München gedachte auch an diesem 9. November der jüdischen Münchnerinnen und Münchner, die in der „Reichspogromnacht“ 1938 und in den darauf folgenden Jahren entrechtet, deportiert und ermordet wurden…
Am Abend hat im Saal des Alten Rathauses – am historischen Ort, von dem aus vor 79 Jahren mit der Hetz-Rede von Joseph Goebbels die reichsweiten Novemberpogrome initiiert wurden – die zentrale Gedenkfeier zum 9. November 1938 stattgefunden. Der scheidende Gründungsdirektor des NS-Dokumentationszentrums München Professor Dr.-Ing. Winfried Nerdinger referierte zum Thema „Bedeutung und Formen der Erinnerung“. In den Reden von Oberbürgermeister Dieter Reiter und Charlotte Knobloch, Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern, spiegelte sich auch die aktuelle politische und gesellschaftliche Situation wider – insbesondere das Erstarken der rechtsradikalen Kräfte in Deutschland und die Zunahme von Antisemitismus aus unterschiedlichen Richtungen und auf allen gesellschaftlichen Ebenen.
Oberbürgermeister Dieter Reiter erinnerte zunächst daran, dass in der „Reichspogromnacht“ Proteste seitens der nichtjüdischen Bevölkerung damals so gut wie ausgeblieben seien. „Die meisten haben einfach zugeschaut, bisweilen in die Hetzgesänge der Ausführenden mit eingestimmt oder sich im schlimmsten Fall sogar aktiv an den Zerstörungen und Brandschatzungen beteiligt.“ Das gelte ebenso für die damalige Münchner Stadtverwaltung als „willfähriger Handlanger und eigenständiger Akteur“. Dann nahm der Oberbürgermeister die gegenwärtigen Ereignisse in den Blick: „[…] zu unserer Verantwortung gegenüber den Opfern der NSDiktatur gehört eben auch die dauerhafte Verpflichtung, das vielbeschworene ‚Nie wieder!‘ ernst zu nehmen und zum Maßstab praktischen Handelns zu machen.“ Gerade nach dem Einzug der AfD als drittstärkster Kraft in den Bundestag. Sie versuche, den mühsam errungenen gesellschaftlichen Konsens in der bundesdeutschen Erinnerungskultur auszuhöhlen und die demokratische Kultur zu untergraben.
Reiter verwies darauf, „dass Antisemitismus hierzulande eher zu- als abnimmt, und dass er dabei vor allem auch in der Mitte der Gesellschaft wieder Platz greift – nicht selten unter dem Deckmantel vermeintlicher Israelkritik. Das ist absolut inakzeptabel und wird von uns auf gar keinen Fall toleriert.“
Vieles stimme ihn aber auch zuversichtlich: „Vor allem haben wir hier bei uns eine sehr starke Zivilgesellschaft, zahllose Gruppen und Organisationen sowie eine mutige Bürgerschaft, die Profil zeigen gegen Antisemitismus, die klar Stellung beziehen gegen Hetze und Ausgrenzung und gleichzeitig auch ein großes Interesse am Judentum und an Israel haben. Außerdem verfügen wir über ein robustes politisches System, in dem Parlamente und Regierungen die Auseinandersetzung mit Radikalen nicht scheuen und bereit sind, ihnen die Stirn zu bieten. Gerade auch die Stadt München setzt dabei immer wieder deutliche Zeichen. Als jüngstes Beispiel will ich hier nur den aktuellen Stadtratsantrag nennen, mit dem wir uns klipp und klar gegen die Bestrebungen der antisemitischen BDS-Bewegung stellen. Und dann werden wir auch weiterhin eine intensive und öffentlich sichtbare Erinnerungskultur pflegen.“
In ihrer Rede erinnerte Charlotte Knobloch, IKG-Präsidentin und Beauftragte für Holocaust-Gedenken des World Jewish Congress, an die Pogromnacht vor 79 Jahren, die den Terror gegen die Juden sichtbar gemacht habe. „Das Tor zu Auschwitz wurde aufgeschlagen.“ Knobloch verwies aber auch auf die in den letzten Jahrzehnten gewachsene Zuversicht der jüdischen Bevölkerung: „Es war richtig, die Koffer auszupacken, zu bauen, zu bleiben, zu vertrauen.“
