Die „Überflutung Europas“

0
115

Frankreichs extreme Rechte surft auf der Anti-Migrations-Welle – und demonstriert (mit deutscher Beteiligung) vor der Botschaft Deutschlands…

Von Bernard Schmid, Paris

Bei der Vereinigung ,Riposte Laïque’ – ungefähr „Gegenwehr der Säkularisten“, ein Name, der sich ausschließlich auf die Abwehr des Islam bezieht – ist man nicht zufrieden mit dem Front National (FN) und lässt es wissen. ,Riposte Laïque’, das ist ein Zusammenschluss von Hardcore-Faschisten, die mittlerweile den FN oftmals von rechts kritisieren, obwohl ihre Führungsmitglieder – allen vor an der Hauptgründer der Sekte, Pierre Cassen – zum Teil auch frühere Linke sind. Pierre Cassen war in den 1970er Jahren bei der radikalen Linken und bei der Druckergewerkschaft der CGT aktiv gewesen.

Anlass der aktuellen Unzufriedenheit ist, dass die Wahlpartei FN die jüngste Demonstration, zu welcher ,Riposte Laïque’ mit aufrief, geschwänzt hat. Am Abend des Donnerstag, den 24. September 15 demonstrierte das Gesoc…, pardon: die Anhängerschaft vor… ausgerechnet vor der deutschen Botschaft in Paris. Dort, im 16. Bezirk der französischen Hauptstadt, prangerten sie die „Verantwortung von Angela Merkel für die Überflutung Europas mit Migranten“ an, aufgrund ihrer angeblich zu großzügigen, ja unverantwortlichen Flüchtlingspolitik. Thomas de Maizière hätte ja vielleicht seinerseits eine Freude an ihrer Kritik gehabt.

Eingefunden hatten sich dazu, je nach Zählweise, zwischen „rund 200“ und „gut 500“ Menschen; doch die mediale Beachtung, die der Auflauf fand, war im Vergleich dazu weit überproportional. Ursprünglich aufgerufen dazu hatte zunächst die nationalreaktionäre Kleinpartei SIEL („Souveränität, Unabhängigkeit und Freiheit“), die aus dem rechten Flügel der nationalkonservativen Strömung der 1990er Jahre um Philippe de Villiers und Charles Pasqua hervorwuchs und inzwischen mit dem FN zu einem festen Wahlbündnis zusammengeschlossen worden ist. Angeführt wird das SIEL, nachdem dessen – selbst beim FN als halbverrückt geltender, da verbal bisweilen zu extrem auftretender – vorheriger Chef Paul-Marie Coûteaux abserviert wurde (er hatte sich vor den Kommunalwahlen im März 2014 dafür ausgesprochen, Roma „in Lagern zu konzentrieren) heute durch Karim Ouchikh. Jener trägt zwar einen Namen mit nordafrikanischem Hintergrund, ist jedoch der Sohn von pro-kolonialistischen Elementen im französisch kolonisierten Algerien und tritt als Assimili-Ali respektive Onkel Tom des Front National auf. Er firmiert, neben seiner derzeitigen Eigenschaft als Chef des SIEL, heute zugleich als „Berater von Marine Le Pen für kulturelle Angelegenheiten, französische Sprachpolitik und freie Meinungsäußerung“.

Der FN selbst war jedoch, wohl aus Rücksichtnahme auf sein – durch den Streit mit Altboss Jean-Marie Le Pen leicht lädiertes – Image und um seine Wahlchancen bei den Regionalparlamentswahlen in ganz Frankreich im Dezember 15 nicht zu schmälern, nicht zugegen. Deswegen auch der Frust bei den Macherinnen und Machern von ,Riposte Laïque’. „Muss der Front National sich mit seinen Wahlerfolgen begnügen und die Straße ignorieren?“, fragt die rassistische Publikation in ihrer Newsletter vom Montag, den 28. September 15 rhetorisch, und genervt.

