Das komplette Originalmanuskript des Romans von Franz Kafka „Der Prozess“ wird für vier Wochen im Martin-Gropius-Bau in Berlin ausgestellt…
Von Yvonne de Andrés
Berlin ist für Franz Kafka zu Beginn des Jahres 1914 ein Ort der Träume und Hoffnung. Hier wohnt seine Verlobte Felice Bauer, deren Nähe er sich einerseits ersehnt, aber vor der er sich auch fürchtet. Mit Berlin verbindet er die Vorstellung, frei und selbstbestimmt schriftstellerischer Tätigkeit widmen zu können: „Ich bin unzweifelhaft […] in einer mich ganz umgebenden Hemmung, mit der ich aber noch ganz gewiss nicht verwachsen bin, deren zeitweise Lockerung ich merke und die gesprengt werden könnte. Es gibt zwei Mittel, heiraten oder Berlin, das zweite ist sicherer, das erste unmittelbar verlockender“, notiert Kafka am 23. Februar 1914.
Anstoß für den Roman war die Trennung am 12. Juli 1914 Franz Kafkas von seiner Verlobten Felice Bauer. Diese Entlobung fand im damaligen Hotel Askanischer Hof statt, direkt gegenüber dem heutigen Martin-Gropius-Bau statt. Wie einen „Gerichtshof im Hotel“ beschrieb Kafka das Treffen in seinem Tagebuch.
Die über drei Räume verteilte Archiv- Ausstellung im ersten Stock des Martin-Gropius-Baus ermöglicht eine unterschiedliche Annäherung an Kafkas „Der Prozess“. Im ersten Raum befinden sich in eigens gefertigten Vitrinen, die die erhaltenen eng handgeschriebenen 171 Manuskriptseiten vor Licht und Luft schützen. Die V-förmigen Vitrinen gleiten im Raum und unterstreichen die räumliche Annäherung. Es entsteht der Eindruck, als würden wir Betrachter Franz Kafka bei der Entstehung von Literatur zusehen können. Ihm quasi über die Schulter sehen.Dieser sinnliche Blick macht die Arbeit des Autors wieder lebendig.
In den sechs Monaten, vom Beginn des ersten Weltkriegs zwischen 1914 und 1915, schrieb Kafka an „Der Prozess“. Dies erfolgt nicht linear. Häufig arbeitete er an mehreren Kapiteln gleichzeitig. In zehn unterschiedlichen Quartheften á 40 Blätter hielt er den Romanfest. Bei einigen Passagen wurde kräftig gestrichen, korrigiert und ergänzt. „Wenn ich mich nicht in einer Arbeit, rette bin ich verloren“, vertraut er am 28. Juni seinem Tagebuch an. Der Schreibprozess gerät ins Stocken, und Kafka beendet den Roman nicht. „Der Prozess“ gilt heute als das wichtigste Werk des Schriftstellers und eines der wichtigsten Romane des 20. Jahrhunderts.
„Der Prozess“ und seine Geschichte
Kafka befand, dass nur ein Kapitel veröffentlichungswürdig sei. 1915 erschien die „Thürhütergeschichte“ aus dem Kapitel „Im Dom“ unter dem Namen „Vor dem Gesetz“. Kafka schenkte das gesamte Manuskript an seinen Freund Max Brod mit der Anweisung, alles andere sollte verbrannt werden. Max Brod, seinem späteren Nachlassverwalter, ist es zu verdanken, dass er noch zu Kafkas Lebzeiten sich dieser Anweisung widersetzte. Brods große Herausforderung bestand darin, aus dem Arrangement der „großen Papierbündel“ den Roman in eine Reihenfolge zu bringen. 1925, ein Jahr nach Kafkas Tod, veröffentlichte ereine Auswahl aus dem Manuskript. Diese Arbeit der Reihenfolge von Max Brodwird in der Ausstellung anhand der Lesestation der digitalen Ausgabe vom Stroemfeld Verlag gezeigt. Mich hat beeindruckt, dass Max Brod bei seiner Flucht 1939 von Prag nach Palästina nicht seine eigenen Manuskripte in seinem Koffer trug, sondern die von Kafka. Später, nach 1945, schenkte er den Roman seiner Lebensgefährtin Esther Hoffe.
Der zweite Raum bietet eine filmische Ergänzung. Hier wird der beeindruckende Film „Der Prozess“ von Orson Wells aus dem Jahr 1962 gezeigt. Anthony Perkins spielt die Hauptrolle als Bankprokuristen K, Jeanne Moreau als Fräulein Bürstner und Romy Schneider als Leni und Orson Wells selber als Rechtsanwalt Hastler. Im dritten Raum befinden sich zum einen ein Kabinett mit unbekannten Fotos aus Kafkas Zeiten und Fotos der Familie aus der Sammlung von Klaus Wagenbach. Die Bilder dokumentieren eine zerstörte und verschwundene Welt. An einer Wand befindet sich eine große Vitrine, die zeigt, dass der unvollendete Roman aus dem Jahr 1914 nach wie vor zu den meistübersetzten Büchern der deutschen Literaturgeschichte gehört. So konnte mit Hilfe der Goethe-Institute 60 lieferbare fremdsprachige Ausgaben von „Der Prozess“ zusammengetragen werden.
Das Deutsche Literaturarchiv Marbach hatte das Manuskript 1988 mit Hilfe von Spenden und öffentlichen Geldern für die damalige Rekordsumme von 3,5 Millionen Mark ersteigert. Die Ausstellung „Franz Kafka. Der ganze Prozess“ in Berlin läuft bis Ende August. Sehr sehenswert.
Auf einen Blick
Was: Franz Kafka. Der ganze Prozess
Wann: 30. Juni bis 28. August 2017
Öffnungszeiten: Mittwoch bis Montag 10 bis 19 Uhr
Wo: Martin-Gropius-Bau
Eintritt: 7 Euro, ermäßigt 5 Euro
Adresse: Martin-Gropius-Bau, Niederkirchnerstraße 7, 10963 Berlin
Fotos: (c) Yvonne de Andrés