Dennoch wisse sie nicht, „wie damit umzugehen ist, dass an diesen Überzeugungen, an diesem Optimismus Zweifel aufkommen.“ Es sei eine Zäsur, dass eine rechtsextreme Partei in Fraktionsstärke im neuen Deutschen Bundestag sitzt. „Ihre Vision für unser Land muss nicht enthüllt, demaskiert werden. Sie ist bekannt: Völkischer Nationalismus, Rassismus, Aggression, Menschenverachtung, Verschwörungstheorien, Neonazismus, Verfassungsbruch, Holocaustleugnung, Antisemitismus, Religions-, Medien- und Europafeindlichkeit, Geschichtsrelativierung und Revisionismus sind mit der AfD in 14 Landtage, den Bundestag, in Ausschüsse, Abgeordnetenbüros und nationale und internationale Gremien eingezogen – mit verheerender Wirkung.“
Auch Knobloch warnte vor dem wachsenden Antisemitismus. Dieser erstarke im Zuge der rechtspopulistischen und -extremen Renaissance. Aber auch in Teilen des linken politischen Spektrums gebe es antisemitische Motive, die seit Jahrzehnten unter dem Schlagwort „Israelkritik“ verbreitet und verfestigt oder als Imperialismus- und Kapitalismuskritik getarnt würden. Hinzu komme der Judenhass unter vielen Muslimen.
Knobloch dankte der Landeshauptstadt München für einen Vorstoß bei der Bekämpfung des Antisemitismus: „Dem Verwaltungs- und Personalausschuss liegt ein Antrag der CSU- und SPD-Stadtratsfraktionen zur Entscheidung vor, der für die Bekämpfung des Antisemitismus wegweisend ist. Ich bin sehr zuversichtlich, dass München damit noch in diesem Jahr ein bundesweit beachtetes Zeichen setzen wird. Der vorliegende Antrag ‚Gegen jeden Antisemitismus! – Keine Zusammenarbeit mit der antisemitischen BDS-Bewegung‘ ist von größter Wichtigkeit. Die dazugehörige hervorragende Beschlussvorlage bringt das Problem in all seinen Facetten auf den Punkt.“
Wer alle Formen von offenem und verdecktem Antisemitismus auf das Schärfste verurteile, müsse auch klar Stellung gegen die antisemitische Kampagne „Boycott, divestment and sanctions“ – kurz BDS – beziehen. „Für die systematische Bekämpfung von Judenhass wäre es besonders wichtig – wie es die erwähnte Beschlussvorlage vorsieht – die international anerkannte Arbeitsdefinition von Antisemitismus jeglichem Handeln der Stadt, ihrer Verwaltung und ihren Gesellschaften zugrunde zu legen.“
Knobloch betonte: „Ich glaube daran, dass der Antrag von SPD und CSU in einem breiten, parteiübergreifenden Konsens beschlossen wird.“
Eine andere europaweit beachtete Entscheidung aus München begrüßte Knobloch ausdrücklich: Der Kulturausschuss hat neue Formen dezentralen und individuellen Gedenkens an die Opfer des NS-Regimes beschlossen. „Ich danke der Stadt sehr für diese besonnene Lösung. Ich hoffe, dass der festgelegte Weg eine breite demokratische Mehrheit findet und rasch realisiert wird.“
Abschließend appellierte die ehemalige Präsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland: „Unsere Demokratie darf nicht ihre innere Kraft verlieren. Sie lebt von Zivilcourage und der Unterstützung jeder einzelnen Bürgerin, jedes einzelnen Bürgers. Die Demokratie braucht Demokraten. Lassen Sie uns keine Zeit verlieren.“
Prof. Dr.-Ing. Winfried Nerdinger, Gründungsdirektor des NS-Dokumentationszentrums München, erinnerte zunächst an die jahrelange Verdrängung des Nationalsozialismus in der jungen Bundesrepublik. Erst die Nachfolgegeneration habe das Schweigen mit einer intensiven Erinnerungskultur durchbrochen wurde.
