Der Kern des Holocaust

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In vielen Publikationen über die Verbrechen der Deutschen Wehrmacht und der sie begleitenden Einsatzgruppen werden auch die Vernichtungsstätten Belzec, Sobibór und Treblinka erwähnt und beschrieben. Claude Lanzmann hatte 12 Jahre an seinem Film über die Shoa gearbeitet, der 1985 auf der Berlinale gezeigt wurde. Hier sah ich sie zum ersten Mal. Stephan Lehnstaedt hat sie nun in seinem neuen Buch akribisch beschrieben…

Von Beate Niemann

Er fügt die verstreut vorhandenen Erkenntnisse über die Orte der Verbrechen zusammen und unterlegt seine Darstellung im Detail mit umfangreichem

Zahlenmaterial, nennt die Namen der Verantwortlichen des unsäglichen Geschehens in den Jahren 1942 bis zur Auflösung der Mordstätten 1943. Woher kamen sie und wohin gingen sie nach ihrer Auflösung.

Nachdem im August 1941 die Massentötungen im Rahmen der Euthanasie offiziell gestoppt wurden, sollten die Hauptakteure nicht untätig bleiben müssen, sondern ihre erworbenen Kenntnisse über die schnelle Vernichtung von Menschen auch mit Zuhilfenahme von Gas, in den besetzten Ländern, erst in Polen, dann in Weissrussland und der Sowjetunion, anwenden.  Die Vernichtungsstätten Belzec, Sobibór und Treblinka wurden 1942 mit geringsten Mitteln in Kürze gebaut.

Die „Aktion Reinhardt“, genannt nach Reinhard Heydrich, Stellver. Reichsprotektor Böhmen und Mähren, der an seinen Verletzungen, die er bei einem Attentat bei Prag im Juni 1942 erhalten hatte, gestorben war, begann. Die Vernichtung der polnischen Juden, Dorf für Dorf, wurde mit einer unglaublichen Schnelligkeit und Gründlichkeit durchgeführt. Danach kamen die Deportationszüge aus Deutschland und Westeuropa.

„Die deshalb in den Osten geschickten Täter bildeten ein eingespieltes Team, das für den Betrieb der Vernichtungslager zuständig war. Niemand musste zum Mord gezwungen werden, ganz im Gegenteil arbeiteten die früheren Pfleger und Polizisten aus Überzeugung und hatten kein Interesse daran, diese Tätigkeit aufzugeben.“  (Zitat S. 42) Unter dem Befehl weniger Deutscher führten gefangene Rotarmisten, sogenannte fremdvölkische Hilfswillige, Ukrainer und deutschstämmige Russen, die Befehle zur Ermordung von hunderttausenden von Juden aus. Zur Spurenvernichtung wurde auch hier, wie in anderen Ländern, die sogenannte Enterdung durchgeführt. Die Körper der Ermordeten wurden ausgegraben, verbrannt und die Asche verstreut.  Belzec, Sobibór und Treblinka, eigens für die Vernichtung von Menschen geschaffene Mordstätten, wurden wieder abgebaut. Belzec wurde bereits im Mai 1943 geschlossen, Sobibór und Treblinka Ende November 1943. Die Lagerstätten wurden planiert, Wiesen und angelegt, Bäume gepflanzt. Nichts sollte mehr an die Verbrechen erinnern.

Natürlich war das Geschehen von der Bevölkerung nicht unbemerkt geblieben, man hatte gute Geschäfte mit den Tätern und den Opfern gemacht. Nachdem die Deutschen verschwunden waren, wurden von der Bevölkerung die Mordstätten umgegraben, es wurde nach vergrabenen Schätzen gesucht, die Bepflanzung war damit zerstört. Das Geschehene wurde wieder sichtbar.

Alle noch lebenden Juden wurden nach Majdanek gebracht, in das Zwangs- und Vernichtungslager nur zwei Straßenbahnhaltestellen von Lublin entfernt. „Bis zum 3. November 1943 hatten sich fast 3000 deutsche Polizisten in Lublin gesammelt. Unter dem Namen „Aktion Erntefest“ sollten sie in den kommenden drei Tagen rund 42 000 der etwa 50 000 jüdischen Zwangsarbeiter erschießen.“ (Zitat S. 141) Auch in den kleineren Lagern rund um Lublin wurden die Menschen erschossen, etwa 15 000.

Die Zahl der Opfer insgesamt gibt Klaus Brill mit ca 1,7 Millionen Juden und etwa 50.000 Roma an. („Aus dem Dunkel der Geschichte“, SZ vom 19.September 2014) Die deutschen „Spezialisten“ zogen weiter nach Triest.

Stephan Lehnstaedt kommt zu dem Schluss: „Trotz der düsteren Kriegslage und der stetig zunehmenden Bombenangriffe der Alliierten waren der ökonomische Aspekte zu keiner Zeit so wichtig wie das ideologische Ziel der „Endlösung“. (Zitat S. 141)

