Ruth Galinski ist tot

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Ruth Galinski sel.A., 19.7.1921 – 18.9.2014 …

Von Judith Kessler

Ruth Galinski als junge FrauRuth Weinberg wird 1921 in Dresden als Tochter eines Kaufmanns aus Bialystok und einer Dresdnerin geboren. Sie geht in eine Volksschule und treibt leidenschaftlich gern Sport – Leichtathletik, Speerwerfen, Hochsprung, Handball. Nach 1933 ist das nur noch in jüdischen Vereinen möglich, sie trainiert beim „SC Bar Kochba“. Und doch sagt sie: „Der Sport hat mir das Leben gerettet. Wir hatten ja sonst nichts anderes“.

Im Oktober 1938 wird sie im Rahmen der „Polenaktion“ mit ihrer Mutter und ihrem Bruder nach Polen deportiert: „Ich konnte kein Wort Polnisch, lernte aber schnell“. In einem Lager bei Warschau, in dem die drei bis Kriegsbeginn untergebracht waren, lernt sie den jungen Anwalt Leon Davidson kennen. Sie heiraten. Sie sind ein halbes Jahr im Warschauer Ghetto eingepfercht, fliehen mit falschen Papieren auf die polnische Seite, leben im Versteck. 1943 will Leon seine Eltern aus Lemberg holen – und kommt nie wieder. Ruth schlägt sich nach dem Warschauer Aufstand allein in die Berge durch und kann sich als „Sonja Kowalska“ einer polnischen Partisanengruppe anschließen: „Dort durfte ich aber niemandem sagen, dass ich Jüdin bin“.

„Mutter und Bruder sind wohlauf“

Anfang 1945, nach Ankunft der sowjetischen Armee, findet Ruth Arbeit in einem Geschäft in Krakow, lässt sich bei der Jüdischen Gemeinde registrieren, und dann trifft plötzlich ein Brief von Abraham Weinberg aus Argentinien ein: „Mutter und Bruder sind wohlauf, fahr nach Berlin und warte auf dein Visum! Vater“.

Ruth und ihr Bruder

Hier aber lernt sie am 1. Juli 1947 Heinz Galinski kennen. Der sollte ihr eine Urkunde überreichen – Ruth ist Kapitänin einer jüdischen Handballmannschaft von TUS Makkabi. Da funkt es zwischen den beiden, und dann geht alles ganz schnell. An ihrem Geburtstag feiern sie Verlobung, im Oktober heiraten sie. Als das Visum für die USA eintrifft, ist sie schwanger mit ihrer Tochter. Und sie bleibt in Berlin. Ihre Mutter und ihr Bruder emigrieren nach Argentinien zum Vater. Der betritt Deutschland nie wieder und lernt auch seinen Schwiegersohn nie kennen, der als Gemeinde- und Zentralratsvorsitzender nicht nur die Berliner Jüdische Gemeinde und das Bild des Nachkriegsjudentums in Deutschland über Jahrzehnte prägen wird, sondern auch das Leben seiner Frau. Die gibt ihren Sport auf, lernt mit ihm und durch ihn Königinnen, Staatspräsidenten und Päpste kennen, läuft über rote Teppiche, übt Hofknickse und kauft sich flache Schuhe, um ihren Gatten nicht zu überragen.

Vielfältige Engagements

Nichts desto trotz: Ruth Galinski ist nicht nur die Frau an der Seite eines bald berühmten Mannes. 1953 gehört sie mit Jeannette Wolff und Lilli Marx zu den (Wieder-)Gründerinnen des Jüdischen Frauenbundes; noch 2012, als der International Council of Jewish Women seinen 100. Geburtstag feierte, ist sie Ehrengast der Veranstaltung. Sie sitzt in zig Vorständen, wird als einzige Frau für den Zentralrat der Juden in den Beirat der Stiftung Gedenkstätten Dora Mittelbau berufen, ist Vorsitzende der Deutsch-Israelischen Hilfe für krebskranke Kinder usw. Nach dem Tod ihres Mannes (er stirbt 1992 an ihrem Geburtstag, seitdem feiert sie nicht mehr) wird es ruhiger um Ruth.