Gekommen waren jedoch Prominenten aus unterschiedlichen Teilen der extremen Rechten. Unter ihnen Robert Ménard, der mit Unterstützung des FN ins Amt gewählte, jedoch formal parteilose Bürgermeister im südfranzösischen Béziers, und der Rechtsintellektuelle Jean-Yves Le Gallou (von 1992 bis 1998 Fraktionsvorsitzender des FN im Pariser Regionalparlament, doch heute ohne Parteiangehörigkeit) sowie Olivier Perceval von der nationalistisch-monarchistischen Vereinigung Action française. Auch Béatrice Bourges, prominente Schreckschraube der Bewegung gegen die Homosexuellen-Ehe – die zwischen November 2012 und Oktober 2014 mehrfach Hunderttausende mobilisieren konnte -, war zugegen. Zu den Rednern zählte ferner Renaud Camus, ein elitärer Schriftsteller, der Erfinder des Konzepts vom angeblichen „Großen (Bevölkerungs-)Austausch“ und beliebter Redner bei Anlässen von ,Riposte Laïque’. Eine von ihm beim Anti-Islamisierungs-Kongress von ,Riposte Laïque’ im Dezember 2010 vor rund 1.000 Anwesenden gehaltene Rede trug ihm im April 2014, erstinstanzlich, eine Verurteilung wegen ,Aufstachelung zum Rassenhass’ ein; das Berufungsverfahren dazu läuft. Eines seiner Bücher musste im April 2000 wegen antijüdischer Passagen durch den damaligen Verleger vom Markt genommen werden.

Die Demonstranten verbrannten eine EU-Flagge und hissten im Gegenzug, um Viktor Orban und seine Abwehrpolitik gegenüber Migranten hochleben zu lassen, ungarische Fahnen. Aus Deutschland angereist war die Bonner Aktivistin (und frühere Vorständlerin bei Pro NRW) sowie vormals offene Neonazi-Kaderin Melanie Dittner. Sie rief unter anderem aus: „Unser Europa ist nicht das unserer politischen Regierungen, mein Europa ist nicht der Kanzlerin!“ (nein, tatsächlich, sondern vielmehr das Europa von 1941), und: „Merkel muss weg!“

Marine Le Pen bläst ins selbe Horn

Auch wenn der FN, aus Imagegründen, bei dem Auflauf nicht mit dabei war: Inhaltlich stößt dessen Chefin, Marine Le Pen, natürlich in dasselbe Horn. Und malt, immer wieder, die Überflutung Europas mit Horden von „Millionen Migranten“ aus. Am 15. September 15 verpasste sie lediglich ihren Ausdrücken zum Thema eine leichte Korrektur. Bei einem Rundfunktinterview wurde Marine Le Pen durch den Jouralisten Patrick Cohen kritisch befragt und auf ihren Ausspruch vom Vortag angesprochen, als sie die derzeitigen Migrationsbewegungen in die Nähe der so genannten Barbareninvasionen gerückt hatte.. Dabei präzisierte die Chefin des FN – die sich zugleich über einen „politisch voreingenommenen“ Fragesteller beschwerte -, sie habe „nicht von Barbaren“ gesprochen, sondern von „den Invasionen im fünften Jahrhundert“ (christlicher Zeitrechnung), also denen im Zusammenhang mit der so genannten Völkerwanderung. Aus Sicht des damals untergehenden (West)Römischen Imperiums handelte es sich dabei aber just um die so genannten Barbarenstürme…

Und Marine Le Pen, aber auch ihr innerparteilicher Widersacher Bruno Gollnisch – beide sitzen im Europaparlament , wobei Gollnisch nicht länger der gemeinsamen Fraktion angehört, weil er zum Altchef Jean-Marie Le Pen hält – bemühen nun ihrerseits stets ein weiteres „Argument“. Eines, mit dem sie zugleich für sich selbst (natürlich zu Unrecht) beanspruchen, angeblich die Tradition der französischen Résistance zu verkörpern. Alle, jedenfalls männlichen, syrischen Migranten und Geflüchteten seien doch in Wirklichkeit „Deserteure“; und Feiglinge, die sich nur der Verteidigung ihres Landes gegen die es bedrohenden Barbaren entzögen. Denn sie lehnten es ja ab, gegen den Überfall des so genannten „Islamischen Staates“ (IS) auf ihr Land zu kämpfen. Anders als die Franzosen, die ihrerseits heldenhaft gegen die ausländische Übermacht gekämpft hätten, sei es in Gestalt von Jeanne d’Arc (oder der „Jungfrau von Orléans) im Hundertjährigen Krieg gegen die Engländer oder im Widerstand gegen die deutschen Besatzer.