In jüngerer Zeit allerdings stellten diese einige wieder in Frage. Nerdinger: „Natürlich kann und muss Erinnerungsarbeit diskutiert werden, aber eine generelle Infragestellung arbeitet dem Geschichtsrevisionismus von Rechtsextremisten direkt in die Hände. Das Problem liegt nicht in der Ritualisierung, im Gegenteil, eine gewisse rituelle Einübung ist ein notwendiger Bestandteil jeder Erinnerungskultur. […] Zu diskutieren und zu differenzieren ist die Instrumentalisierung von Erinnerung für pädagogische oder politische Zwecke und Ziele und somit die Beeinflussung von Inhalt und Rezeption. Jede politische Indienstnahme beinhaltet die Gefahr einer affirmativen Aus- und Abrichtung von Geschichte, jede pädagogische Indienstnahme tendiert dazu, Verhalten vorschreiben zu wollen.“
Gedenkstätten seien keine Lernorte, betonte Nerdinger, sondern „Stätten der durch das Leiden beredt werdenden Wahrheit der Unverletzbarkeit der Menschenwürde“. Daraus ergebe sich das „Nie wieder!“, nicht als pädagogisches Ziel, sondern als verinnerlichte Wahrheit über Menschenwürde: Das heiße: „über die Grundlage unserer Demokratie und unseres Gemeinwesens.“ Nerdinger: „Lernen sollte man aus der rationalen, kritisch distanzierten Auseinandersetzung mit den Tätern. Diesem Ansatz stehen Inszenierung und Emotionalisierung entgegen, denn sie sind Elemente einer Instrumentalisierung der Historie.“ Durch Erinnerung allein sei Geschichte noch nicht für Gegenwart und Zukunft wirksam. „Durch das Eingedenken erhalten die Toten einen Sinnzusammenhang und einen Bezug zur Gegenwart und erst dadurch wird aus erinnerter Geschichte eine begriffene und verpflichtende Geschichte.“
Abschließend stellte Nerdinger mit Rückgriff auf Adorno fest, dass „wiedererwachender Nationalismus“ die größte Gefahr für eine „Wiederkehr der Barbarei“ sei. Genau deshalb sei das NS-Dokumentationszentrum so wichtig. Nerdinger: „Ich habe es als eine Verpflichtung empfunden, dass in der ehemaligen Hauptstadt der Bewegung, der Wiege des Nazi-Terrors und damit letztlich des Holocaust, ein Ort der Aufklärung und des Lernens aus der Geschichte vorhanden sein muss. Dafür habe ich mich über ein Vierteljahrhundert eingesetzt und gegen Verdrängungen und Intrigen gestellt. Heute bin ich froh, dass wir mit dem NSDokumentationszentrum diesen Ort haben, zu dem sich auch die Münchner Politik und in ihrer überragenden Mehrheit die Münchner Bevölkerung bekennen. Das NS-Dokumentationszentrum ist ein unumkehrbares Bekenntnis der Stadt und der Zivilgesellschaft zum Lernen, zur Aufklärung und zum Eingedenken und ich bin sicher, dass diese Verpflichtung auch in Zukunft angemessen fortgesetzt wird.“
Am Nachmittag waren bei der öffentlichen Lesung am Gedenkstein der ehemaligen Hauptsynagoge in der Herzog-Max-Straße die Namen sowie kurze Biographien von jüdischen Kulturschaffenden aus den Bereichen Bildende Kunst, Architektur, Musik, Theater, Film, Literatur, Publizistik und Kunst- und Antiquitätenhandel, die in München gelebt und gewirkt haben und der Verfolgung durch die Nationalsozialisten zum Opfer fielen, verlesen worden. Unter den Lesenden waren namhafte Mitglieder der Bayerischen Akademie der Schönen Künste wie Mario Adorf, Volker Banfield, Dieter Borchmeyer, Nikolaus Brass, Sibylle Canonica, Dieter Dorn, Doris Dörrie, Dietrich Fink, Jens Malte Fischer, Christian Gerhaher, Peter Michael Hamel, Peter Hamm, Gert Heidenreich, Franz Hitzler, Stefan Hunstein, Caroline Link, Andreas Meck, Waltraud Meier, Thomas Meinecke, Sunnyi Melles, Albert Ostermaier, Georg M. Oswald, Hans Pleschinski, Bettina Reitz, Tobias Schneid, Michael Semff, Bernhard Sinkel, Kerstin Specht, Michael Verhoeven, Anne Sofie von Otter, Armin Zweite sowie der Kulturreferent Dr. Hans-Georg Küppers, Petra Reiter und Luise Kinseher.