Zwei lange vergessene Kölner Radrennfahrer

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Grabsteinbild von Albert Richter (Melaten-Friedhof, Köln). Wie die Verfasserin der Richter-Biografie Renate Franz dazu mitteilt, wurde das Bild 1955 von seinem Rennfahrerkollegen und Freund Jef Scherens im Einvernehmen mit Richters Familie angebracht. (c) Nicola54, wikicommons

Albert „Teddy“ Richter war bereits zu Lebzeiten als Radrennfahrer eine Legende: Der am 14.10.1912 im seinerzeit proletarischen Köln – Ehrenfeld geborene leidenschaftliche Radrennfahrer wurde siebenmal deutscher Meister. Er widersetzte sich den Anforderungen des Naziregimes – und hatte einen Trainer, dem er vertraute, der gleichfalls in Köln aufgewachsene jüdische Radrennfahrer Ernst Berliner…

Von Roland Kaufhold

Teddy Richter wurde nur 27 Jahre alt: Als er am 31.12.1939 vor den Nazis in die Niederlande zu fliehen versuchte wurde der in Köln Beliebte und international Renommierte an der Grenze festgenommen. Vier Tage später war er tot. Über Jahrzehnte war er vergessen. Ernst Berliner, der 1937 rechtzeitig emigriert war, gehörte zu den Wenigen, die nach seinem Tod dessen näheren Umstände aufzuklären versuchte. Danach kam das lange Vergessen.

Aufgewachsen im proletarische Köln-Ehrenfeld

Der in der Ehrenfelder Sömmeringstraße 72 geborene „Teddy“ Richter ist ein leidenschaftlicher Sportler und Rennfahrer. Als begabter Autodidakt fährt er alleine Touren, die Kölner Radrennbahn liegt in der Nähe. Mit 16 bestreitet Teddy in Köln sein erstes Rennen, seinerzeit noch gegen den erklärten Willen seines Vaters. Dieser, ein Gipsmodelleur, versteht sich im „roten Ehrenfeld“ als Sozialdemokrat und möchte seinem Sohn eine „bessere“ Zukunft bieten. Teddy lernt Geige; später würde Teddy diese sogar zu Renntagen mitnehmen. Die Familie musiziert regelmäßig gemeinsam. 1927, fünfzehnjährig, ergreift Teddy den gleichen Beruf wie sein Vater. Und schließt sich parallel hierzu, ohne Wissen seiner Eltern, dem Radclub Arminius an. Trotz Verletzungen setzt er sich leidenschaftlich für „sein“ Radrennen ein. Das außergewöhnliche Talent des vor Kraft und Vitalität Strotzenden bleibt nicht lange verborgen. 1931, da ist Teddy 19, wird er der beste rheinische Radsprinter. Die Presse wird auf ihn aufmerksam, Teddy gilt als die große Nachwuchshoffnung des deutschen Radsports. Ein Jahr später, 1932, gelingt ihm beim Grand Prix de Paris der Sieg und damit der internationale Durchbruch. Im September 1932 folgt der Gewinn der Amateurweltmeisterschaft. Albert Richter wird Radprofi. Den Impuls hierzu gibt der erfahrene Rennradtrainer Ernst Berliner.

Sein jüdischer Trainer und Freund Ernst Berliner

Um 1930 wird der 21 Jahre ältere Kölner Trainer Ernst Berliner auf das Talent aufmerksam: 1891 in der innerstädtischen Alexianerstraße – dort leben überwiegend Juden, es wurde gleichermaßen kölsch wie jiddisch gesprochen – geboren, wächst Ernst Berliner in einem jüdischen Umfeld auf. Er begeistert sich gleichfalls früh für den Radsport. Nach einigen sportlichen Erfolgen, so erringt er 1912 die Kölner Stadtmeisterschaft, wird Ernst Berliner Journalist und zugleich Manager von Radsportlern. Parallel hierzu eröffnet er in Köln eine Polsterei, er hat bis zu elf Angestellte.

Ernst Berliner motiviert Teddy – mit dem ihn bald eine enge Vater-Sohn Beziehung verbindet – , seine vertraute Kölner Umwelt aufzugeben und für einige Monate nach Paris zu gehen. Die Millionenstadt Paris war das Zentrum des Radsports, dort sollte Teddy neue, international renommierte Radsportfreunde finden. Gemeinsam mit Jef Scherens und dem Franzosen Loius Gérardin treten die Freunde als „Die Musketiere“ gemeinsam in der Öffentlichkeit auf. Als begeisterter Cineast besucht er regelmäßig Filmvorführungen, eignet sich durch Zuhören als Autodidakt rasch französisch an. Sein proletarischer Horizont weitet sich, bald versteht Teddy Richter sich als überzeugter Europäer.   

