Die Sterbehilfedebatte

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In Bielefeld will man einen jüdischen Blick auf das heikle Thema werfen…

Von Dr. Stephan M. Probst, Bielefeld
Zuerst erschienen in: Jüdische Rundschau 4/2015

Viele Menschen werden durch die aktuelle Sterbehilfedebatte verunsichert und spüren Ängste, wenn sie an ihr eigenes Lebensende oder das ihrer Angehörigen denken. Diese durch die öffentliche Diskussion geweckten Ängste haben weniger mit der adäquaten Angst vor der Endlichkeit des Lebens und der Aussicht auf den Tod zu tun, als mit Vorstellungen von Leid, Autonomie- und Würdeverlust am Lebensende, die so gar nicht in unsere Zeit, in der wir scheinbar alles beherrschen können, hineinpassen wollen. Die sowohl in der Politik als auch in der Gesellschaft intensiv geführte Diskussion kann aber (und sollte auch unbedingt) eine Chance sein, jetzt zu definieren, was für uns und in unserer Zeit „Sterben in Würde“ heißt und zugleich die Bedingungen dafür zu schaffen, dass wir ohne Angst vor Würdeverlust dem Tod entgegensehen können. Statt unbegründete Ängste zu schüren, müssen solche genommen und Missverständnisse aufgeklärt werden. Andererseits muss klar benannt werden, was den Erhalt unserer Würde am Lebensende tatsächlich gefährden könnte und was wir dagegen tun können. Es muss also mit Missständen aufgeräumt werden. Antworten auf den in vielzitierten Umfragen scheinbar bewiesenen großen Bedarf an Möglichkeiten einer aktiven Sterbehilfe, fallen dann überraschend anders aus, wenn wir ernsthaft miteinander über Sterben und Tod sprechen und uns auf das Thema angemessen einlassen.

Der Bundestag hat sich vorgenommen, im kommenden Herbst über verschiedene fraktionsübergreifende Anträge abzustimmen, die die Suizidbeihilfe regeln sollen. Die politische Debatte wird inzwischen objektiver und differenzierter geführt, oft hört man auch den Verweis auf die christlich-jüdische Kultur und ihre Werte.  Aber wie wird die Diskussion in den jüdischen Gemeinden und Familien geführt ? Liegen in der gesellschaftlichen und politischen Debatte auch Chancen für die jüdische Gemeinschaft in Deutschland ?

In der öffentlichen Diskussion, in der jüdische Stimmen nur sehr vereinzelt zu hören sind und die nur zaghaft in der hiesigen jüdischen Gemeinschaft fortgeführt wird, gehen viele Begrifflichkeiten durcheinander und dadurch wird weit über das eigentliche, durch die Gesetzesinitiative des Gesundheitsministers Gröhe zu entscheidende Thema, nämlich die ärztliche Suizidassistenz hinaus diskutiert.

Während in der breiten Gesellschaft die Begriffe aktive, passive und indirekte Sterbehilfe oder palliative Sedierung aus medizinischer, ethischer und juristischer Perspektive definiert und diskutiert werden, haben wir die Gelegenheit, an dieser Stelle einen jüdischen Beitrag hierzu zu geben. Ein jüdischer Beitrag zur gesellschaftlichen Diskussion könnte ein wunderbares Signal sein, dass das Judentum Teil der deutschen Gesellschaft ist und andererseits könnte es eine Entscheidungshilfe für all die sein, die im Judentum ihre religiöse und spirituelle Heimat sehen und Orientierung für eine eigene Meinung und Entscheidung zu und in diesen existenziellen Fragen suchen.

Der erste grundsätzliche Beitrag des Judentums zu dieser Diskussion ist die Klarstellung, dass Kranke, Leidende, Alte, Demente und Behinderte keine Last sind. Sinnerfüllung kann auch aus der Begegnung mit und durch die Fürsorge für diese Menschen entstehen und das allgegenwärtige „schöner, besser und leistungsfähiger“ verspricht eben nicht immer größeres Glück. Ein gesellschaftlicher Wandel in diesem Sinne könnte einige der oben angedeuteten Ängste nehmen. Vor allem die, die dadurch entstehen, dass die Vorstellung mit Verlust der Würde zu sterben daher kommt, dass man durch seine Hilflosigkeit der Gesellschaft oder Familie zur Last fällt und sich schlimmstenfalls zum „sozialverträglichen Frühableben“  gedrängt sieht.

