Der Historiker Harry Waibel liefert eine antikapitalistisch grundierte DDR-Analyse mit vielen Mängeln…
Von Martin Jander
Das neue Buch von Harry Waibel steckt voller wichtiger Geschichten und Ideen, es ist allerdings, wie viele seiner Bücher, unfertig.[1] Der Historiker skizziert in „Die braune Saat“ einen neuen Ansatz zur Geschichte von Ex-Nazis und späteren Neo-Nazis in der früheren DDR. Dennoch bleibt die Publikation unbefriedigend. Eine wirklich breite und analytisch klar durchgearbeitete Geschichte der DDR als einem der drei Nachfolgegesellschaften des deutschen Nationalsozialismus gibt es bis heute nicht, sie liegt auch mit Waibels Buch nicht vor.[2]
„Die braune Saat“ hat zwei große Hauptkapitel. Im ersten der beiden mit der Überschrift „Antisemitismus“ behandelt der Autor viele scheinbar unzusammenhängende Ereignisse, wie zum Beispiel die Beziehungen des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) zu Linksterroristen in der Bundesrepublik, die Geschichte von Antisemiten in der Nationalen Volksarmee (NVA) und im MfS, die Infiltration und Zersetzung jüdischer Gemeinden durch das MfS, die Unterstützung der DDR arabischer Länder im Krieg gegen Israel, die Zerschlagung der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) sowie die Unterstützung des MfS für Rechtsterroristen.
Diese einzelnen Geschichten sind alle äußerst wichtig und auch signifikant für Staat und Gesellschaft der DDR. Sie alle zeigen, dass der Antifaschismus der DDR, eher eine Strategie der Abwehr der Aufarbeitung des Nazismus und seiner Verbrechen war. Die eigentlichen „Faschisten“ gab es in den Augen der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) in der (alten) Bundesrepublik, in den USA und in Israel.
Im zweiten Hauptkapitel mit der Überschrift „Neonazismus“ behandelt Waibel die Geschichte der Skinheads in der DDR, der Hooligans, die verschiedenen neonazistischen Gruppen, kleinerer und größere Pogrome, die Geschichte von Neonazis in der Nationalen Volksarmee und viele andere Dinge mehr. Ganz anders als die DDR, ihre führende Partei und die Staatsmedien glauben machen wollten, hat es Ex-Nazis und später Neo-Nazis in der DDR immer gegeben. Wie sollte es bei einer der drei Nachfolgegesellschaften des deutschen Nationalsozialismus auch anders sein.
Da diese Bewegungen, Einzelpersonen und Gruppen jedoch das antifaschistische Selbstbild des SED-Staates massiv beschädigten, der behauptete, durch die Vergesellschaftung der wesentlichen Produktionsmittel seien die Wurzeln des Faschismus in der DDR (im Unterschied zu den westlich-kapitalistischen Gesellschaften) vollständig vernichtet wurden, wurde darüber in der DDR wenn überhaupt nur inoffiziell berichtet, Analysen lediglich geheim für Führungskader angefertigt.
So bedeutsam und wichtig es ist, dass Harry Waibel all diesen Geschichten nachgeht, er recherchiert sie in den allerseltensten Fällen bis zu ihrem Ende. So zum Beispiel die Geschichte des jüdischen Remigranten Helmut Eschwege. Er taucht in Waibels Buch vor allem als Informeller Mitarbeiter des MfS auf[3], der die jüdischen Gemeinden bespitzelte. Dies ist nur bedingt richtig. Eschwege war zwei kurze Zeiten seines Lebens in der DDR in den 50er und 80er Jahren als MfS-Spitzel eingesetzt, dass er dabei verwertbare Informationen lieferte, ist mehr als zweifelhaft.[4] Waibels Darstellung gibt ein völlig falsches Bild, da er Eschweges Verdienste als Historiker unerwähnt lässt und außerdem offenbar nicht weiß, dass Eschwege die meiste Zeit seines Lebens in der DDR im operativen Vorgang „OV Zionist“ vom Ministerium „bearbeitet“ wurde.[5] Dem international anerkannten Holocaust-Forscher Eschwege, der einige Zeit seines Lebens als Hausmeister der Technischen Universität Dresden arbeiten musste, versuchten SED und MfS alle nur möglichen Knüppel zwischen die Beine zu werfen, um seine Forschungsarbeit sowie seine Kulturarbeit im Rahmen christlicher und jüdischer Gemeinden der DDR unmöglich zu machen. So wie den Staat Israel betrachtete die DDR Eschwege als Feind. Den Staat Israel kannte die DDR nie an, sie unterstützte seine Feinde militärisch. Den linken Juden Helmut Eschwege suchte die DDR ins Gefängnis zu bringen.
