Die verlorene Ehre des Bartholomäus Schink

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Eine späte Erinnerung an einen Kölner Edelweißpiraten – mit teils sehr fragwürdigen Anteilen…

Von Roland Kaufhold

Es war eine Szene, die erst 30 Jahre später öffentlich erinnert wurde: 10. November 1944: Auf einem öffentlichen Platz im Kölner Arbeiterstadtteil Ehrenfeld hängt die Gestapo sechs Jugendliche im Alter zwischen 16 und 18 Jahren und sieben weitere Erwachsene auf. Ohne Prozess und Urteil. Zahlreiche Zuschauer mussten zur Abschreckung und Einschüchterung der grausamen Zeremonie beiwohnen. Mehrere dieser Jugendlichen gehörten der Jugendgruppe der Edelweißpiraten an. Einer von ihnen war der 16-jährige Bartholomäus Schink. Für Freunde war er einfach „der Barthel“. Sein jüngerer Bruder musste der Hinrichtung beiwohnen. Schinks Schicksal, den massiven Schwierigkeiten, die auf dem langen Weg bis zu seiner Rehabilitation auftraten, ist dieses Buch gewidmet.

Viele Jahrzehnte lang galten die Edelweißpiraten – ein lockerer Verband von wohl mehreren tausend „widerständigen“ Jugendlichen aus Köln und dessen Umgebung[i] – in der Öffentlichkeit und Rechtsprechung als Kriminelle. Mitte der 70er Jahre begann der Kampf um die „richtige“ Erinnerung. 1978 berichtete das Fernsehmagazin Monitor darüber, dass Bartholomäus Schink und viele seiner Freunde, die sich dem Nationalsozialismus widersetzt, sich nicht angepasst hatten, immer noch als Kriminelle galten – und nicht als widerständige Jugendliche, die „nicht mitgemacht hatten“ beim deutschen Wahn.  1981 veröffentlichte der Journalist Alexander Goeb – seinerzeit Redakteur einer DKP-nahen Zeitung, mit den damit einhergehenden ideologischen Positionen und Einengungen – ein Jugendbuch über Schinks Schicksal, das sehr erfolgreich war; 2012 erlebte es die 9. Auflage. Der 1940 geborene Goeb ist auch der Autor dieses neuen Werkes.

Erstmals rehabilitiert wurden Bartholomäus Schink und einige weitere Edelweißpiraten wie Jean Jülich und der spätere Diplomat Michael Jovy durch die Recherchen eines Journalisten: Der jüdische Journalist Peter Finkelgruen, der in den 80er Jahren in Israel als Korrespondent der Deutschen Welle und als Vertreter der FDP-nahen Friedrich Naumann Stiftung arbeitete, setzte durch, dass diese Edelweißpiraten 1984 durch Yad Vashem als „Gerechte unter den Völkern“ geehrt wurden. Dies ist eine sehr hohe Auszeichnung in Israel, die in einer feierlichen Zeremonie durchgeführt und in israelischen Medien stark wahrgenommen wird. Verliehen wird sie an Menschen, die während der Zeit des Nationalsozialismus „ihr Leben riskierten, um Juden zu retten“. Erstmals verliehen wurde diese Auszeichnung im Jahr 1953. Dennoch: In Köln galten diese Edelweißpiraten weiterhin als Kriminelle. Auf Peter Finkelgruen nimmt Goeb in seinem Buch zwar mehrfach Bezug; es hätte seinem Buch aber keinen Abbruch getan, wenn es aktuelle, insbesondere auf haGalil veröffentlichte Beiträge von und über Finkelgruen berücksichtigt hätte. Stattdessen belässt er es bei der Erwähnung eines sehr frühen, in dem Band von Broder & Lang 1979 veröffentlichten und heute somit nicht mehr greifbaren Beitrag. Dieser Beitrag ist zwischenzeitlich auf haGalil veröffentlicht worden, was der Autor durchaus hätte wahrnehmen können.[ii] 1986 wurde an der Köln-Ehrenfelder Hinrichtungsstätte eine Erinnerungstafel veröffentlicht und ein kleiner Abschnitt dieser – bis heute wenig attraktiven – Straße wurde nach Bartholomäus Schink benannt. Kleine Erfolge, dem zählebigen Widerstand gegen das Erinnern abgetrotzt, an die dieses Buch erinnert.

