Damals in Wien: Wohllebengasse 4

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… Es war ein Unterschied, ob junge Frauen über Sex Bescheid wussten oder ob sie ihn praktizierten. Erni lieferte die Probe aufs Exempel, welch doppelter Standard für Männer und Frauen galt…

Von Tim Bonyhady aus „Wohllebengasse – die Geschichte meiner Wiener Familie“… (S. 223)…

Als er sich nach der Scheidung unserer Eltern als Quasi-Vater meines Bruders versuchte, bezog er sich auf seine eigenen Erfahrungen als junger Mann, um Bruce in den Lauf der Welt einzuweihen. Er erzählte, dass er als junger Offizier im Ersten Weltkrieg oft bei armen Bauernfamilien untergebracht gewesen sei und fast immer mit den Töchtern geschlafen hatte; ein typisches Beispiel dafür, wie bürgerliche Männer damals Frauen der Unterklasse ausbeuteten. Für Erni waren diese Erfolge, wie er sie sah, der normale Vorläufer des Ehelebens.
Falls Moriz und Hermine über Ernis Verhalten Bescheid wussten, scheint es ihnen nichts ausgemacht zu haben; sie hielten es für akzeptabel, dass unverheiratete Männer eine ganze Menge Affären hatten.

Gretl war in einer anderen Lage. Wäre ihre Beziehung zu Schiller publik geworden, dann wären ihr Ruf ruiniert und ihre Heiratsaussichten dahin gewesen, egal wie hoch ihre Aussteuer sein mochte. So war es bloß eine private Blamage. Anne schrieb: »Die Familie hatte es nicht verhindern können, und nun musste sie in ihrem minderwertigen Zustand, wie sie es sah, einen Ehemann finden.« Hermine war entsetzt. Mochte sie die »Frauenfrage« im Theater gerne abgehandelt sehen, mit einem solchen Thema im eigenen Haus konfrontiert zu sein, erschütterte sie denn doch.

EHE

Es wird oft angenommen, dass Juden im Österreich der Jahrhundertwende, falls sie zum Christentum übertraten, damit nicht nur ihre Identität zu ändern hofften, nein, es sollte auch sofort geschehen. Am einen Tag würden sie Mitglieder der Israelitischen Kultusgemeinde sein, Teil der jüdischen Gemeinschaft, einer weitum verachteten Minderheit, am nächsten Katholiken oder Protestanten, akzeptiert als vollwertige Mitglieder des Christentums, befreit von Vorurteil und Diskriminierung, eingebettet in die dominierende Kultur. Wenn diese Akzeptanz dann nicht kam, fühlten sie sich noch mehr abgelehnt und entfremdet als vor der Konversion.

Aber konnten diese Männer und Frauen denn erwartet haben, dass ihre Taufe so vieles so schnell bewirken würde? Ihre Handlung mag manche Juden zutiefst empört haben, die Bindung der Konvertiten aber an die jüdische Gemeinschaft, wenn nicht die jüdische Religion, war zu stark, der Prozess, eine Identität gegen die andere auszutauschen, zu kompliziert. Und der Antisemitismus in Österreich war zu ausgeprägt. Wenn diese Männer und Frauen konvertierten, waren ihre Hoffnungen wahrscheinlich viel bescheidener. Sie wussten, dass die Taufe nur ein erster Schritt auf dem Weg zu einer christlichen Identität sein würde.
Welche Ehepartner sie wählten, war dabei wesentlich. Falls sie Christinnen heirateten, wie es Hermines drei Brüder taten, unterstrich das ihre neue Religion, waren ihre Partner konfessionslos oder Juden, untergrub das den Übertritt. Hermine wollte, dass ihre Kinder Katholiken heirateten und ihr katholische Enkelkinder schenkten. Doch bei Gretl gelang das nicht, als sie 1921 endlich heiratete, und auch nicht bei Erni, der es einige Monate später tat. Ihre Ehepartner kamen beide aus jüdischen Familien, die Ende des 19. Jahrhunderts nach Wien zugewandert waren, hatten aber anders als Moriz und Hermine ihre Religion beibehalten.