Die Angst, anderen zur Last zu fallen ist vorhanden und nicht ganz unbegründet. Größer aber und weitaus bedeutsamer ist die Angst, einer unmenschlichen Apparatemedizin ausgeliefert zu sein. Einer Medizin, die wir uns selbst beschert haben, indem wir den Anspruch an sie stellen, sie könne das Leben jederzeit perfektionieren, ganz im Sinne von „schöner, besser und leistungsfähiger“. Überambitionierte und dadurch schädliche Medizin entsteht meist aus einem Missverständnis darüber, was moderne Medizin in bestimmten Situationen tatsächlich erreichen kann und was nicht. Vielleicht haben mechanistische Erwartungen an die Medizin dazu geführt, dass die Medizin das Sprechen verlernt und ihr menschliches Angesicht verloren hat und der Tod als ein Versagen der Medizin wahrgenommen wird. In der Folge dieser Entwicklung kam es zu den schrecklichen Auswüchsen, die wir vor Augen haben und an künstlich am Leben gehaltene oder vielmehr durch Maschinen am Sterben gehinderte komatöse Körperhüllen von Menschen denken.

Die Sterbehilfedebatte-Debatte betrifft auch die jüdischen Gemeinden

Das Judentum stellt die Heiligkeit des Lebens nahezu über alles andere und die Halacha verbietet eindeutig jede Handlung, die das Leben verkürzt, jedoch widerspricht es ausdrücklich der jüdischen Auffassung, Schmerz und Leiden aktiv zu verlängern. Das Judentum lehnt auch in seinen orthodoxesten Auslegungen den medizinischen Fortschritt nicht ab und fordert zum Erhalt des Lebens alles zu tun, was die moderne wissenschaftliche Medizin versprechen kann. Aber ab wann ist die Hoffnung, die die moderne Medizin machen kann, falsche Hoffnung ? Wann ist Fortsetzung der medizinischen Maßnahmen aktives Verlängern von Schmerz und Leid anstelle gebotener Lebensverlängerung, also das, was die wissenschaftliche Medizin mit dem neuen Begriff „Futility“ bezeichnet ? Es gibt einen sanften Paradigmenwechsel in der heutigen Medizin, die sich zunehmend mit ihren eigenen Fehlentwicklungen beschäftigt, ihre eigenen Irrtümer erforscht und den natürlichen Tod mit beeindruckenden Beobachtungen wiederentdeckt. Es lohnt sich sehr, diese Erkenntnisse in halachische Entscheidungen am Lebensende mit einzubeziehen und so einem, von außen betrachtet, paradox erscheinenden jüdischen Missverständnis entgegenzuwirken: Je traditioneller oder konservativer die Halacha bei anstehenden Entscheidungen über apparativ-technische Maßnahmen in der Medizin ausgelegt wird, desto größer erscheint das Risiko, später dadurch einer unmenschlichen Apparatemedizin ausgeliefert zu sein. Denn um auf keinen Fall leichtfertig mit der Leihgabe des Lebens umzugehen, riskiert man lieber, Würde am Lebensende zu verlieren oder wird mit gutgemeinter und überzeugter rabbinischer Autorität hin zu solchen Entschiedungen beraten.