Goeb rekonstruiert in knapper Weise die Zeitumstände und den Widerstand der Edelweißpiraten. Er gibt Interviews mit einigen Zeitzeugen, Freunden von Bartholomäus Schink, wieder – der größte Teil von ihnen ist zwischenzeitlich verstorben. Hilfreich sind die Beschreibungen der langjährigen Versuche, die Edelweißpiraten zu rehabilitieren. In den 50er Jahren war ein Antrag von Schinks Mutter auf dessen „Wiedergutmachung“ abgelehnt worden. Nach der Auszeichnung durch Yad Vashem versuchten 1984 einige SPD-Landtagsabgeordnete, endlich eine posthume Rehabilitation der Edelweißpiraten zu erreichen – vergeblich (S. 131-141). Die bürokratischen Hürden, das innere Widerstreben, die Loyalität mit der Elterngeneration, das Vertrauen auf die Akten des nationalsozialistischen Unrechtsregimes waren zu ausgeprägt. 20 Jahre später waren es die Berichte eines engagierten Journalisten der Boulevardzeitung Express, Robert Baumanns, die das Thema wieder öffentlich machten und den SPD-Regierungspräsidenten (und späteren Kölner Oberbürgermeister) Jürgen Roters ermutigten, 2005 einige dieser Edelweißpiraten (Gustav Bermel, Franz Rheinberger, Bartholomäus Schink und Günter Schwarz) in einer öffentlichen Zeremonie zu rehabilitieren. Warum zwei weitere hingerichtete Jugendliche, der seinerzeit 16-jährige  Johann Müller und der 18-jährige Adolf Schütz, nicht gleichfalls geehrt wurden, „blieb offen“, so Goeb (S. 164). Roters führte in seiner Presseerklärung aus: „Über viele Jahre ist äußerst kontrovers diskutiert worden, ob es sich bei diesen jungen Menschen um Mitglieder einer kriminellen Bande oder um Widerstandskämpfer gegen das verbrecherische NS-Regime gehandelt hat. (…) Die erneute Beschäftigung mit den Kriegs- und Nachkriegsakten und der Kontakt zu Zeitzeugen hat mich zu der Überzeugung kommen lassen, dass es sich bei den Ehrenfelder Edelweißpiraten um politische Widerstandskämpfer handelt. Mir liegt daran, die Betroffenen politisch zu rehabilitieren und sie als Widerstandskämpfer anzuerkennen.“ (S. 164) Eine historisch betrachtet späte, aber dennoch bemerkenswerte Entscheidung.

Sechs Jahre später, 2011, wurden einige von ihnen – Hans Fricke, Gertrud Koch, Peter Schäfer, Wolfgang Schwarz (der Bruder des ermordeten Günther Schwarz)und Fritz Theilen – mit dem Verdienstkreuz am Bande ausgezeichnet. Fritz Theilen, der bereits 1984 ein erinnerndes Buch über sein bedrohtes Leben als Edelweißpirat veröffentlicht hatte,[iii] starb ein Jahr später.

Abschließend hadert der Autor mit der bis heute ambivalenten Stellungnahme städtischer Historiker des EL-DE Hauses, die diesen Jugendlichen bis heute den Status von Widerstandskämpfern verweigerten.[iv] In einem abschließenden Satz mahnt Goeb die Schaffung eines Edelweißpiraten-Preises an – aber schafft es zugleich nicht, das von Jan Krauthäuser organisierte traditionsreiche Kölner Edelweißpiratenfestival, auf dem u.a. Jean Jülich und Gertrud „Mucki“ Koch regelmäßig aufgetreten sind, auch nur mit einem Wort zu erwähnen.

