Wenn aus Tätern Opfer werden

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Vor 70 Jahren besetzte die deutsche Wehrmacht Ungarn. In der staatlichen Gedenkpolitik werden die Magyaren als unschuldige Opfer stilisiert, ihre Beteiligung am Holocaust wird geleugnet…

Von Magdalena Marsovszky
Jungle World v. 13.03.2014

2014 findet in Ungarn nicht nur das Holocaust- Gedenkjahr statt. Es ist auch genau 70 Jahre her, dass am 19. März 1944 Truppen der Wehrmacht Ungarn besetzten. Ungarn war jedoch auch zuvor alles andere als eine Insel der Unschuldigen, der Antisemitismus hatte bereits eine lange Tradition. Das erste Rassengesetz Europas mit der verharmlosenden Bezeichnung »Numerus Clausus« wurde 1920 in Ungarn verabschiedet (siehe Seite 5). Der antisemitische Rassenwahn führte bereits drei Jahre vor der deutschen Besetzung Ungarns zu einem Massaker, das als die bis dahin größte Mordaktion des Holocaust bezeichnet wird: Das mit dem nationalsozialistischen Deutschen Reich verbündete Ungarn deportierte im Sommer 1941 aus den Ostgebieten des Landes etwa 18 000 früher für staatenlos erklärte Juden und Jüdinnen in das von der Wehrmacht eroberte sowjetische Territorium bei Kamenez-Podolsk in der West­ukraine und überließ sie der SS, die die meisten ermordete. Um diese Zeit muss der Wille zur Vernichtung der Juden und Jüdinnen in Ungarn bereits existiert haben.

Die seit 2010 amtierenden völkische Regierungskoalition in Ungarn sieht das anders. Sie weist jegliche Verantwortung von sich und schiebt sie ausschließlich den deutschen Nazionalsozialisten zu. Der Regierung ist die eigene Sicht der Geschichte so wichtig, dass sie sie eigens in der Verfassung festschrieb. Die Präambel der neuen Verfassung, die seit dem 1. Januar 2012 in Kraft ist, stellt eine Art Philosophie der Regierung dar und gibt für deren Kommunikation sowie die Erinnerungs- und Gedenkpolitik die Richtung vor. In ihr heißt es: »Wir rechnen die Wiederherstellung der am 19. März 1944 verlorenen staatlichen Selbstbestimmung unserer Heimat ab dem 2. Mai 1990, der Konstituierung der ersten frei gewählten Volksvertretung.« Nach dieser Auffassung sei in Ungarn 1944 mit der Besetzung durch Deutschland die Rechtskontinuität unterbrochen worden. Nach der verfassungsmäßigen Geschichtsauffassung kann also im Umkehrschluss alles, was nach dem 19. März 1944 passiert ist, so auch der Holocaust in Ungarn, nicht Ungarn angerechnet werden, während alles, was vorher geschah, nichts mit Hasskultur, mit Rassismus und Antisemitismus zu tun hatte und rechtmäßig war.

Die Verfassung stützt sich mit ihrem »nationalen Glaubensbekenntnis« auf die Vorstellung einer »unschuldigen« völkischen Nation. Die daraus folgende Sakralisierung und Mystifizierung der Nation ist in Ungarn äußerst lebendig und schlägt sich vor allem in der Verbreitung neuheidnischer Rituale nieder, mit Hilfe derer die vom Holocaust angeblich unbefleckt gebliebene Makellosigkeit des Volkstums der Magyaren glorifiziert wird. In der völkischen Erinnerungs- und Gedenkpolitik Ungarns, die zur staatlichen Kulturpolitik erhoben wurde, spielt das Opfernarrativ die größte Rolle. Die Magyaren werden zu reinen Opfern des Krieges stilisiert, jede Täterschaft wird geleugnet. Der Opfermythos ist nichts anderes als die Abwehr von Schuld und Erinnerung.

