Ein deutsch-jüdischer Mediziner in Berlin und Palästina…
Von Franz-Josef Schmit
„Diesen jüdischen Verbrechern ist jetzt endgültig das Handwerk gelegt.“ – so lautete der zynische Kommentar von „Reichsärzteführer“ Gerhard Wagner zum endgültigen Entzug der Approbation für jüdische Ärzte aufgrund der „4. Verordnung zum Reichsbürgergesetz“ vom 25. Juli 1938. Die Entrechtung und Verfolgung der deutsch-jüdischen Mediziner hatte bereits unmittelbar nach der Machtübernahme mit großer Vehemenz eingesetzt. Dabei konnten die braunen Machthaber sich bei der Formulierung ihrer Ausgrenzungserlasse auf Gedankengut stützen, das konservativ-nationale ärztliche Standesvertreter bereits in der Weimarer Republik in scharfen Polemiken gegen die angebliche „Verjudung eines ganzen Berufsstandes“ hatten verlauten lassen.
Dr. Otto Stulz, am 24. Januar 1874 in Wittlich geboren, war einer von über 8000 Ärzten in Deutschland, die aufgrund ihrer Herkunft 1933 als „jüdische Ärzte“ galten. Stulz stammte aus einer liberalen jüdischen Familie. Die Vorfahren waren aus Böhmen nach Wittlich gekommen. Ottos Vater Wilhelm betrieb mit seiner Frau Bertha am Marktplatz ein Textilgeschäft. Er war ein liberaler Geist, der wesentlich dazu beigetragen hatte, dass sich in Wittlich das Reformjudentum in den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts in der Auseinandersetzung mit einer kleinen Gruppe orthodoxer Juden durchsetzen konnte. Von 1890 bis 1893 war Wilhelm Stulz Mitglied des Repräsentatenkollegiums. Seine sechs Kinder besuchten nicht die jüdische, sondern die christliche Volksschule. Trotzdem gehörte Wilhelm Stulz über Jahre dem Schulvorstand der jüdischen Schule an. Das Medizinstudium hatte Otto Stulz, der jüngste Spross der Familie, in Würzburg 1897 mit einer Promotion im Fach Chirurgie abgeschlossen. In Berlin betrieb er eine Privatpraxis als Nervenarzt mit Kassenzulassung. Damit war er einer von über 8000 Ärzten in Deutschland, die aufgrund ihrer Herkunft 1933 als „jüdische Ärzte“ galten. Der Anteil jüdischer Ärzte lag reichsweit etwas über 11 Prozent, wobei sich in den großen Städten wie Hamburg und Berlin die meisten niedergelassen hatten, so dass dort bis zu 40 Prozent jüdische Ärzte praktizierten. Seit Dezember 1900 war Dr. Stulz mit der zwei Jahre älteren Philippine Rosa Goldstein verheiratet.
Publikation zur „Krankheit des Jahrhunderts“
„Jeder Nervöse, der die folgende Darstellung mit Verständnis gelesen hat, wird wissen, welchen Weg er unter Anleitung seines Arztes und mit Hilfe seiner Angehörigen zu gehen hat…, um sicher ein gesundes Nervensystem, ein neues geistiges Leben wiederzugewinnen,“ schrieb Dr. Stulz in der Einleitung zu einer rund 100seitigen Publikation, die er 1909 unter dem Titel „Nervös“. Moderne Gesichtspunkte für die Behandlung der sogenannten Nervosität“ im Berliner Hermann Walter Verlag drucken ließ. Seine Schrift war für die Zeit der Jahrhundertwende hoch aktuell – nicht nur Thomas Mann hatte wiederholt von der „kaum zu ertragenden Nervenanspannung“ gesprochen – auch andere Vertreter der wilhelminischen Epoche thematisierten und litten unter „Neurasthenie“, einem damals häufig gebrauchten, aber von Dr. Stulz abgelehnten Begriff für Nervenkrankheiten. Im Gegensatz zu vielen Ärzten seiner Zeit bewegte sich Dr. Stulz mit seiner Analyse der Krankheit und seinen Therapievorschlägen auf der Höhe des damaligen Wissens in der Medizin. Er sah in der Nervosität eine psychisch-geistige, nicht aber eine rein organische Erkrankung und vertrat einen, wie man heute sagen würde, ganzheitlichen Ansatz: „Der ganze Mensch in seiner Eigenart ist Gegenstand der Behandlung, und kein einziges Symptom kann für sich allein gewertet werden.“
