Alexander Gauland, Spitzenkandidat der AfD, hat es auf Aydan Özoguz, Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, abgesehen. Die SPD-Politikerin sorgt schon seit Wochen für Kreislaufstörungen an Stammtischen, weil sie in einem Beitrag für den „Tagesspiegel“ geschrieben hatte, eine „spezifisch deutsche Kultur (sei) jenseits der Sprache schlicht nicht identifizierbar“. Eine gute Gelegenheit für den AfD-Mann, die Stimmung beim thüringischen Wahlvolk anzuheizen: „Das sagt eine Deutsch-Türkin. Ladet sie mal ins Eichsfeld ein, und sagt ihr dann, was spezifisch deutsche Kultur ist. Danach kommt sie hier nie wieder her, und wir werden sie dann auch, Gott sei Dank, in Anatolien entsorgen können“…
Von Detlef zum Winkel
Zuerst erschienen in: Telepolis, 04.09.2017
Die ungezogene Äußerung gab den demokratischeren Parteien Gelegenheit zu einer vielleicht gar nicht mal unwillkommenen Abgrenzung. SprecherInnen der jeweiligen Fortschrittsflügel empörten sich über das „Entsorgen“ einer deutschen Bürgerin in der Türkei. Die Assoziation einer Person mit Müll sei unverkennbar; daher handele es sich um Rassismus und Volksverhetzung.
Ist „Entsorgen“ in jedem Fall ein inakzeptabler Wortgebrauch? Nehmen wir etwa den Satz „Alexander Gauland konnten wir, Gott sei Dank, in Brandenburg entsorgen.“ Bei dieser Formulierung stellt sich in Hessen, wo der Mann jahrelang als Adjutant des vormaligen Landesoberhauptes Wallmann diente, ein Gefühl dankbarer Entspannung ein. Muss man dabei primär an eine Absonderung von Müll, an eine Entmenschlichung der angesprochenen Person denken? Oder drückt diese Aussage eher Erleichterung darüber aus, ihm nicht mehr begegnen zu müssen, es sei denn, er wird auf blau-roten Plakaten explizit angekündigt? Stellen Sie sich vor, Sie machen einen harmlosen Spaziergang zwischen Schrebergärten, da begegnet Ihnen ein missmutiger Senior, der Sie vage an irgendjemanden erinnert. Nach ein paar Sekunden drehen Sie sich verblüfft um: War das womöglich … ? Schon ist die gute Laune dahin. Über die Vermeidung solcher Situationen Befriedigung zu empfinden hat nichts mit Hass zu tun. Es zeigt nur den Anspruch auf ein gewisses Niveau im Alltagsleben.
An dem einen Wort lässt sich also nicht unbedingt Menschenfeindlichkeit festmachen. Folglich kommt es, wie so oft, auf den Kontext an. Umso mehr erstaunt, dass die allgemeine Erregung bisher überhaupt nicht dem Vorspann der inkriminierten Passage gegolten hat. „Sagt ihr, was spezifisch deutsche Kultur ist. Danach kommt sie hier nie wieder her“.
Das ist doch mal ein authentischer Satz. Was mag Gauland, der in Premium-Medien ob seines profunden Konservatismus (und insgeheim auch wegen seines mutigen Festhaltens an Hitlers Freizeitmode) geschätzt wird, damit gemeint haben? Was versteht Gauland, den der Rückschrittsflügel von CDU/CSU zur Bildungselite alter Schule rechnet, unter deutscher Kultur?
Ist doch klar, worauf der Mann hinaus will, würde man in Paris und London, in Tel Aviv, Warschau, Athen antworten. Aber in Deutschland scheint das nicht so klar zu sein. Oder doch? Jedenfalls herrscht ein instinktives Einverständnis, diesen spannenden Satz lieber zu überhören. Stellen wir uns also Frau Özoguz vor, wie sie in Erfüllung ihres Integrationsauftrags nach Eichsfeld reist, um die Einheimischen zu ermuntern, ihr zu sagen, was ihr nach Gaulands Meinung gesagt werden müsse. Dann würden die wackeren Bürger ahnen, in was für eine vertrackte Lage sie der AfD-Kandidat gebracht hat. Für Leute wie Sie hatten wir früher Konzentrationslager, kann man ja wirklich nicht antworten (und will es hoffentlich auch nicht). Da könnte ein ausgeschlafener Eichsfelder die erlösende Eingebung haben, auf jenes geniale Lied zu verweisen, das der bekannte Dichter Hermann Iseke zu Ehren des Eichsfelds verfasst hat. Seine elf Strophen preisen, was den idyllischen Flecken ausmacht und erklären, warum Frau Özoguz nimmermehr dazugehören kann. Das wird man wohl noch singen dürfen.