Nach einigen Jahren zieht sie in das Seniorenheim, das den Namen ihrer Mitstreiterin Jeanette trägt, ist aber weiter im Vorstand der Heinz-Galinski-Stiftung aktiv, politisch interessiert und informiert und besucht hin und wieder noch Gemeinde- und Gedenkveranstaltungen. Ruth fühlt, wenn sie bei solchen Gelegenheiten vorgeführt und aus Alibizwecken umarmt oder geküsst wird. Sie übergeht Mangel an Demut und Respekt ihrer Generation gegenüber eigentlich immer, und sagt höchstens ironisch: „Ich weiß, ich bin die Mesuse der Gemeinde!“.
Ruth ist eine Frau der Tat, nicht der schönen Worte. Noch in diesem Jahr hat sie durch eine großzügige Spende mit Hilfe des Keren Hayesod den Aufbau der „Ruth-und-Heinz-Galinski-Bibliothek“ in der Denmark High School in Jerusalem ermöglicht.

Ruth Galinski

Eine der letzten Zeitzeuginnen

Liebe Ruth,
du warst eine der letzten Zeugen, Beteiligten, Betroffenen der Schoa, aber auch der Zeit des „Aufbaus nach dem Untergang“. Und du warst Deinen Freunden eine wahre Freundin, eine lebenskluge Ratgeberin und Seelenverwandte, unprätentiös, mitfühlend, geerdet und mit einem gesunden Menschenverstand gesegnet. Du hast die richtigen Ratschläge gegeben, alle unsere Meschuggas augenzwinkernd übersehen, uns beim „Mensch-ärgere-Dich-nicht“ über den Tisch gezogen, und wir haben Dich um den Lietzensee begleitet und zu Heinz’ Grab an der Heerstraße. Da hast du dann ein paar Steinchen umgeschichtet, ein paar Blätter weggewischt, dich auf die Platte gestützt und gesagt: „Da komm ich dann auch mal hin“.
Davor haben wir uns gefürchtet. Aber jetzt ist es soweit. Alles endet wieder mit einer Urkunde; auf ihr steht der 18.9.2014 und Heinz-Galinski-Straße 1, wo du heute Nacht eingeschlafen bist.
Du hast beim Abschied immer gesagt: „Komm gut nach Hause, Schätzchen, und grüß den Deinen!“.
Ja, Ruthchen, Du auch. Mach’s gut! Und grüß den Deinen!

Das Ehepaar Galinski 1948
Das Ehepaar Galinski 1948

Eine gekürzte Version dieses Nachrufes ist in der Onlineausgabe der Jüdischen Allgemeinen erschienen. Der Nachruf erscheint in der Druckausgabe der Jüdischen Allgemeinen vom 25.9.2014. Wir danken der Autorin und der Redaktion für die Nachdruckrechte. Fotos/Repros: © Judith Kessler

2 Kommentare

  1. Wenn ich mir die heutigen Philosophen, die hinter Kant sogar zurückfallen, und den Trend heutiger internationalen Historiker ansehe, verliert die Shoa mit den Sterben der Zeitzeugen jene historischen patologischen, extremistischen divergierneden Extremalpunkt: sie wird als Verbrechen unter vielen laufen, nicht eingednek ihrer unmenschlichen und menschenveratchtenden, die Menschen als Tiere behandeln, Momente und Menschen fabrigmässig zu vernichten, als ob man ein Auto bauen würde …
    Kyniker

    — erratic orthography is intended to contribute to common amusement —

  2. Es sind nicht nur die Politiker, Industriellen oder Stars, die ein Land prägen.
    Es könne auch stille Säulen des Lebens sein, die wichtig wirken.
    Meinen Dank dem Ehepaar Galisnki
    für ihr Wirken für Deutschland.

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