Die von Waibel nur in Auszügen referierte Geschichte Eschweges ist aber lediglich eines von sehr vielen Beispielen. Weder empirisch noch analytisch geht der Historiker Waibel den von ihm aufgeworfenen Geschichten und Themen wirklich auf den Grund. Der Leser hat meist lediglich den Anfang eines viel längeren Fadens in den Händen. [6]
Der Staat DDR war ein Staat der „Holocaust Inversion“ (Robert Wistrich). Der Nazismus und der Antisemitismus wurden nur beschränkt aufgearbeitet, die meisten Opfer wurden überhaupt nicht entschädigt, Ex-Täter wurden nur in ausgewählten Fällen abgeurteilt und die Verpflichtung eines „Nie wieder!“ wurde nicht so sehr als Selbstverpflichtung verstanden, sondern als Propagandawaffe gegen die westlichen Demokratien. Die DDR war keine rechtsstaatliche Demokratie. In der Gesellschaft der DDR gab es darüber hinaus, wie in Österreich und in der alten Bundesrepublik, bis in die Spitzen hinein Ex-Nazis und bis in die Spitzen dieser Gesellschaft hinein wurde der seit dem Ende der 60er Jahre aufkeimende Neo-Nazismus geleugnet.[7] Die links-antisemitische SED verfolgte in der Unterstützung arabischer Länder im Krieg gegen Israel selbst eine auf die Vernichtung Israels gerichtete Politik, bereits zu Beginn der 50er Jahre waren große Teil der Juden als „Staatsfeinde“ aus dem Land vertrieben worden. Die DDR war, und das sieht Waibel nur in Ansätzen, ein Staat der „Holocaust Inversion“[8] der einen gesellschaftlichen Unterbau aus dem nationalsozialistischen Deutschland hatte und, in den 70er und 80er Jahren, eine neo-nazistische damals vor allem junge Gegen“kultur“.
Alle drei Strömungen – die antizionistische Politik des SED-Staates, ihr nationalsozialistischer Unterbau in der Gesellschaft und ihre neo-nazistische Jugendopposition aus den 70er und 80er Jahren finden sich nach dem Mauerfall bei PEGIDA und Co. wieder. Inzwischen haben alle drei Strömungen eine solche Kraft entwickelt, dass sie den auch im Westen der Bundesrepublik nie vollkommen verschwundenen Neo-Nazismus und der „Neuen Rechten“ neues Leben eingehaucht haben.
Die Mängel von Waigels Analyse liegen, neben den oben angesprochenen empirischen Unzulänglichkeiten, in der vor allem antikapitalistischen Orientierung des Historikers. Er selbst plädiert „für einen emanzipatorischen Anti-Faschismus“[9], der die Beseitigung kapitalistischer Strukturen zu seinem Hauptziel im antifaschistischen Kampf macht.
Waibel schreibt: „Es braucht einen neuen Anti-Faschismus, der mit dem Kampf für konkrete sozialistische und demokratische Inhalte und Formen verknüpft ist. Der Kampf ist unausweichlich, weil Faschisten, einmal an der Macht, das kapitalistische Ausbeutungsregime radikalisieren und ihre Gegner eliminieren. Faschisten werden aber auch deshalb bekämpft, nicht nur weil sie sich mit ihrem Hass auf Migranten oder Juden als anti-humanistisch erweisen, sondern weil sie weltweit, nach Innen wie nach Außen, für Gewalt und Krieg stehen. Für Herbert Marcuse, den revolutionären Philosophen der Emanzipation, war es völlig klar, dass es im Kampf gegen den Neo-Faschismus darum gehen muss, die bestehende bürgerliche Demokratie als kleineres Übel, für eine Chance des Übergangs zum Sozialismus, zu verteidigen, während zugleich die kapitalistischen Fundamente angegriffen werden. Anti-Faschisten müssen also die politischen Formen des Kapitalismus von seinen ökonomischen Strukturen trennen.“[10]
Weder der historische Nationalsozialismus, noch die gegenwärtigen rechtspopulistischen Bewegungen haben ihre Hauptursachen in den sozialen Bedingungen, die durch die kapitalistischen Verhältnisse hervorgerufen wurden und werden. Rassismen, Antisemitismus sowie Antizionismus hatten damals und haben heute vom Kapitalismus ganz unabhängige Wurzeln und Traditionen. Die Beseitigung des Kapitalismus in der DDR hat gegen die historischen Nazis und ihre Nachfolger der Neo-Nazis nicht geholfen. Die nicht-kapitalistische Diktatur sowjetischen Typs in der DDR hat auch gegen die antijüdische und antizionistische Politik der DDR-Führung nicht geholfen. Harry Waibel behauptet, er mache eben dies zum Gegenstand seiner Analyse.[11] Wer bis zum Ende liest, wird feststellen: Harry Waibel versteht es nicht.