Bezieht man aber Ergebnisse der aktuellen palliativmedizinischen Forschung in Entscheidungen über vermeintlich lebensverlängernde Maßnahmen am Lebensende, wie künstliche Ernährung, Flüssigkeits- und Sauerstoffgabe, Einleiten von heroischen Chemotherapien, Operationen oder Wiederbelebungsmaßnahmen usw. ein, erfährt man, dass es oft medizinisch definierte Kontraindikationen zu diesen Maßnahmen gibt. Untersuchungen zeigen, dass das Nichteinleiten dieser kontraindizierten, vermeintlich lebensverlängernden Maßnahmen nicht zu einem schnelleren Versterben der Betroffenen führt und diesen dadurch etwa eine Chance genommen würde, sondern dass diese im Gegenteil sogar länger und mit besserer Lebensqualität leben, dass sie also vor Fehlern bewahrt werden und schließlich in Würde natürlich sterben können. Diese neuen Erkenntnisse müssen in jüdisch-medizinethische Empfehlungen einbezogen werden und mehr denn je ist der offene Dialog von Rabbinern, Angehörigen und Ärzten im Einzelfall, aber auch grundsätzlich für allgemeine Empfehlungen oder Orientierungshilfen notwendig.

Das entscheidende bleibt immer das Gespräch im Einzelfall und das Finden des individuellen Weges für das Lebensende eines Menschen. Auch Patientenverfügungen und Vorsorgevollmachten sind hier nicht der Königsweg für alle Probleme, die sich am Lebensende auftun können. (Aber das Erstellen einer Patientenverfügung und das Bestimmen eines Vorsorgebevollmächtigten kann ein wunderbarer Einstieg sein, über seine Vorstellungen vom eigenen Sterben nachzudenken und mit seinen Angehörigen darüber zu sprechen.) Genauso wenig hat die  Palliativmedizin auf alle Situationen, die bei einem Menschen Gedanken an einen Suizid zur Verkürzung von Leid und Not entstehen lassen, eine Patentlösung im Repertoire. Aber der scheinbar so große Bedarf an Möglichkeiten einer aktiven Sterbehilfe, den uns viele Umfrageergebnisse suggerieren wollen, zeigt vielmehr, dass ein Bedarf an einer menschlichen Hilfe beim Sterben besteht. Diese Hilfe können Juden im Judentum finden, zumal wenn das Judentum der Lebenswirklichkeit gemäße Antworten gibt.

Der lange schon notwendige Dialog zwischen Ärzten, Rabbinern, Pflegekräften, Psychologen, Philosophen und Juristen über die Fragen am Lebensende, von Patientenverfügung bis Sterbehilfe aus der jüdischen Perspektive soll Ende Mai in einem mehrtägigen Symposium mit dem Titel „End-of-Life: Jewish Perspectives“ in Bielefeld begonnen oder intensiviert werden. Das Symposium soll Impulse für die weitere Diskussion in der jüdischen Gemeinschaft Deutschlands bringen und die oben geschilderte Anpassung der halachischen Einschätzung an die aktuelle medizinische Wissenschaft auf den Weg bringen. Eine Herausforderung wird es sein, wie mit den auch bei noch so guter palliativmedizinischer Versorgung und noch so achtsamen Umgang der Gesellschaft mit Leidenden und Sterbenskranken, seltenen, aber trotzdem noch auftretenden Situationen umzugehen ist, in denen Menschen keinen anderen Weg sehen, als den Wunsch nach Erlösung von einem qualvollen Lebensende im Suizid zu formulieren. Der Gedanke an Suizid darf nicht durch eine apodiktische Ablehnung tabuisiert werden. Dies würde die Kranken und Leidenden, die solche Wünsche spüren, nur wieder von einer Unterstützung und Hilfe ausgrenzen,  die sie wahrscheinlich am dringendsten brauchen. Insofern ist es ganz nah an der bereits zitierten Lebenswirklichkeit, dass auf der Agenda einer multiprofessionellen jüdischen Fachtagung zu den Fragen am Lebensende auch das Thema „Sterbehilfe“ aufgeführt ist und diskutiert werden wird. Dem Symposium bleibt zu wünschen, dass es den jüdischen Positionen in der deutschen Sterbehilfedebatte eine Stimme geben wird und die Chance aufgreift, die die Diskussion dem deutschen Judentum geben kann.

Dr. med. Stephan Probst ist Arzt und im Vorstand der Jüdischen Kultusgemeinde Bielefeld.