Eine persönliche Nachbemerkung: Ich habe das Buch nur mit Ambivalenzen gelesen. Mehrfach wollte ich es zur Seite legen – etwa wenn der Autor in der Tradition der früheren DKP-Vertreter (den jüngeren Lesern, denen dieses doktrinäre Leid erspart geblieben ist, sei gesagt: also einer stalinistischen, strikt antisemitischen westdeutschen Partei, die bei demokratischen Wahlen stets 0,4 Prozent erlangte, deren Mitglieder das Leben im Westen dem in der DDR vorzogen – aber dennoch wie orthodoxe Katholiken nachbeteten, dass nur DDR-Atomkraftwerke toll und sicher seien; dass selbstverständlich nur „westliche“ Atomwaffen „ den Weltfrieden“ gefährdeten und dass es vor allem in der DDR keine „ehemaligen Altnazis“ gäbe. Vom vulgären Antisemitismus der DDR, dessen Fortwirkungen wir heute bei Pegida-Kundgebungen und bei Angriffen gegen Flüchtlinge erleben können, möchte ich erst gar nicht sprechen[v]…) auf die kommunistischen Heroen verweist, auf die „Restauration“ in Westdeutschland, auf „Kalter Krieg und Edelweißpiraten“, auf die ruhmreiche VVN, auf den Wert von DDR-Archiven für die „Aufarbeitung“ der bundesrepublikanischen Geschichte[vi], auf die bittere Verfolgung von Kommunisten in der Bundesrepublik, auf „Berufsverbote“ in der Bundesrepublik (die stalinistischen Parteien wie der SED selbstredend völlig fremd waren) usw.  Ich habe „nachgeschaut“ und erfahren, dass der Buchautor Goeb nach internen Kämpfen innerhalb dieser stalinistischen und antisemitischen Sekte, die mit seiner Kündigung aus einer DKP-nahen Zeitung endeten, wohl „schon“ 1982 aus „der Partei“ ausgetreten ist. Offenkundig hat es nicht viel geholfen. Zumindest winzigste Relativierungen und Verweise auf die „andere Seite“ hätten dem Buch nicht geschadet. In seiner Darstellungsweise, Sprache und seinen Auslassungen hat es mich an verschiedenen Stellen an selbstgerechte Werke eines von der DDR finanzierten ehemaligen Kölner Verlages erinnert, der von kenntnisreichen Spöttern bereits in den 1970er und 80er Jahren als Pahl-Rubelstein-Verlag bezeichnet wurde…

Wenn man hiervon absieht: Das Buch ermöglicht eine Erinnerung an den 16-jährig ermordeten Bartholomäus Schink.

Alexander Goeb: Die verlorene Ehre des Bartholomäus Schink. Jugendwiderstand im NS-Staat und der Umgang mit den Verfolgten von 1945 bis heute, Brandes & Apsel 2016, Euro 16,90, Bestellen?

[i] Exemplarisch verwiesen sei auf diese Websites: http://www.museenkoeln.de/ausstellungen/nsd_0404_edelweiss/index.html; sowie:  http://www.jugend1918-1945.de/thema.aspx?s=4962&m=4959&open=4962

[ii] Peter Finkelgruen: Fremde von gestern – und Feinde von heute (oder was mich ein jüdischer Edelweißpirat lehrte)…  In: Broder, H. M. & M. R. Lang (Hrsg.) (1979): Fremd im eigenen Land. Juden in der Bundesrepublik. Frankfurt a.M. (Fischer). In aktualisierter Version 2012 publiziert auf haGalil.com: https://www.hagalil.com/2012/03/edelweisspirat/

[iii] Fritz Theilen – Edelweißpiraten, Fischer Verlag 1984; Neuauflage beim Kölner Emons Verlag. Es ist die „Geschichte eines Jugendlichen der trotz aller Drohungen nicht bereit war, sich dem nationalsozialistischen Erziehungsanspruch unterzuordnen.“ http://www.emons-verlag.de/programm/edelweisspiraten. Dokumentiert ist seine Vita auch in dem Film „Nachforschungen übe die Edelweißpiraten“ von Dietrich Schubert (1980).
[iv]Das Kölner EL-DE Haus hat, so sei ergänzend hinzugefügt, auf seiner Website nur einen kurzen, B. Schinks Wirken skizzierenden Beitrag veröffentlicht. In diesem Kurzportrait erscheint Schink als eine eher marginale Person innerhalb der Edelweißpiraten; auch seine Einordnung als „Krimineller“ erscheint in diesem offiziellen Portrait als möglich. Zitiert sei: „Am 5.8.1944 wurde Sch. als Freiwilliger in die Waffen-SS aufgenommen. Sch. und Rh. wurden am 4.9. zum Westwall eingezogen, flohen aber bereits einen Tag später. Sch. ging weiter zur Arbeit und erklärte seinem Arbeitgeber, dass er vom Westwall entlassen worden sei. Ab 1933 war er Mitglied des Jungvolks, ab 1942 der HJ. (…) Sch. war seit Juni 1944 ein enger Freund Rh.´s, lernte Steinbrück über Rh. kennen und wurde am 4.10.1944 gemeinsam mit ihm und einem weiteren Jugendlichen in einer Gartenlaube am Blücherpark festgenommen. Zwei Tage zuvor hatte ein V- Mann der Kriminalpolizeistelle Ehrenfeld mitgeteilt, dass Rh. geäußert haben soll, 1500 RM dafür bekommen zu haben, dass er einen Menschen umgelegt habe. Auch Sch. sei an dieser Sache beteiligt. (…) Zu dieser Zeit hatte Sch. aber wahrscheinlich keine näheren Kontakte zu anderen Edelweißpiraten mehr. Diese Verbindungen waren aber auch zuvor nicht sehr eng geknüpft (…) Sch. schloss sich stattdessen immer enger dem Kreis um Steinbrück an und beteiligte sich aktiv an den Einbrüchen und Waffengeschäften. Er war bei der Amokfahrt durch Ehrenfeld dabei und gab dabei auch selber einen Schuss ab. Sch. wurde am 10.11.1944 in Köln-Ehrenfeld öffentlich erhängt.“ Link: http://www.museenkoeln.de/ns-dokumentationszentrum/pages/1200.aspx?s=1200&stid=1040&stt=K%C3%B6ln%20-%20Ehrenfeld. Es hätte Goebs Position und Plausibilität keinen keinen Abbruch getan, wenn er dieses offizielle Kurzportrait des Kölner EL-DE Hauses zumindest als Quelle in seinem Buch erwähnt hätte. Dann wäre eine Grundlage für eine argumentative Auseinandersetzung und Kritik dieser Position gelegt worden.