Auf einer Reise durch Ostgalizien 2014 gingen wir durch die ehemaligen jüdischen Dörfer und Kleinstädte, in denen jüdisches Leben mehr als 900 Jahre existierte – bis die Deutschen kamen.  Einige große alte Friedhöfe sind fast unzerstört, wenige Synagogen und Grabmäler berühmter Chassiden sind erhalten. Lokalhistoriker zeigten uns Orte, heute Wiesen, kleine Wälder oder bebaute Felder, auf denen die in der Umgebung lebenden Juden erschossen worden waren. In einem Ort wurden uns am Rand des Dorfplatzes alte, vom Verfall bedrohte Holzhäuser gezeigt mit der Bemerkung, hier lebten die Juden und bis heute ziehhe keiner in die Häuser ein. Auf dem Dorfplatz selbst sind eine Reihe von Fototafeln aufgestellt, mit Bildern des jüdischen Lebens aus den dreißiger Jahren. Am Ortsrand versinkt eine Synagoge aus der Spätrenaissance. In Riaski, einem kleinen Dorf in der Nähe von Izbica gibt es einen Erinnerungsstein, den der Staat Israel aufstellen ließ. Er befindet sich auf einem kleinen Hügel zwischen zwei Dörfern, der Weg von einem zum anderen Ort führt über diesen Hügel. Das bedeutet, der Stein ist mit Unrat übersäht. Auf einer Seite des Weges liegen versteckt im beginnenden Wald drei alte jüdische Grabsteine, zerstört, hier üben Jugendliche das Zielen und Treffen mit Flaschen. Uns wurde erklärt, dass auch hier, 10 Meter weiter, mehr als 2000 Juden umgebracht wurden.

Die Ruhe in der Gedenkstätte Belzec war unerträglich. Nicht, weil Besucher so leise und zurückhaltend den Ort betraten, sondern weil es kaum Besucher gab. Auch hier wurden wir darauf hingewiesen, dass hinter dem Denkmal selbst, hinter dem Zaun, die Massenerschießungen erfolgten. Heute ist auch hier eine Wiese mit vereinzelten Bäumen, wenigstens kein bebautes Feld wie in den Dörfern.

Auf anderen Fahrten sah ich die großen Mordplätze von Sobibór und Teblinka, menschenleer, wie auch in Weißrussland und Russland.

Die Fragen, die sich mir aufdrängen:

Beteiligt sich die Bundesrepublik Deutschlands  wenigstens heute, 2017,  an den Kosten für die Aufarbeitung und Forschungen, an den Grabungen, Sicherstellen der Fundstücke,  Errichtung und Erhalt  der Gedenkorte? Stephan Lehnstaedt zitiert eine Aussage der damaligen Staatsministerin im Auswärtigen Amt, Cornelia Pieper aus dem Jahr 2013: „Man hat uns gesagt, dass man bis jetzt Projekte mit anderen Partnern vorbereitet, also mit den Ländern, die davon betroffen waren, die auch Inhaftierte hatten. Da war Deutschland nicht dabei.“ (S. 176) Christoph Heubner, Exekutiv-Vizepräsident des Internationen Auschwitz-Komitees appellierte 2014 erneut an die Bundesregierung, das Projekt der Grabungen und Sicherstellungen in Sobibór zu fördern. Eine Antwort wurde bisher nicht veröffentlicht.

Unser Land, aus dem die Täter kamen, das nach dem alles zerstörenden Krieg wie Phönix aus der Asche, mit großer Unterstützung der USA zum   reichsten Land Westeuropas wurde, ist nicht bereit, sich wenigstens zu beteiligen? Wie groß sind die Flächen, die den betroffenen Ländern nicht zur Verfügung stehen für ihre Bedürfnisse, weil es sich um „unberührbare“ Flächen handelt, durch Millionen von dort Ermordeten? Ich kann schon seit Jahren keine Pilze oder Blaubeeren aus den kontaminierten Ländern kaufen.

Um deutsche Kriegsgräber in den Ländern sorgt sich die Bundesregierung. So wurde 2013 bei Smolensk ein deutscher Soldatenfriedhof für 75 000 Tote eingeweiht. Die Größe der benötigten Fläche kann man sich vorstellen. Auch einige Angehörige von hier beigesetzten Männern waren Teil der deutschen Delegation, geführt vom damaligen Minister der Verteidigung de Maizière. Es wurde Empörung und Unverständnis von einigen Familien geäußert, dass sich mehrere Dörfer rund um Smolensk geweigert hatten, den Soldatenfriedhof in ihrer Nähe bauen zu lassen.  Wir wagen es, den heutigen Bewohnern die Gräber derjenigen, die an der Zerstörung und Vernichtung ihrer Angehörigen beteiligt waren, vor ihre Haustüren zu setzen? Ich wollte sofort wissen, wo sich denn die Gräber der mehr als 3.5 Millionen in Deutschland „gestorbener“ sowjetischen Kriegsgefangenen und Zwangsarbeiter befinden. Innerhalb einer Woche bekam ich einen ausführlichen und freundlichen Brief aus dem Ministerium der Verteidigung. Im Anhang war u.a.  eine Liste der „Ost- und südosteuropäischen Kriegstote auf den Friedhöfen in Deutschland“ beigefügt. Danach gibt es in Deutschland Gräber oder Gedenkstätten für 459 227 Kriegstoter der UdSSR. Wo aber sind die Gräber für 3 Millionen von ihnen, wenn 3.5 Millionen sowjetischer Kriegsgefangener/ Zwangsarbeiter nach Deutschland deportiert worden waren?

Ich wünsche dem Buch eine größtmögliche Verbreitung in der Hoffnung, dass es Familien anregen wird, über ihre Familiengeschichten nachzudenken, war der Großvater „nur“ Kradfahrer, was versteckt sich bis heute hinter diesen vielen harmlos anmutenden Bezeichnungen. Erst vor Kurzem wurde ich nach einer Lesung gefragt, ob ich denn über die Tätigkeiten der Ordnungspolizei im Baltikum etwas wüsste, sie führten doch nur die Karteikarten?!

Stephan Lehnstaedt: Der Kern des Holocaust. Belzec, Sobibór, Treblinka und die Aktion Reinhardt, C.H.Beck Verlag München. 207 Seiten, € 14,95, Bestellen?

Beate Niemann ist Autorin des Bandes „Ich lasse das Vergessen nicht zu„.