Unter dem erfahrenen Ernst Berliner gelingt Albert Richter der endgültige internationale sportliche Durchbruch: 1933 erringt er seinen ersten Deutschen Meistersprint, sechs weitere Meistertitel sollten folgen. In Frankreich wird er nach dem zweimaligen – 1934 und 1938 – Gewinn des Grand Prix de Paris eine Berühmtheit. 8000 Franzosen jubeln ihm zu. Der junge Mann aus einfachen Kölner Verhältnissen weiß, wem er seinen Erfolg verdankt.

Disziplin, familiäre Nähe und unerschütterliche Loyalität

Die „Machtergreifung“ der Nazis nimmt Albert Richter bewusst wahr. Seine enge Freundschaft mit dem nun unmittelbar bedrohten jüdischen Trainer ist ihm schmerzhaft bewusst. Seine Loyalität zu diesem ist unerschütterlich. Ernst Berliner fördert Teddys Talente durch eine Mischung zwischen Disziplin, Strenge und familiärer Verbundenheit: Ernst Berliners Ehefrau Erna – ein späteres Opfer der Shoah – bereitet ihm häufig die Mahlzeiten. Eine gemeinsame Bekannte sollte Ernst Berliners Persönlichkeit Jahrzehnte später eindrücklich beschreiben: „Er war ein ganz liebenswerter, wenn auch temperamentvoller, explosiver Mann.“ Und Berliners – einzige – Tochter Doris Markus sagte der engagierten Ernst Richter-Biografin Renate Franz  – in Der vergessene Weltmeister – das rätselhafte Schicksal des Kölner Radrennfahrers Albert Richter (2007) – im Rückblick: „Albert war der Sohn, den mein Vater nie hatte. Er hat ihn betreut, trainiert, massiert und ihn gelehrt, ein anständiges Leben zu führen.“

Teddy wird binnen Jahren zum überzeugten Europäer. Er liebt Paris, er verehrt die Franzosen, wie auch seinen jüdischen väterlichen Trainer. Der inzwischen international Renommierte sagt immer, laut und öffentlich, dass die Nationalsozialisten für Juden und Demokraten eine konkrete Gefahr darstellen. 1932 wird Teddy, trotz seiner prekären ökonomischen Lebenssituation, in Rom Weltmeister der Amateure im Sprint. Zwei Jahre später, 1934, verweigerte Teddy Richter bei der Siegerehrung in Hannover den „Hitlergruß“; es kommt zum ersten Eklat. Das erhalten gebliebene Foto wird international bekannt. Bei Auftritten im Ausland weigert Teddy sich, allen Repressionen zum Trotz, ein Trikot mit dem Hakenkreuz zu tragen. Stattdessen prangt auf seinem Radler-Trikot der Reichsadler. Internationale Medien verbreiten den „stillen Protest“. Die Pressionen der Nationalsozialisten gegen Teddy nehmen zu.

Gleichgeschaltete Standeszeitungen: „Der Jüd ist entflohen“

Auch die Standeszeitungen der Radrennfahrer werden gleichgeschaltet – bzw. lassen sich gleichschalten: Der 1888 geborene jüdische Regierungsbaumeister und Journalist „Illus“ Erich Kroner wird 1933 als Chefredakteur der „Illus“ abgelöst; bald darauf verliert er auch den Posten als Chefredakteur der Standeszeitung Der deutsche Radfahrer (DRV). Kroner wird im KZ Sachsenhausen inhaftiert, der 49-Jährige verstirbt dort 1937. Im gleichen Jahr wird der SS-Mann Victor Brack Chefredakteur des DRV. Zuvor war Brack Chauffeur Heinrich Himmlers.

Die Pressionen gegen den Kölner Juden Ernst Berliner nehmen zu. Als ihn in Folge der „Rassegesetze“ ein Berufsverbot trifft emigriert Ernst Berliner im September 1937 mit Ehefrau und Tochter in das niederländische Zaadijk. Auf einer Art Steckbrief klebt daraufhin an Kölner Hauswänden in seiner früheren Nachbarschaft: „Der Jüd ist entflohen“. Als 1940 auch in den Niederlanden die Deportationen der Juden beginnen versteckt eine Holländerin die bedrohte Familie bei einer Amsterdamer Familie. Seine Tochter Doris besucht zeitweise die gleiche Klasse wie Anne Frank.

