achten und akzeptieren und der Holocaust und so weiter, aber die Juden, die Palästina besetzen sind alles Mörder und Lügner? Auch wenn das Thema emotional aufgeladen ist, müssen in der Bildungsarbeit die Linien deutlich gemacht werden, was legitime Kritik auch an Israel ist.
Aber das alles ist nur die zweite Geige. Dass nun zusätzlich Menschen gekommen sind, die im Hass auf Israel und die Juden sozialisiert wurden, macht die Sache nicht einfacher. Aber was haben sie in Deutschland vorgefunden? Eine Gesellschaft, die außer Lippenbekenntnissen und Holocaust-Unterricht nicht viel unternimmt.
Eine Gesellschaft, die höflich applaudiert und sitzenbleibt, wenn ein „großer“ Schriftsteller von der „Moralkeule Auschwitz“ spricht, eine Gesellschaft, die eine Partei mit knapp 13% in den Bundestag wählt, die durch zahlreiche antisemitische Aussagen auffällt, und eine Gesellschaft, die es zulässt, dass jüdische Schüler, die antisemitisch gemobbt werden, die Schule wechseln und nicht ihre Angreifer. Eine Gesellschaft, die seit Jahrzehnten bedauert, aber sonst nicht in die Gänge kommt…
Wo ist denn der große Aufschrei? Wo?
Kippa Flashmob, ja warum nicht! Aber warum muss das die Jüdische Gemeinde organisieren? Sollen wir Juden uns selbst kümmern? Der Antisemitismus ist EUER Problem! Der Frankfurter Bürgermeister zieht eine Kippa an, das ist fein, aber warum machen das nicht alle Bürgermeister? Warum haben nicht alle Minister eine Kippa an? Warum gibt es keine Demonstration durch Neukölln mit dem Berliner OB vorneweg? Mit Kippa auf dem Kopf? Mit Hunderttausenden Teilnehmern????
Wahrscheinlich muss man dem Gürtelschläger vom Prenzlauer Berg noch dankbar sein, denn eines hat der Vorfall auch für den letzten Begriffsstutzigen unter uns klar gemacht. Wir Juden stehen alleine da. Nein, vor einem neuen Holocaust habe ich keine Angst. Der ganz alltägliche Antisemitismus ist schon genug. Und der ist bittere Realität, Deutschland 2018.
Der große Aufschrei, den Andrea Livnat erwartet hatte, bleibt aus und er wird auch künftig ausbleiben.
Die Masse der heutigen Deutschen will doch von Juden, Shoa, Antisemitismus und Israel nichts wissen.
Es ist den Deutschen peinlich an die dunklen Epochen ihrer Geschichte und an die Schmach, die die Untaten ihrer Vorfahren über sie brachte, zu denken. Zudem bedroht zuviel Wissen um die eigene (deutsche) Judengeschichte das, für immer noch mehr als die Hälfte von ihnen bedeutende, Ansehen der Kultur des christlichen Abendlandes. Man könnte ja erfahren, dass die Kirchen doch größere Schuld an den Tausend Jahren deutscher Judenpogrome auf sich geladen haben, als einem lieb ist…
Keiner lässt sich gern sein in vielen Jahren zusammengeschustertes, von Unerfreulichem gründlich bereingigtes (idealisiertes) Weltbild zerstören, am allerwenigsten die Deutschen von heute. Man hat vielmehr gelernt, sich über wirtschaftlichen Erfolg, den guten Ruf, den die heimische Kfz-Industrie (international) genießt, Fußballtore und andere moderne „Werte“ zu definieren. Juden, gar Antisemitismus, würden da nur als störend empfunden.
Kürzlich fragte ich ganz beiläufig einen Schulleiter in Bayern, der auch das Fach katholische Religion unterrichtet, nach der Anzahl der Juden in Deutschland unmittelbar vor Hitler, eine Frage, die gewöhnlich bei Deutschen Spreu vom Weizen trennt, eine Frage, die die Ignoranten von den Verantwortungsbewussten unterscheidet. Ãœberraschenderweise konnte der Herr Direktor die Zahl relativ genau benennen, fügte allerdings in einem Nebensatz gleich darauf hinzu, „das ganze Thema“ interessiere ihn aber nicht.
Selbst wenn er nur versucht hat besonders souverän („cool“) wirken zu wollen, so offenbarten seine Worte doch einen eklatanten Mangel an Verantwortungsbewußstsein. Denn wenn schon der Schulleiter sich nicht für ein aus der Zivilisationsgeschichte der Menschheit herausragendes Thema interessiert, was soll man dann erst von Lehrern und Schülern erwarten!
In der gleichen Schule hörte ich, als im Geschichtsunterricht (kurz) die Rede auf die Judenverfolgungen fiel, einen der beleseneren Schüler sich äußern: „Die anderen (gemeint waren: Nationen) waren auch nicht besser…“ – In diesem Fall, möglicherweise weil mein Status (als Beobachter) für den Lehrer nicht recht einzuschätzen war, erfolgte durch diesen eine sofortige Zurückweisung der Äußerung mit anschließender Belehrung, dass die Verbrechen der Nationalsozialisten einzigartig gewesen seien, worüber auch ein internationaler Konsens bestünde…
Ein anderer Schüler, in einer anderen Klasse, tat im Ethikunterricht seine Meinung kund, unter Hitler sei nicht alles schlecht gewesen. Zunächst herrschte Schweigen. Kein Schüler dachte daran zu widersprechen, was möglicherweise auch an der allgemeinen Müdigkeit in der letzten Schulstunde lag. Die Lehrerin schwieg, schluckte, blickte auf mich, räusperte sich, und widersprach schließlich, wenig entschieden und recht heiser. Nach weiteren NS-relativierenden Statements dieses Schülers der 12. Klasse, und noch mehr vorsichtigen Blicken auf mich, anberaumte die Lehrerin ein Lehrergespräch mit ihm. – Kurz vor Notenschluß gelangte dann in jener Ethik-Klasse der Hannah-Arendt-Film von Margarethe von Trotta zur Aufführung https://www.youtube.com/watch?v=KDO5u2YSbm0
Besagter Schüler verbiß sich danach regelrecht in die Rolle, die die Judenräte einst spielten, um jüdische Schuld oder zumindest Mitschuld aufzuzeigen. Keiner der Schüler, auch die wenigen beleseneren nicht, wagten eine Zurechtweisung oder einen Einspruch. Die Lehrerin wirkte hilflos und überfordert, auch sie besaß nicht genug Wissen, um solchen Einwänden wirkungsvoll zu begegnen.
Juden interessieren Deutsche halt nicht besonders…
Vielleicht wenden wir uns lieber Erfreulicherem zu:
https://www.youtube.com/watch?v=opwdAAgbJYI
Kommentarfunktion ist geschlossen.