Ein reichlich unpassender Vergleich zu 1940-44, den Marine Le Pen jedoch nicht zum ersten Mal sinngemäß heranzieht. Aufgrund eines anderen Ausspruchs aus ihrem Munde, dem zufolge auf der Straße betende Muslime in Frankreich „eine neue Besatzung, eine echte dieses Mal“ verkörperten – gerichtet an jene, die so gerne alte Geschichten „vom Zweiten Weltkrieg“ wiederkäuten – trug ihr nun erstmals einen Prozess ein. Anders als ihr Vater Jean-Marie Le Pen, der, u.a. aufgrund diversester rassistischer und antisemitischer Aussprüche, über 25 mal verurteilt wurde, ist Marine Le Pen bislang nicht vorbestraft. Aufgrund ihrer oben zitierten Auslassungen, die im Rahmen des innerparteilichen „Wahlkampfs“ (vor der Urabstimmung über die Nachfolge Jean-Marie Le Pens) am 10. Dezember 2010 in Lyon getätigt wurden, wurde sie nun jedoch in ein Strafverfahren verwickelt. Am 02. Juli 2013 hob das Europaparlament deswegen ihre parlamentarische Immunität auf. Die Verhandlung dazu wird nun am 20. Oktober 2015 stattfinden. Marine Le Pen hat bereits angekündigt, persönlich zu erscheinen, da sie sich eine solche Tribüne nicht entgehen lassen möge.

Zurück zu ihrem aktuellen „Argument“ gegen die aus Syrien Geflohenen: Ihr Vergleich unterschlägt natürlich, dass die Masse der syrischen Bevölkerung eingekeilt ist zwischen einem der weltweit übelsten Folterregimes einerseits, und den von ihm 2011/12 als Wunschgegner erst richtig aufgebauten Jihadisten andererseits. Das Argumentationsmuster der beiden FN-Politiker(/in) funktioniert nur dann, wenn man annimmt, man könnte im Dienst des Folterregimes von Al-Assad Dienst tun, um den IS zu bekämpfen. Was aus sehr guten Gründen für das Gros der syrischen Bevölkerung keine vernünftige Option bildet. Doch der Front National unterstützt auch anderweitig das amtierende Folterregime als „legitime syrische Regierung“, und begrüßt dessen aktive Unterstützung durch das Russland unter Machthaber Wladimir Putin, einen anderen, heiß umjubelten politischen Freund der FN-Führung.

Rechtsextreme Radau-Rathäuser

Natürlich stehen die FN-Mandatsträger (und, wo vorhanden, Mandatsträgerinnen) bei der Abwehr gegen Geflüchtete, und generell gegen Immigration, nach wie vor in der ersten Reihe.

Bislang verfügt die rechtsextreme Partei noch über keine eigenen Bezirks- und Regionalregierungen, was sich jedoch in naher Zukunft ändern könnte. Denn am 06. und 13. Dezember dieses Jahres werden alle französischen Regionalparlamente – nunmehr dreizehn an der Zahl, nach der frisch beschlossenen  Zusammenlegung mehrere Regionen, früher 22 – gewählt, und zwar nach dem Verhältniswahlrecht. In der neuen Großregion Nord-Pas de Calais-Picardie liegt die durch Marine Le Pen geführte Liste, mit 39 Prozent der Stimmabsichten, mit weitem Abstand in Führung. Bei ihrer Wahlkampferöffnung in Hénin-Beaumont, einer FN-regierten Kommune in der Region, kündigte Marine Le Pen am 13. September 15 an, falls sie gewählt werde, dann werde auf allen von der Region (d.h. von ihrer öffentlichen Hand) abhängenden Arbeitsplätzen künftig die ,préférence nationale’ oder „Inländer-Bevorzugung“ eingeführt. Also die Einstellung unter besonderer Berücksichtigung der Nationalität. Was, selbstverständlich, eine illegale Diskriminierung darstellt – mit Ausnahme jener (inzwischen relativ wenig gewordenen) Stellen, bei denen der Gesetzgeber selbst einen Nationalitätsvorbehalt erhebt, wie auf den für Franzosen reservierten Stellen bei Polizei, Armee (außer Fremdenlegion) und Richterschaft, oder auf den für EU-Bürger/innen reservierten Stellen bei der französischen Eisenbahn. Am 20. September kündigte Marine Le Pen bei ihrem ersten Wahlkampf-Auftritt in der picardischen Regionalhauptstadt Amiens ferner einen Stellenabbau im öffentlichen Dienst der Region an, obwohl ihre Wahlkampfstrategie ansonsten stark auf soziale Demagogie ausgerichtet ist.