Auch nach Berliners Emigration bleibt Teddy Richter seinem jüdischen Trainer treu, lässt sich weiterhin von ihm trainieren. Aus seiner antifaschistischen Grundeinstellung macht er kein Geheimnis. Einzig sein internationales Renommee bietet ihm – wie etwa auch Max Schmeling – einen vorläufigen Schutz: Der blonde, blauäugige und athletische Sportler hätte als Prototyp eines „Ariers“ durchgehen können. Der als introvertiert geltende Publikumsliebling weiß, dass er unter Kontrolle der Nazis steht. Dennoch schmuggelt er immer wieder für Freunde Geld über die Grenze. Das NS-Regime versucht ihn zu erpressen. Vergeblich.

Ende 1939: Eine Flucht in den Tod

Teddys Lage wird Ende 1939 ausweglos. Die Einberufung zur Wehrmacht droht. Am 1.9.1939 schreibt er verzweifelt in einem Brief: „Ich bin ein Deutscher, aber für Deutschland kann ich nicht kämpfen, wenn es sich gegen Frankreich wendet.“ Am 9.12.1939 gewinnt er in Berlin, von der Menge umjubelt, den Großen Preis von Berlin. Berlins Bürgermeister Ludwig Steeg händigt ihm die Siegerurkunde aus. In einem Brief an Ernst Berliner in den Niederlanden versichert er diesem: „Das ist mein letzter Start, meine letzte Reise nach Deutschland.“ Seine Eltern erhalten mehrfach Besuch von der Gestapo, Ende des Jahres trifft die Gestapo auch Teddy in Köln an.

Nun plant Teddy seine Flucht in die Schweiz. Bekannte eines jüdischen Freundes, des Kölner Textilhändlers Alfred Schweizer, der ein Jahr zuvor emigrieren musste, vertrauen ihm 12.700 Reichsmark an, die Teddy über die Grenze schmuggeln möchte. Der erfahrene Ernst Berliner rät ihm von dem waghalsigen Plan um, er weiß um die hiermit verbundene Gefahr. Vergeblich. Am 31.12.1939 um 9:16 Uhr bricht er mit dem Zug Richtung Schweiz auf. Das Geld hat er in die Reifen seines Rennrades eingenäht. An der Grenze in Lörrach wird er gezielt kontrolliert, das Geld wird entdeckt. Offenkundig ist er denunziert worden. Teddy Richter wird in das Lörracher Grenzgefängnis gesteckt. Vier Tage später verstirbt er unter „mysteriösen Umständen“. Heute geht man, wie auch die Darstellungen seiner Biografin Renate Franz nahelegen, davon aus, dass er gefoltert und anschließend erschossen wurde. Auch Ernst Berliner war hiervon überzeugt. Teddys Familie wird sein Tod mitgeteilt, unter Verschweigung der Umstände. Sein Bruder reist nach Lörrach, sieht die blutdurchtränkte Kleidung seines Bruders.

Am 10.1.1940 wird Albert Teddy Richter auf dem Köln-Ehrenfelder Friedhof bestattet. Obwohl sein Tod nicht öffentlich bekannt gegeben werden darf versammeln sich 200 Trauernde. Ein Mutiger macht „verbotenerweise“ Fotos von der Trauerveranstaltung, die Fotos sind erhalten geblieben. Der Völkische Beobachter vermeldet in einer Kurznotiz lakonisch den Tod des international renommierten Kölner Radidols unter der Überschrift: „Heute rot – morgen tot.“

Ernst Berliners Emigration in die USA

Ernst Berliner erfährt in den Niederlanden vom Tod seines Freundes. Zu diesem Zeit hatte der jüdische Emigrant selbst schwere Verluste erlitten: Seine Mutter Eva war 1942 nach Theresienstadt und von dort aus nach Minsk verschleppt worden. Dort verlieren sich ihre Spuren; auch weitere Familienmitglieder Ernst Berlins werden ermordet. 1947 emigriert der 66-jährige Radtrainer mit seiner Tochter weiter in die USA. Dennoch besucht er wenige Jahre später mehrfach seine frühere Heimatstadt Köln – auch, um das Schicksal seines ermordeten Freundes aufzuklären. Vergeblich. Berliner stößt nur auf Schweigen und auf Verleugnung. Dann setzt das ganz große gesellschaftliche Schweigen ein.