Dieser Opfermythos führt jedoch nicht nur zur Abwehr aller Schuld. All diejenigen, die auch nur leise etwas an dieser Haltung kritisieren oder sich womöglich noch an etwas erinnern, das im staatlich verordneten Geschichtsbild keinen Platz hat, werden im Zuge dessen zu Feinden erklärt. Um den Opferstatus zu beweisen, werden immer neue Geschichten erfunden, das bedeutet, die Geschichte wird neu erfunden. Äußerst verbreitet und mantraartig propagiert wird zum Beispiel die Sichtweise, dass Ungarn nicht nur bis zum Abzug der Roten Armee 1991, sondern eigentlich bis zu den Parlamentswahlen 2010 ein besetztes, letztlich fremdbestimmtes Land gewesen sei. Wer nun die Fremden sein sollen, die das Land angeblich heute noch bedrohen, ist am weit verbreiteten Gerede von der »Achse Tel Aviv – New York – Brüssel« ablesbar. So führt der Opferstatus zu einem neuen Antisemitismus. Die paranoide Vorstellung, dass das Land immer noch »zionistisch belagert« sei, ist äußerst verbreitet. Vor allem »die Linken« und »die Linksliberalen« seien innere »Verräter«, die die »wahren Magyaren« an Brüssel »ausliefern« wollten. Die permanente Bagatellisierung der eigenen Rolle und der eigenen Schuld im Holocaust führt zur Verfälschung der Geschichte. Die revisionistische Literatur boomt, im Nationalen Grundlehrplan werden antisemitische Schriftsteller der Zwischenkriegszeit als Lektüre empfohlen (Jungle World 40/2013).

Gegen die Umkehrung des Täter-Opfer-Verhältnisses protestieren Historiker in Ungarn, die ihre Fachkompetenz untergraben sehen. Der Protest richtet sich insbesondere gegen um das geplante Mahnmal für die Besatzung Ungarns, dessen Einweihung inzwischen vom 19. März auf Mai vertagt wurde, allerdings wohl nicht wegen des His­torikerprotestes, sondern weil angeblich unter der Last des Monuments die Decke des darunter befindlichen Parkhauses einzustürzen droht. In ihrem Protestbrief schreiben die Historiker: »Laut Beschreibung sollte das Denkmal ›in Erinnerung an alle Opfer‹ entstehen. Da das Denkmal jedoch auf Geschichtsfälschung beruht, kann es seine Aufgabe nicht erfüllen. Damit, dass es die Opfer des Holocaust und dessen Mittäter in gleicher Weise als Opfer darstellt, schändet das Denkmal das Gedenken an die Opfer. Der ungarische Holocaust geschah unter aktiver Mitwirkung der ungarischen Behörden. Das Denkmal schiebt jedoch die historische Verantwortung ausschließlich den Deutschen und den ›Pfeilkreuzler-Küken‹ der deutschen Armee in die Schuhe. In Wahrheit spielten die Pfeilkreuzler bei den Deportationen des Sommers 1944 keinerlei Rolle. Wir, die unterzeichnenden Historikerinnen und Historiker, fordern die Regierung auf, mit der Verfälschung unserer jüngeren Vergangenheit und der Relativierung der Geschichte des Holocaust aufzuhören und von der Verwirklichung des Denkmals auf dem Freiheitsplatz abzusehen.«

Auch der internationale Protest gegen die Geschichtsfälschung nimmt zu. So hat der bekannteste Forscher des Holocaust in Ungarn, der US-Amerikaner Randolph L. Braham, sein ihm 2011 verliehenes Verdienstkreuz zurückgegeben.

Währenddessen nimmt die antisemitische Hetze solche Ausmaße an, dass sich der Präsident der Jüdischen Glaubensgemeinde in Budapest, Peter Tordai, zu Wort meldete: »Ich möchte über die allgemein pessimistische Stimmung der Budapester Jüdinnen und Juden berichten. Unsere Rabbiner und Mitarbeiter in den Glaubensgemeinden berichten darüber, dass die Zahl derer, die die Gottesdienste besuchen, zurückgegangen sei, und zwar wegen der Angst, nach Sonnenuntergang auf die Straße zu gehen. In der Glaubensgemeinde wird unsere Zurückhaltung kritisiert, man meint, wir seien zu schwach. Man hat uns ermuntert, endlich Stellung zu beziehen (…). Ich bitte Sie, die Nachricht in allen Medien zu verbreiten: Im Jahre 2014 haben die ungarischen Jüdinnen und Juden das Gefühl, als seien sie in der Zeit zwischen 1938 und 1944. Auch damals sagten viele von uns, uns würde dies alles nicht treffen, wir seien ungarische Jüdinnen und Juden, wir seien nützliche Mitglieder einer zivilisierten Gesellschaft, hätten gesamtgesellschaftlich viel Positives geleistet, was man uns sicher anrechnen würde. Unsere Jüdinnen und Juden haben Angst. Wir möchten nicht, dass sich die Geschichte der Zeit zwischen 1938 und 1944 wiederholt.«