[v] Antisemitismus in der DDR, Bundeszentrale für politische Bildung, 2006: http://www.bpb.de/themen/I2CRVI,0,Antisemitismus_in_der_DDR.html, Antisemitismus in der DDR, Deutschlandradio, 16.10.2009: http://www.deutschlandradiokultur.de/antisemitismus-in-der-ddr.1079.de.html?dram:article_id=176132; Antisemitismus in der DDR: Propaganda gegen Israel und Juden, Deutschlandfunk, 13.3.2016: http://www.deutschlandfunk.de/antisemitismus-in-der-ddr-propaganda-gegen-israel-und-juden.886.de.html?dram:article_id=340619; Andreas Strippel: Antisemitismus und NS-Vergangenheit in der ostdeutschen Nachkriegsgesellschaft, Publikative, 17.11.2015: http://publikative.org/2015/11/17/antisemitismus-und-ns-vergangenheit-in-der-ostdeutschen-nachkriegsgesellschaft/; Judith Kessler: Fast „unsichtbar“ – Juden in der SBZ/DDR 1945–89: https://www.hagalil.com/archiv/2014/11/17/juden-in-der-ddr.

[vi] „Der Einzug alter Nazis in die Justiz ging einher mit dem Einsickern ehemaliger NS-Parteigänger in die Politik. Es bedurfte einer Recherche der DDR, um das öffentlich zu machen. Im Juli 1965 hatte Albert Norden, im Politbüro der SED für Propaganda zuständig, einschlägige Dokumente vorgelegt…“ (Goeb, a.a.O., S. 100). Goeb verweist also im Jahr 2016 (!) ausgerechnet auf einen stalinistischen Funktionär der SED, dessen Vater Joseph Norden als Rabbiner als Vertreter eines liberalen Judentums wirkte und der 1943 im KZ Theresienstadt ums Leben kam. Albert Norden trieb die DDR-Propagandastrategie voran, ausgerechnet den jüdisch-demokratischen Staat Israel, den Staat der Überlebenden der Shoah, als Erbe des Faschismus zu denunzieren. Jens Rosbach führte hierzu 2009 in einem Rundfunkbeitrag zum Thema „Antisemitismus in der DDR“ aus: „Die Propagandastrategie der DDR: Israel mit dem Faschismus in Verbindung zu bringen. Politbüromitglied Albert Norden etwa versucht, sich damit zu profilieren. Norden ist war zwar selbst jüdischer Abstammung, aber dennoch ganz auf SED-Linie. So hetzt er immer wieder gegen Israels Kooperation mit den USA sowie mit Westdeutschland. Norden: `Wir zahlen nicht an den Staat Israel Geld, damit er seine Waffengeschäfte treiben kann mit den Faschisten.´“ Internet: http://www.deutschlandradiokultur.de/antisemitismus-in-der-ddr.1079.de.html?dram:article_id=176132. Weiterhin: Die durchsichtige Strategie der SED-Führung, Die Welt, 29.4.2015: http://www.welt.de/sonderthemen/deutschland-israel/article140267592/Die-durchsichtige-Strategie-der-SED-Fuehrung.html ; Heike Amos: Politik und Organisation der SED_Zentrale 1949-1963, Münster 2003 (LIT Verlag), S. 548