Als ich dieses Buch zu schreiben begann, wusste ich, dass Erni Marie Jacobi (genannt Mizzi) im Sommer 1920 kennen gelernt hatte, als sie eine der vielen jüdischen Familien besuchte, die in Altaussee Villen besaßen oder mieteten. Ich wusste auch, dass sie wie die gleichaltrigen Käthe und Lene an der Wiener Universität studierte, obwohl sie, wie es die Konvention verlangte, nach der Hochzeit mit Erni das Studium aufgab. Einen akademischen Grad würde sie nicht verwerten können, nahm sie an, da sie als verheiratete Frau nie berufstätig sein würde. Es würde Erni in Verlegenheit bringen, wenn sie Frau Dr. Gallia war, er hingegen nur Herr Gallia. Ich wusste allerdings nichts über die Jacobis und nahm an, meine Fragen würden unbeantwortet bleiben. Wen konnte ich schon 65 Jahre später finden, der sich noch daran erinnerte, wie die Familie in Wien gelebt hatte? Am fünfzigsten Geburtstag meines Bruders im Jahr 2004 besuchten wir den einzigen noch lebenden Cousin Mizzis in Melbourne, Hans Low. Es stellte sich heraus, dass er nicht nur hin und wieder die Wohnung der Jacobis in Wien besucht hatte, seine Schwester Lore hatte auch in den 1930er Jahren einige Jahre bei ihnen gelebt, und seine Schwester Katia war ebenfalls dort zu Besuch gewesen. Hans bot sich an, Lore in der Slowakei und Katia in England per E-Mail Fragen zu stellen und ihre Antworten zu übersetzen.
Nur einer von zehn unter den 215.000 Wiener Juden lebte streng nach den Gesetzen. Die Jacobis gehörten zur Mehrheit, die es anders hielt. Vielleicht hielten sie nicht einmal die hohen Feiertage ein, gingen nur anlässlich von Hochzeiten, Begräbnissen und Bar-Mitzwas in die Synagoge. Sie führten keinen koscheren Haushalt. Doch er wirkte trotzdem, wie Hans’ Schwestern sich erinnerten, jüdisch, da Mizzis Mutter Anna eine typische »jiddische Mamme« war, die nur um das Wohl ihres Ehemannes und ihrer Kinder besorgt schien. Anna habe keine Interessen außerhalb des Haushalts gehabt, sei nie ins Theater oder Kino, ins Kaffeehaus oder zu Bridgerunden gegangen. Ihre Konversation bestand hauptsächlich aus Sätzen wie: »Nehmt euch doch noch was … Wollt ihr noch ein Stückchen?… Nehmt euch doch… Schmeckt euch mein Essen nicht?«
Dass die Jacobis so reich waren, machte die Sache wett. Mizzis Vater war Industrieller und hatte in Wien wirtschaftlichen Erfolg gehabt, wenn auch nicht ganz so sehr wie Moriz. Adolf Jacobis Unternehmen produzierte Wellpappe und Zigarettenpapier. Er besaß auch ein weitläufiges Grundstück in der Piaristengasse in der Josefstadt, dem achten Bezirk, eine wohlhabende bürgerliche Gegend, in der Juden Anfang des Jahrhunderts beinahe ebenso selten gewesen waren wie im vierten Bezirk, allmählich aber häufiger wurden. An der Straßenfront stand ein modernes Wohnhaus, die Jacobis wohnten im Nobelstock. Die restlichen achtzehn Wohnungen und die zwei Betriebe waren vermietet, zwei Werkstätten befanden sich dahinter.

Paul Herschmann, Gretls Ehemann, kam aus einer weitaus weniger betuchten Familie. Sie hatten einander in Gretls zweiter Ballsaison kennengelernt, während Paul seinen Militärdienst ableistete, nachdem er in Freiburg im Breisgau ein Chemiedoktorat erworben hatte. »Dr. Horsch-mann« – ein Schreibfehler, der vermuten lässt, dass er Gretl eben erst vorgestellt worden war – taucht in ihrem Tagebuch erstmals anlässlich eines »the dansant« auf, den eine Familie im Dezember 1913 veranstaltete; damals war er der Letzte von fünf Männern, mit denen Gretl getanzt hatte, und er schien nicht unter denen auf, mit denen sie sich besonders gern unterhalten hatte. »Dr. Herschmann«, diesmal richtig geschrieben, besuchte am Stephanstag eine Soiree bei den Gallias in der Wohllebengasse und kam dann zu ihrem Hausball im folgenden Jänner, obwohl Paul sich bloß, wie Käthe es später beschrieb, an »zwei kleine rosa Dinger« erinnerte, die herumliefen – mit anderen Worten Lene und Käthe, damals dreizehn und in Rosa, denn das war Hermines Lieblingsfarbe. Gretl, ganz von ihrem Kavallerieoffizier in Anspruch genommen, kümmerte sich nicht um Paul.