Ob ein auf regionaler Ebene regierender FN tatsächlich die „Inländerbevorzugung“ (welche den innersten Kern seiner Programmatik ausmacht) einführen würde, muss vorläufig dahin gestellt bleiben. Denn natürlich würde es eine solche Regionalregierung in Konflikt mit dem Gesetz, dem französischen wie dem EU-Recht, bringen. Auf Ebene der fünfzehn rechtsextrem regierten Kommunen hat die Partei einen solchen offenen Gesetzesverstoß bislang nicht unternommen. Im März 2015 waren fünfzehn rechtsextreme Bürgermeister gewählt worden, von ihnen gehörten zehn dem FN an, und als elfter kam der vom FN unterstützte Robert Ménard in Béziers hinzu. Vier andere gehörten der rechtsextremen Regionalpartei ,Ligue du Sud’ an. Einer von den Letztgenannten, in der rund 5.000 Einwohner/innen zählenden Kleinstadt Camaret-sur-Aigues, ist inzwischen seinerseits zum FN übergetreten. Zwölf Städte unterschiedlicher Dimensionen dürfen als derzeit als FN-regiert gelten.

Auch wenn die Front National-Rathausregierungen bislang also nicht offen Gesetze etwa über Diskriminierungsverbote brachen, so richteten sie doch ein Klima ein, das es ausländischen Einwohner/inne/n in der Praxis einfach nicht angeraten erscheinen lässt, etwa Einladungen von Familienangehörigen zu verschicken, die vom Rathaus abgestempelt werden müssen. Zugespitzt hat sich die Entwicklung jedoch seit der jüngst in ganz EU-Europa ausgerufenen „Flüchtlingskrise“. Die mit viel Aufwand und auf Hochglanzpapier produzierte Rathauszeitung von Béziers etwa publizierte ihre Nummer von Anfang September 15 mit einem Titelblatt, das eine auf die Stadt zuschwappende Welle von Migranten suggeriert. In einer Fotomontage wird ein in Mazedonien aufgenommenes Bild von an der Grenze sich stauenden Migranten gezeigt, daneben stehend Hinweisschilder wie „Béziers: 3.825 Kilometer“ und „Zur kostenlosen Sozialversicherung“. Knapp zwei Wochen später drang Ménard persönlich, an der Spitze einer Kohorte von Kameras, in seit längerem leerstehende – für Renovierung oder den Abriss bestehende – Wohnungen in Béziers ein, in denen syrische Geflüchtete untergekommen waren, nachdem man ihnen keine Unterkünfte für die Dauer des Asylverfahrens zugeteilt hatte. Dabei tönte er den Menschen laut entgegen: „Sie sind in dieser Stadt nicht willkommen“! Zugleich kündigt er an, zwei durch den Präfekten (Vertreter des Zentralstaats) geprüfte „legale“ Unterkünfte in seiner Stadt in Frage zu stellen, und verhindern zu wollen.

Aufgrund dieser Vorkommnisse hat sogar die konservative Stadtopposition inzwischen das Rathausoberhaupt Robert Ménard deutlich aufs Korn genommen. Sozialdemokratische Parlamentsabgeordnete und Mandatsträger/innen lancierten eine Petition an Staatspräsident François Hollande, in welcher sie die Einleitung eines Amtsenthebungsverfahrens gegen Robert Ménard (wegen der Republik unwürdiger Amtsführung) fordern. Bei unserem Redaktionsschluss trug die Petition inzwischen 8.000 Unterschriften.

Aber nicht nur rechtsextreme, auch andere Bürgermeister ergriffen beschämende Positionen im Zusammenhang mit der Aufnahme von Geflüchteten. Mehrere konservative Stadtoberhäupter aus den Reihen der Partei Les Républicains – der früheren UMP -, wie im bretonischen Roanne erklärten etwa, aus Syrien und dem ’Iraq (eingedeutscht Irak) nähmen sie „ausschließlich geflohene Christen“ aufzunehmen. Denn diese schnitten, wie der Bürgermeister von Charvieu-Chavagneux (Raum Grenoble) am 08. September 15 unter Verweis auf Gräueltaten des so genannten „Islamischen Staates“ sekundierte, immerhin „keine Hälse (/ Kehlen) durch“. Nach Religionszugehörigkeit von Individuen zu diskriminieren, ist zwar schlicht illegal, doch die aufgezählten Beispiele machten in der Folge unter einigen Bürgermeistern Schule, die ähnlich gelautete Erklärungen abgaben.