In der Tat zeugt die mitteldeutsche Ballade von moralischer Tiefe – „So leicht das Blut, so fest das Mark / Das Herz so gut, der Sinn so stark“ – und geographischer Breite – „Hier hat sich Nord und Süd vermählt / Zum wunderschönen Bilde“. Mitnichten hat jedoch Frau Özoguz behauptet, dass sich im Volkslied oder in der Heimatdichtung keine identitäre Kultur offenbare. Denn diese Ausdrucksformen sind sprachbasiert. Ihr Einwand bezog sich nur auf kulturelle Eigenarten jenseits der Sprache, also auf Orchestermusik beispielsweise, Tanzen, bildende Kunst, Architektur, Landschaftspflege, Städteplanung, Mode oder wie wir unseren Kaffee trinken. Was soll daran spezifisch deutsch sein?
Nun werden die lokalen Vordenker wieder ins Grübeln kommen, um der Dame aus Berlin Bescheid zu geben. Sie könnten sich auf die Jahrhunderte alte Tradition ihres Gaus berufen. Dass sie immer schon gute Christen und tadellose Landsleute waren, was durch die einmalige Dichte ihrer Kirchen, Klöster, Burgen, Schlösser und Wirtshäuser bekräftigt wird. Dass sie einst gezwungen wurden, protestantisch zu werden und dann wieder katholisch. Dass sie zum Kurfürstentum Mainz, zum Königreich Preußen, zu Westphalen, Sachsen, Hannover gehörten und der Wiener Kongress über sie verhandelt hat. Dass sie dem Kaiser die Treue hielten, bevor man sie zwang Nazis zu werden und dann auch noch Kommunisten. Um heute unter einer Berliner „Kanzlerdiktatur“ ihr Dasein zu fristen. Bei all dem haben sie ihre Sitten und Gebräuche bewahrt und sind geblieben, was sie immer schon waren, frei, stolz, deutsch und blond, genauso eben, wie der karge Boden und die harte Arbeit sie geformt haben. Deswegen kommt dort kein Flüchtlingsheim hin und keine Moschee!
Gauland könnte mit dieser Ansage zufrieden sein, zumal sie rechtlich unbedenklich wäre. Aber ist es auch das, weswegen Frau Özoguz umgehend die Flucht ergreifen und niemals wieder zurückkehren würde? Das Traditionsbewußtsein? Die Bodenständigkeit? Der verkorkste Freiheitsbegriff? Der grundlose Stolz? Wohl kaum deswegen. Oktoberfest und Sommermärchen, Bier mit Reinheitsgebot und Bratwurst ohne desgleichen, Händeschütteln und zackiges Grüßen, Lederhosen, Dirndl, Fachwerkshaus, Dieselfahrzeug, Blasmusik und Wagneropern haben in der Welt ihren unnachahmlichen Klang, erschrecken die Undeutschen aber nicht. Die kaufen das.
Der vom Salonkonservativen zum Scharfmacher mutierte AfD-Mann wollte der Integrationsbeauftragten das Furchteinflößende, das Gewaltförmige, das Grauenhafte in der deutschen Kultur vorhalten. Gerade dieses Element hat er, versehentlich?, als spezifisch ausgegeben. Daher verdanken wir ihm die Auffrischung einiger nicht unbedeutender Erkenntnisse. Kultur, die sich als National- oder Leitkultur versteht, neigt zwangsläufig dazu, sich selbst zu überhöhen und andere Kulturen zu erniedrigen. Das liegt ja schon der Definition zugrunde. Sich als Produkt und Teilhaber einer zweitklassigen oder minderwertigen Kultur zu erkennen, überfordert den Normalverbraucher und die Ordnung in seinem traditionellen Weltbild.
Darüber hinaus appelliert Gauland im Stil eines hundertprozentigen Populisten an das gesunde Volksempfinden festzulegen, was als Kultur zu gelten hat. Damit tut er dem Volk keinen Gefallen – er täuscht es. Denn das Volk besitzt das beträchtliche Privileg, kulturelle Werke zu kaufen oder es sein zu lassen. Sobald es aber die Definitionsmacht über die Ware beansprucht, verliert es sein Privileg und muss kaufen, was es bestellt hat. Dann erkennt man bald, dass man einem Hausierer auf den Leim gegangen ist. Man kann es aber auch vorher schon merken.
Drittens mobilisiert Gauland die bislang stillschweigende Übereinkunft, wonach die nationale Kultur (Leitkultur ist nur eine andere Bezeichnung dafür) immer mit Kampf verbunden ist. Unaufhörlich kämpft sie darum, ihren Untergang abzuwenden, ihre Reinheit zu bewahren, eine Vermischung zu vermeiden; von immer neuen Gefahren wird sie bedroht und muss sich ihrer erwehren, bis sie endlich irgendwann gesiegt hat. Interessanter Weise ist dieser Kampf nie eine Auflehnung der Schwachen gegen die Starken. Sondern es ist definitionsgemäß ein Kampf der vermeintlich besseren Kultur gegen die vermeintlich schlechtere Kultur, des überlegenen Kulturvolks gegen seine kulturlosen Feinde, die deswegen so gefährlich sind, weil sie die überlegene Kultur nicht anerkennen wollen, so wie Frau Özuguz angeblich die deutsche Kultur bestreitet. Folglich wird der Kampf erst mit der Entfernung der Unterlegenen zu Ende sein. Das ist der Kontext, in dem der Begriff Entsorgen einen gewalttätigen und bedrohlichen Inhalt erhält. Das Konzept der Nationalkultur ist eine Kriegserklärung gegen die Integration.