Nach dem Krieg, den er in der Armee verbracht hatte, trafen sie einander wieder. Als Gretl eines Tages Käthe und Lene auf der Universität besuchte, war Paul zufällig ebenfalls dort. Sie trafen einander beim Technikerball, Paul begleitete sie nachhause, und schließlich machte er ihr, nachdem sie einander in den Monaten darauf öfter gesehen hatten, einen Antrag. Mehr Zeit miteinander verbrachten sie erstmals auf einer Reise nach Berlin mit Adolf und Ida als Anstandspersonen. Eine Krise -sie erinnerte an jene, die in Gretls Beziehung zu Norbert Stern immer wieder vorgekommen waren – trat ein, als Gretl einen »gleichgültigen« Brief von Paul erhielt, der sie zum Weinen brachte, doch diesmal gab es eine umgehende »Korrektur«. Wäre sein Vater nicht im September 1920 gestorben, hätten sie früher heiraten können. So jedenfalls warteten sie nicht das volle Trauerjahr ab, sondern heirateten nach sechs Monaten im März 1921.
Nach ihren eigenen Vorstellungen hatten die Herschmanns es gut getroffen. Pauls Großmutter väterlicherseits war Hausiererin im Riesengebirge gewesen, die von Stadt zu Stadt und Markt zu Markt gewandert war, um nach dem frühen Tod ihres Ehemannes ihre Kinder zu versorgen. Pauls Vater Ludwig kam nach Wien, wo er in der Leopoldstadt eine Buchhandlung betrieb, bevor er ein Ledergeschäft eröffnete und Häute ein- und verkaufte, ein bei Juden häufiger Beruf. 1878 war der dreißigjährige Ludwig in der Lage, eine ebenfalls aus Böhmen stammende Jüdin zu heiraten, Anna Schick. Paul, der vierte ihrer fünf Söhne, war der erste Herschmann, der die Universität besuchte. Sein jüngster Bruder Otto folgte ein paar Jahre später.

Weit entfernt jedoch, ein Vermögen anzuhäufen, um wie die Gallias und Jacobis ein eigenes Haus in Wien kaufen zu können, mieteten die Herschmanns eine Wohnung in der Gredlerstraße, einer Nebenstraße in der Leopoldstadt, wo sie ab 1899 lebten. Der Lederhandel der Familie war ebenfalls relativ klein; als Pauls Vater starb, hinterließ er ihn seinen fünf Söhnen, ungeachtet dessen, ob sie im Geschäft arbeiteten, und das taten zumindest zwei von ihnen nicht: Bernhard, der an Syphilis im Spätstadium litt, und Otto, der immer noch Chemie studierte. Nachdem die Einkünfte auf alle fünf aufgeteilt waren, verdiente Paul wahrscheinlich nicht mehr als Norbert Stern, und er hatte zudem keine Aussicht, wie Norbert bedeutende Immobilienwerte zu erben.
Bernhards Krankheit genierte Paul, für die Gallias wiederum war sie etwas Erschreckendes und Abstoßendes. Als Bernhards Gesundheitszustand sich verschlechterte, als er das Geld mit vollen Händen hinauszuwerfen und wüst mit seiner Familie zu streiten begann, brachten ihn die Herschmanns in eine der besten Wiener Privatkliniken. Einem ärztlichen Bericht ist zu entnehmen, dass sein Gang abnormal und sein Sprechvermögen eingeschränkt war; er betete überschwänglich auf Hebräisch, die Menschen jüdischen Glaubens möchten anständiger werden, verfluchte seine Ärzte und beschuldigte sie, ihn zu hintergehen, und dachte, er könne Wunder wirken; er glaubte, alle Voraussagen Tolstois seien eingetroffen; er verhielt sich sadistisch, brüllte und geiferte.
Das Foto aus dem Schrank meiner Mutter, an das ich mich erinnerte, war das früheste Bild von Gretl und Paul, vielleicht von ihrer Verlobung. Sie blickte zu ihm auf, er zu ihr nieder; beide lächelten. Die Fotografie interessierte mich, weil die Geschichten meiner Mutter immer vermuten hatten lassen, über der Ehe von Gretl und Paul sei von Anfang an ein Unstern gestanden. Ich fragte mich, ob die zur Schau gestellte Zuneigung auf dem Bild für die Kamera vorgespielt war, oder ob sie für kurze Zeit ein glückliches Paar waren. Doch als ich nach Annes Tod auf die Suche nach dem Foto ging, fiel mir auf, dass Paul und Gretl in Wahrheit in dieselbe Richtung blickten und keine Beziehung erkennen ließen. Der Ring, den Gretl trägt, deutet an,dass es ein Hochzeitsfoto war. Sie lächelt, er schaut streng. Nichts deutet auf Glück hin.

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Wohllebengasse:
Die Geschichte der Gallias
Am 12. November 1938 – auf den Straßen lagen noch die Scherben der Pogromnacht – verließen drei Frauen Wien und machten sich auf die lange Reise nach Sydney…