Eine Erklärung der Neurasthenie mittels einer umweltorientierten Ätiologie erschien Dr. Stulz bedeutsamer als physikalisch-bakterielle Ursachen und als Sozialmediziner erachtete er die ständige Verbesserung des Umfelds der Patienten für bedeutsam für eine erfolgreiche Behandlung der „sogenannten Nervosität“, die bisweilen auch als spezielle „Krankheit von Juden“ betrachtet wurde. Auf das Problem einer möglichen Vererbbarkeit gerade bei Juden eingehend, schrieb er: „Ein typisches Beispiel für vererbte Nervosität ist die nervöse Ängstlichkeit der jüdischen Rasse. Man kann sie mit Leichtigkeit verstehen, wenn man die Jahrhunderte lange Unterdrückung und Verfolgung bedenkt, der die jüdische Rasse ausgesetzt war: Befürchtungen um die eigene Existenz, die eigene Gesundheit und die der Familie sind die ihr eigentümlichen Vorstellungsgruppen, deren Wirken in Krankheitsfällen man als Arzt so häufig zu konstatieren Gelegenheit hat.“
Eindringlich warnte Dr. Stulz seine Leser vor zu viel „Selbstbeobachtung“, wodurch die „hypochondrische Denkweise“ nur verstärkt würde. Er selbst sah in der „Psychotherapie“ – Dr. Stulz übersetzt den damals noch jungen Begriff mit „Bewußtseinsbehandlung“ – die einzige wirksame Therapieform. Dabei kam er natürlich an dem Erfinder der Psychotherapie nicht vorbei, zu dem er ganz im Sinne einer modernen „Freud-Kritik“ anmerkte: „Neuerdings aber bricht sich die Erkenntnis Bahn, daß es für den Arzt kaum möglich ist, einen Nervösen zu behandeln, ohne daß er sich über dessen Geschlechtsleben genau orientiert hat. Denn, wenn man auch nicht so weit gehen will, wie ein Wiener Forscher (Prof. Freud) und seine Schüler, die jegliche Nervosität fast allein auf geschlechtliche Ursachen zurückführen, so unterliegt es doch keinem Zweifel, daß diese letzteren für die Krankheit eine äußerst wichtige Rolle spielen.“
Sozialdemokrat und engagierter Sozialmediziner
Wann genau Dr. Stulz in die SPD eingetreten ist, lässt sich nicht mehr ermitteln. In der „Wochenschrift der deutschen Sozialdemokratie“ setzte er sich drei Monate nach Kriegsbeginn dafür ein, die durch das „Notgesetz betreffend der Leistungsfähigkeit der Krankenkassen“ verordneten Leistungskürzungen insbesondere für Schwangere und Heimarbeiter abzumildern und weiterhin die Behandlung von Tuberkulosepatienten in Heimstätten zu bezahlen. Ganz im Sinne des „Vereins sozialdemokratischer Ärzte“, der 1913 in Berlin von 20 überwiegend jüdischen Ärzten gegründet worden war und dem er angehörte, schrieb Dr. Stulz den Krankenkassen ins Stammbuch, ihre Aufgabe „muß doch einzig und allein die sein, den Gesundheitszustand der Versicherten nach Möglichkeit zu erhalten und zu fördern; die Kassen sind doch kein Selbstzweck, sondern lediglich Mittel, um jenes Ziel der allgemeinen Wohlfahrt zu erreichen.“ Mit exakten Zahlen zum Vermögen der 145 Berliner Krankenkassen machte Dr. Stulz deutlich, dass aufgrund der „Reservefonds“ der Kassen auch in Kriegszeiten Mehrleistungen möglich waren.