Die meisten Brüder Teddys sterben im Krieg. Sein betagter Vater Johann führt in der Nachkriegszeit einen erbitterten Kampf um Entschädigung und Rehabilitation seines Sohnes – vergeblich. Die Kölner „Entschädigungsämter“ sind mit ehemaligen Nationalsozialisten durchsetzt. Der aussichtslose Kampf um die „Entschädigung“ bleibt seine tiefste Wunde. Dies teilt er mit den meisten jüdischen Rückkehrern, die „dennoch“ nach Deutschland zurückgekehrt sind. 27 Jahre später, im Mai 1967, schließt die Lörracher Staatsanwaltschaft mit der lakonischen Feststellung „Das Verfahren wird eingestellt“ endgültig die Akten. Das Schweigen, die Geschichtslügen haben gesiegt. Die Ermordeten sollen in Deutschland möglichst rasch vergessen werden. Und die Erinnerung an die vertriebenen Juden stören den kollektiven Verdrängungswunsch. „Albert Richter wurde nie rehabilitiert. Eher war das Gegenteil der Fall“ lautet auch die Schlussbemerkung der 2007 erschienenen Biografie von Renate Franz.

Eine problemetische Rezeption und die verhinderte „Rehabilitation“

Kleine Symptome einer Erinnerung an Albert Richter seien erwähnt: Im Juli 1947 findet auf der Köln-Riehler Bahn ein Albert Richter Rennen statt. Dann ist er endgültig vergessen.

Mitte der 1960er Jahre wird in der DDR erstmals an den Ruhm des mutigen Widerständlers erinnert – bzw. die in ihrer Grundsubstanz „kämpferisch antisemitische“ DDR versucht sich diesen anzueignen: Albert Richters Konterfei prangt auf einer DDR-Briefmarke. Bücher und Aufsätze werden dort über „den Antifaschisten“ Richter publiziert. Sein jüdischer Trainer und Freund Ernst Berliner bleibt hingegen als Jude unerwähnt.

In der Bundesrepublik brauchte es 20 Jahre länger. 1989 erscheint ein filmisches Portrait: Auf der Suche nach Albert Richter – Radrennfahrer. 1996 dann eine bemerkenswerte, sehr verspätete Würdigung: Das gerade fertiggestellte Kölner Radstadion wird auf den Namen Albert-Richter-Bahn getauft. Und am 21.9.1997 wird dort eine Albert Richter-Gedenktafel enthüllt. Einige Jahre später werden Nachkommen von Richter und Berliner gemeinsam zu einem Radrennen eingeladen. Vor Teddy Richters früherer Wohnung in der Sömmeringstraße 72 – das alte Haus steht nicht mehr – wird auf Initiative von Sportstudenten ein Stolperstein verlegt.

Gedenktafel an der ehemaligen Rheinlandhalle, (c) R. Kaufhold

In den Niederlanden wird ein Fernsehbeitrag ausgestrahlt, in dem auch Ernst Berliners – heute in den USA lebende – Tochter Doris zu Wort kommt. 2005 folgt ein über 90-minütiges spanischsprachiges ARTE-Portrait von Michel Viotte mit dem passenden Titel: Albert Richter, le champion qui a dit nonHeute findet in Köln regelmäßig ein an Albert Teddy Richter gewidmetes Radrennen statt. Es startet jeweils in der Ehrenfelder Sömmeringstraße 72.

Eine kürzere Version dieses Beitrags erschien zuvor in der Jüdischen Allgemeinen v. 11.10.2017.
Bild oben: Grabsteinbild von Albert Richter (Melaten-Friedhof, Köln). Wie die Verfasserin der Richter-Biografie Renate Franz dazu mitteilt, wurde das Bild 1955 von seinem Rennfahrerkollegen und Freund Jef Scherens im Einvernehmen mit Richters Familie angebracht. (c) Nicola54, wikicommons

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Literatur

Renate Franz: Der vergessene Weltmeister – das rätselhafte Schicksal des Kölner Radrennfahrers Albert Richter, Bielefeld 2007.
Björn Thomann: Albert Richter (1912-1940), Radweltmeister.
Der Radrennfahrer Albert Richter: „Der vergessene Weltmeister“
Stolperstein Sömmeringstraße 70