Keine Zeit für Palästina?

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Unter dem Schutz des israelischen Militärs eskalieren die Gewalt und der Vandalismus der Siedler gegen die Palästinenser. Ende 2011 sind in der Westbank 474 jüdische Anwesen, sogenannte Außenlager und militärische Installationen gezählt worden…

Von Reiner Bernstein

Wenn Sigmar Gabriel nach seinem Besuch in Hebron vor zwei Wochen „political incorrectness“ vorgeworfen worden ist, kann er sich nach der Brutalität in der Stadt bei der Besetzung eines weiteren Hauses erneut bestätigt fühlen. Mit jenen im Regierungsbezirk Jerusalem liegt die Zahl der Siedler in den Teilen des Landes, die entgegen jeder Evidenz für den Staat Palästina vorgesehen sind, bei weit über 700.000. Nicht weniger als dreißig Prozent der Neumitglieder des „Likud“ waren Ende November 2011 Siedler.

Zur selben Zeit erlebt die Diskussion um die praktischen Konsequenzen der Zusage Angela Merkels, wonach die Sicherheit des Staates Israel zur Staatsräson gehört, eine Neuauflage. Da Benjamin Netanjahu sein Kabinett und das Parlament wie kein Regierungschef seit David Ben-Gurion dominiert, läuft dieses Versprechen komplett auf seine Unterstützung hinaus. Auch in Sachen „Iran“ gelingt es ihm, die deutsche und internationale Diplomatie vor sich herzutreiben.

Es gibt gute Gründe, warum sich die Aufmerksamkeit Europas voll auf das Nuklearprogramm Teherans und auf das brutale Vorgehen des Assad-Regimes gegen die eigene Bevölkerung konzentriert. Auch dass die Außenämter seit dem Ausbruch der „Arabellion“ einen erheblichen Nachholbedarf bei der Bewertung dessen haben, was sich in Tunesien, in Libyen, in Ägypten und im Jemen abspielt, ist nachvollziehbar. Freilich läuft das Interesse an Jordanien vorbei, wo sich die Konflikte zuspitzen, Stichwort „Reform des Verfassungssystems“.

Als ob die Missionschefs ihre Zentralen am deren Fehlgängen im Zweifel ließen, wird in der Europäischen Union unbeirrt an der Illusion festgehalten, dass Netanjahu mit Machmud Abbas einen politisch ebenbürtigen Präsidenten habe. Nur so lässt sich die wiederholte Aufforderung zu direkten Verhandlungen verstehen. Auch dass die Bundeskanzlerin dem Chef der „Diplomatischen Mission Palästina“ in Berlin den Titel eines Botschafters verwehren will, lässt sich nur so interpretieren, dass allein der Ministerpräsident in Jerusalem über den Weg in die Zwei-Staaten-Lösung entscheiden soll.

Damit wird ein Versäumnis der auswärtigen Diplomatie offenkundig, das schwer behoben werden kann: Kritische Diskurse in Israel gegenüber ihrer Regierung finden kaum mehr als einen negativen Widerhall. Netanjahu und seinen Leuten ist es gelungen, die überwältigende Mehrheit auf Linie zu bringen; sie ist wie gelähmt. Die parteiinterne Niederlage Tsipi Livnis mag ihrem taktischen Ungeschick und ihrer geringen öffentlichen Ausstrahlung zuzuschreiben sein, ihr Nachfolger Shaul Mofaz wird kaum zögern, „Kadima“ in die Koalition zu führen.

Vor zwei Jahren hat Barack Obama die verzweifelte Frage gestellt, wo denn in Israel die Unterstützung für sein Leitmotiv „Change“ bleibe. Seine Schlussfolgerungen aus der Klage sucht man jedoch vergebens. Denn dass es sich der Präsident nicht nehmen ließ, zum „American Israel Public Affairs Committee“ zu eilen, und dass er zur Konferenz von „J Street“ nur die dritte Garnitur schickte, zeugt nicht von politischem Weitblick. Besonnenheit sei wenigstens der deutschen und der europäischen Politik empfohlen. Denn falls israelische Kampfflugzeuge bei den angedrohten Attacken auf iranische Atomanlagen den türkischen Luftraum verletzen, was dann, Frau Bundeskanzlerin? Staatsräson oder Nato-Partnerschaft?