Im Jahr 1919 kandidierte Dr. Stulz zunächst erfolglos für die Berliner Stadtverordnetenversammlung, konnte aber im Mai 1920 über die Liste der Ersatzmänner nachrücken und vertrat seine Partei in der Bezirksversammlung Mitte. Dabei dürften ihm die Ziele der damals noch wenig im Bewusstsein der deutschen Ärzteschaft verankerten Sozialmedizin ein besonderes Anliegen gewesen sein: Wohnungsfragen in den Berliner Mietskasernen, hygienische Prophylaxe, Wege zur Senkung der Säuglingssterblichkeit, Bekämpfung des Alkoholismus und Fragen der Geburtenregelung im Zusammenhang mit der Forderung nach Streichung des Paragraphen 218. „Sozialhygieniker“, damals eher ein Schimpfwort für fortschrittliche Ärzte wie Dr. Stulz, stammten überwiegend aus dem bürgerlich-aufgeklärten, weitgehend assimilierten, urbanen deutschen Judentum. Das politische Spektrum im „Verein sozialistischer Ärzte“ (VSÄ), einer 1924 entstandenen Abspaltung aus dem „Sozialdemokratischen Ärzteverein“, war breit. Fast alle Parteien taten sich mit den Forderungen der „Sozialhygieniker“ nach einer Sozialisierung des Gesundheitswesens schwer – lediglich die KPD-Ärzte konnten mit entsprechendem Rückhalt in ihrer Partei rechnen. Dr. Stulz stand zwar fest im sozialdemokratischen Lager, hatte aber über die „Reichssektion Gesundheit“, einer Art Gewerkschaft für Heilberufe, Verbindung zu den politisch radikaleren Ärzten des VSÄ. Eine Großkundgebung der linken Ärzte vom 21. Juli 1932 in Berlin sensibilisierte unter dem Motto „Der Nationalsozialismus – der Feind der Volksgesundheit“ zu den Gefahren des Antisemitismus, der Eugenik und der Rassenlehre und warnte eindringlich vor einer „Faschisierung des Heilwesens“. Letztlich blieb die Gruppe der linken Ärzte innerhalb der großen Mehrheit der konservativen deutschen Ärzteschaft eine Minderheit von etwa 850 Ärzten. Als Juden und Linke waren sie einer doppelten Verfolgung ausgesetzt. Bis Oktober 1934 hatte das NS-Regime über 100 von ihnen als „staatsfeindliche Ärzte“ eingestuft.
Obwohl Dr. Stulz und seine Ehefrau schon am 16. September 1910 aus der jüdischen Gemeinde Berlins ausgetreten waren, traf ihn als „Rassejude“ und Sozialdemokrat schon im Jahr 1933 die Härte der neuen Machthaber. Vermutlich im Frühjahr wurde ihm die Kassenzulassung „aus politischen Gründen“ entzogen. Im Laufe des Jahres 1933 waren rund 2000 jüdische Ärzte aus dem deutschen Reich emigriert. Dr. Stulz blieb bis 1935 mit einer Privatpraxis am Kurfürstendamm in Berlin. Am 16. Dezember 1935 erhielt er noch eine Arztlizenz von der britischen Mandatsregierung und praktizierte als Privatarzt sowie als Konsulararzt am Hadassah-Spital in Tel Aviv, wo er zentrumsnah in der Eliezer Ben Yehuda Street 69 wohnte. Damit war er einer von etwa 1000 jüdischen Ärzten aus Deutschland, die bis dahin nach Palästina eingewandert waren und in den Jahren bis zur Gründung des Staates Israel 1948 eine aufopferungsvolle Aufbauarbeit für die medizinische Versorgung des Landes leisteten, in die selbstverständlich auch die palästinensische Bevölkerung einbezogen war. Viel Zeit blieb dem Arzt aus Wittlich nicht mehr, seine hohe fachmedizinische Kompetenz in den Dienst von Erez Israel zu stellen. Schon am 27. Juli 1941 starb Dr. Stulz, wie es in der Sterbemeldung heißt, „plötzlich“ in Tel Aviv im Alter von 67 Jahren.