Herausgegriffene Einzelfälle

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Niklas Frank über das Fortdauern des Nazismus in Deutschland nach 1945…

Von Martin Jander
Eine gekürzte Version erschien zuerst in: Jüdische Allgemeine v. 06.07.2017

Entnazifizierung geriet in beiden Teilen Deutschlands zum Desaster. Die meisten Publikationen dazu stellen die Politik der Alliierten nach 1945 in den Mittelpunkt. Die deutsche Gesellschaft und ihr Umgang mit Entnazifizierung gerieten dabei etwas aus dem Blick. Ganz anders in dem neuen Buch des prominennten Journalisten Niklas Frank.

Frank hat sich während journalistischer Reisen in den Staatsarchiven der deutschen Bundesländer wahllos Entnazifizierungsakten geben lassen und erzählt ihre Geschichten: „Um siebzig Jahre nach Kriegsende das wieder gefährlich auftrumpfende Wesen der Deutschen verstehen zu können, suchte ich – ganz unwissenschaftlich – in wahllos herausgegriffenen Einzelfällen nach Beweisen, warum die deutsche Mistkugel wieder auf dieser ausgefahrenen Spur entlangzurollen beginnt.“

Da ist zum Beispiel die „Schauspielerische Glanzleistung“. Der Autor fand in einer der Akten eine Meldung aus der Tageszeitung Welt vom 10. Mai 1947. Da hieß es: „Der Schauspieler Werner Krauß wurde von der Spruchkammer in Stuttgart in die Gruppe der Entlasteten eingereiht. Die vier Rollen in dem Film ´Jud Süß` habe er übernommen, erklärte Werner Krauß während des Spruchkammerverfahrens, um eine etwaige antisemitische Verzerrung durch vier verschiedene Schauspieler zu verhindern.“ Frank kommentiert diese Meldung knapp: „Charakterlose Glanzleistung“. Eine Zeitungsnotiz, die für sich spricht.  

Ungezählter solcher „Einzelfälle“ von prominennten und weniger prominenten Nazis  werden in diesem Buch nacherzählt. Niklas Frank resümiert seine Ergebnisse, wissenschaftliche Zusammenfassungen ironisierend, in fünf Punkten: Studenten hätten ein „brodelndes Reservoir an Übeltätern“ gebildet, Facharbeiter die Tendenz gehabt, sich „in kleinen Parteiämtern“ wie Himmler und Streicher aufzuführen, zwei Drittel aller Denunzianten seien „Denunziantinnen“ gewesen, die „feigsten Lügengespinste“ hätten Gymnasiallehrer beiderlei Geschlechts gewoben und der Inhalt von Entnazifizierungsakten aus dem Süden Deutschlands sei „hinterfotziger und gemeiner“ als derjenigen aus dem Norden.

Frank gelingt mehr, als er für sich beansprucht. Ralph Giordano hat schon vor vielen Jahren luzide die Welt der „zweiten Schuld“ analysiert, jener deutschen Tätergesellschaft, die nach Judenmord und Vernichtungskrieg manche Male in Schweigen verfiel und andere Male Befreier, Ankläger wie überlebende Opfer nach altem Muster der Grausamkeit, des Völkermords und der Lüge zieh. Niklas Frank ergänzt und erweitert dieses Bild von der Geburtsstunde dieser Welt der Nazis nach den Nazis.

Aber dennoch fehlt seiner bedrückenden Erzählung ein entscheidendes Element. In einer seiner kurzen Geschichten über einen Jugendfreund, kommentiert Frank dessen Reaktion auf die Lektüre der Entnazifizierungsakten des Großvaters. Die Folge sei, so Frank, für seinen Freund, einen Arzt, sehr „naheliegend“ gewesen. Er sei „nicht in Schuldgefühlen“ versunken, „wanzte sich nicht in schleimig-philosemitischer Art, die auch nur eine andere Art von Antisemitismus“ sei, „an Israel oder überlebende Juden in Deutschland heran“, sondern „bekam eine lodernde Wut.“

Frank betritt die Welt der überlebenden Opfer und Widerständler in Deutschland nach 1945 nicht. Täterkinder, die dies tun, kanzelt er harsch ab. Ein vergleichbares Zitat findet sich im ganzen Rest des Buches zwar nicht wieder. Aber es ist mit diesem „herausgegriffenen Einzelfall“ gerade so wie mit denjenigen, die Frank in seinem Buch so brillant vorführt.

Es fehlt diesem Buch der Versuch, sich auf die Erfahrungen der überlebenden Opfer und Widerständler in Deutschland nach 1945 einzulassen. Die Welt der verweigerten Rückgabe von Eigentum, der nicht entschädigten Schäden an Leib und Seele, der verschwundenen Freunde und Familienangehörigen, der nicht bezahlten Sklavenarbeit, des Hasses auf Israel oder gar die Welt der lange fortdauernden Entrechtung wie z. B. bei Sinti und Roma.      

Frank erzählte in seinen vorherigen Büchern („Der Vater“1987 / „Meine deutsche Mutter“ 2005 / „Bruder Norman!“ 2013) die Geschichte seiner Familie als Beispiel für die gewalttätigen, antihumanen, nicht demokratischen, antizivilisatorischen Traditionen Deutschlands während und nach dem Ende der Shoah und des deutschen Vernichtungskrieges. Schreibend sucht er verinnerlichte Haltungen des Nazismus exemplarisch vorzuführen, kommentierend zu überwinden und zu zeigen, wie wirkmächtig sie bis heute sind.

Frank setzt diese exemplarische Analyse und Kritik mit seinem Buch zur Entnazifizierung fort, vergisst jedoch, dass zu den problematischen Traditionen nicht nur Hass, Missgunst und Neid gehören, sondern auch verweigertes Mitgefühl, Gefühlskälte in all ihren Schattierungen, Unfähigkeit zu Reue, Scham und Versöhnung. Seinem Bild von den „siebzig Jahre nach Kriegsende“ wieder „gefährlich auftrumpfenden Deutschen“ fehlt ein ganz wesentlicher Aspekt, die Abwesenheit von Empathie mit den überlebenden Opfern und Widerständlern. Da ist dann Giordanos „Zweite Schuld“ doch genauer.

Niklas Frank, dunkle seele – feiges maul. Wie skandalös und komisch sich die Deutschen beim Entnazifizieren reinwaschen, Bonn 2016, Dietz, 579 S., 29.90 Euro, Bestellen?