Schließlich hat Gauland den Feind mit Bedacht gewählt. Name, Geschlecht und Amt bieten ihm geeignete Symbole für Generalisierungen. Es ist nicht ganz klar, welches Etikett sich der Kandidat aktuell an sein Revers heftet, nationalkonservativ, nationalliberal, rechtsnational, kulturkonservativ? Klar ist allerdings, dass es ein Nationalsozialist nicht besser machen könnte.
Mit seiner Weigerung, ein NPD-Verbot auszusprechen, weil die Partei zu unbedeutend sei, hat das Bundesverfassungsgericht gewollt oder ungewollt nationalsozialistische Politik legitimiert. Die Richter folgten damit deutlichen Vorgaben der Politik und der veröffentlichten Meinung, den nationalsozialistischen Untergrund der Gesellschaft nicht aus der Geborgenheit der Verfassung zu entlassen. In das freigegebene Terrain stößt weniger die NPD als vielmehr die AfD nun mit aller Macht hinein. Wie marginal das ist, lässt sich schon jetzt erkennen.
Es war aber vorhersehbar. Vor hundert Jahren begann eine Entwicklung, in deren Verlauf Nationalkonservative, Nationalliberale, Kulturkonservative und Rechtsintellektuelle scharenweise zu Hitler überliefen, dessen Aufstieg sie erheblich begünstigten. Das Augenmerk gilt also gar nicht mal so sehr dem rastlosen Rentner aus Potsdam, dessen persönliche Erfolge in Eichsfeld und anderswo nichts daran ändern können, dass ihn die Geister der Vergangenheit bis ans Grab verfolgen werden. Sie gilt den Schlägertypen in seiner Partei, die der Griesgram mit Argumenten aufrüstet. Und sie muss sich auch auf jene Garde missratener Emporkömmlinge in den Unionsparteien richten, die das Stichwort von der deutschen Kultur begierig aufnehmen, um auf sich aufmerksam zu machen und von ihrer geistigen Unbedarftheit abzulenken. So ist es ausgerechnet Karl-Theodor zu Guttenberg, der sein sogenanntes Comeback auf einer Wahlveranstaltung der CSU in Kulmbach dazu nutzte, Begeisterungsstürme beim Thema Leitkultur zu entfachen. Man dürfe nicht zulassen, dass „unsere gewachsene Kultur weichgekocht“ werde. Die holzschnittartige Sprache und der plumpe Gedankengang sprechen dafür, dass ihm diese Formulierungen selber eingefallen sind. Dass sich der bekannteste Plagiator des Landes allerdings anmaßt, Lehren über Kultur zu erteilen, straft jede Annahme Lügen, er habe während seiner politischen Abstinenz etwas gelernt.
Wieder ist die Kultur etwas Hartes, das nicht verweichlichen darf, etwas Starkes, das nicht geschwächt werden soll, eine Waffe, der sich Andere beugen müssen. Ganz im Duktus der NSDAP oder, wenn man will, des Islamischen Staats, erscheint sie wie ein Schwert, das man schwingt und nicht wie ein Gedanke, den man aufschreibt oder wie ein Ton, den man spielt. Nachdem wir schon wissen, wie der Freiherr mit Texten ringt, möchten wir lieber nicht erleben, wie er mit einem Klavier kämpft oder eine Leinwand pflügt. Obwohl es noch die beste Beschäftigung für ihn wäre.
Manche halten die Debatte über eine deutsche Leitkultur für schädlich und würden sie gern so schnell wie möglich beenden. Das ist verständlich, doch drängt es eben viele Landsleute, am Wettbewerb Deutschland findet seine Superkultur teilzunehmen. Das wird uns noch mächtig ärgern, aber auch viel Spaß bereiten, wenn sich Innen- und Verteidigungspolitiker, Polizisten und Soldaten bemüßigt fühlen, ihre Einsichten beizusteuern. So oder so wird diese Debatte immer um den Nationalsozialismus kreisen. Welchen Anteil hatte die spezifisch deutsche Kultur daran, wer waren die Wegbereiter seiner Ideologie und wie konnte es geschehen, dass sich das, was an der deutschen Kultur wirklich Kultur war, im feindlichen Exil versammelte, während sich die Folklore beinah vollständig den Nazis ergab. Anders ist es nicht möglich, über eine deutsche Leitkultur zu reden. Wäre es anders möglich, hätten Alexander Gauland und andere Spin-doctors, ggf. auch falsche Doktoren, 50 Jahre Zeit gehabt zu erklären, wie das gehen soll. Aber das wollten sie vielleicht gar nicht.
Bild oben: Alexander Gauland im Januar 2014 (Ausschnitt), (c) Metropolico.org, wiki commons