Ganz ähnlich wie viele Analysen der DDR-Gründer über den historischen Nationalsozialismus, so fußt Waibels DDR-Analyse auf einer Kapitalismuskritik. Er bohrt, vereinfacht gesagt, nicht tief genug. Trotz einer nicht-kapitalistischen Struktur gab es in der DDR Nazis und eine antijüdische, antizionistische Politik. Harry Waibels Analyse fasst dies empirisch wie analytisch nur unzulänglich.
Harry Waibel, Die braune Saat. Antisemitismus und Neonazismus in der DDR, Stuttgart 2017, Schmetterling Verlag, 380 S., Eur0 22.80, Bestellen?
[1] Siehe zu Harry Waibel: Der gescheiterte Antifaschismus der SED: https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-22779; siehe zu Harry Waibel: Rassisten in Deutschland: https://uni.de/redaktion/rassisten-in-deutschland; siehe zu Harry Waibel: Diener vieler Herren: http://www.bpb.de/geschichte/zeitgeschichte/deutschlandarchiv/139636/sed-mitglieder-und-funktionaere-mit-ns-vergangenheit; siehe zu Harry Waibel: Rechtsextremismus in der DDR: http://lernen-aus-der-geschichte.de/Lernen-und-Lehren/content/12060.
[2] Siehe als Ansatz: Werner Bergmann u. a. (Hg.): Schwieriges Erbe. Der Umgang mit Nationalsozialismus und Antisemitismus in Österreich, der DDR und der früheren Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt 1995.
[3] Siehe: Harry Waibel, Die braune Saat, Stuttgart 2017, S. 39f.
[4] Siehe: Löffler, Katrin (2011): Keine billige Gnade. Siegfried Theodor Arndt und das christlich-jüdische Gespräch in der DDR. Hildesheim, S. 120ff
[5] Siehe: Ebenda.
[6] So ist es kein Zufall, dass Waibel immer wieder als Experte zum Rassismus in der DDR von Medien befragt wird, oder seine Recherchen Verwendung finden. Zu Ende recherchiert werden seine Geschichten dann häufig von Journalistinnen und Journalisten, die sich an Waibels Dokumentenfunden entlanghangeln. (Siehe zum Beispiel: https://www.youtube.com/watch?v=15EEQ6X_njw).
[7] Eine der sehr aufschlussreichen von Waibel berichteten Geschichten ist die von den Hakenkreuzen, die im ZK-Gebäude der SED zum ersten Mal 1960 auftauchten und dann bis zum Ende der DDR immer wieder. Alle Bemühungen die Verursacher und ihre Motive ausfindig zu machen, liefen ins Leere. (Harry Waibel, Die braune Saat, Stuttgart 2017, S. 334ff)
[8] Siehe dazu: Robert Solomon Wistrich: Antisemitism and Holocaust Inversion, in: Anthony McElligott, Jeffrey Herf (Ed.): Antisemitism before and since the Holocaust, palgrave macmillan 207, S. 37ff.
[9] Siehe: http://www.harrywaibel.de/anlagen_archiv/Fuer%20einen%20emanzipatorischen%20Anti-Faschismus.pdf
[10] Zitiert nach: Ebenda, S. 8.
[11] Siehe z. B.: Harry Waibel, Die braune Saat, Stuttgart 2017, S. 338ff.