Brisante Wohngemeinschaft: KZ-Häftlinge und Nazis unter einem Dach

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Gräfin Ingeborg Kalnoky leitete einst in Nürnberg ein besonderes Gästehaus…

Von Jim G. Tobias

„Schmal und blass mit tiefen Furchen im Gesicht stand er vor mir. Rechts und links war er von Posten flankiert. Der ihn begleitende Offizier erklärte mir: ‚Dieser Mann hat Zimmerarrest. Niemand darf ihn sehen und er darf mit niemanden sprechen. Sie tragen die Verantwortung.’”

Diese Szene ereignete sich vor Jahrzehnten in einer Nürnberger Vorstadtvilla. Die Stadt lag in Trümmern, der Hitlerfaschismus war besiegt. Die Alliierten bereiteten die Prozesse gegen die führenden Nazis vor. Der Gefangene, der hier von der US-Militärpolizei überstellt wurde, war der Gründer und erste Chef der Gestapo, Rudolf Diels. In der Nürnberger Novalisstraße 24 hatten die Amerikaner im Sommer 1945 eine Herberge für wichtige Zeugen eingerichtet, die bei den Kriegsverbrecher-Prozessen aussagen sollten. Geführt wurde das „Zeugenhaus” von der in Nürnberg gestrandeten Gräfin Ingeborg Kalnoky.

Infolge der Kriegswirren hatte es die aus Thüringen stammende Adelsdame in die Frankenmetropole verschlagen. Durch Zufall wurden die Amerikaner auf die politisch unbelastete und in mehreren Sprachen bewanderte Ingeborg Kalnoky aufmerksam und verpflichteten sie, das Haus, in dem die wichtigen Prozesszeugen Unterkunft fanden, zu führen. „Keep it running smoothly”, trugen ihr die Amerikaner auf. Und die Gräfin sorgte dafür, dass alles in geordneten Bahnen verlief. „Das war manchmal gar nicht so einfach”, erzählte Frau Kalnoky. Neben hochrangigen Nazis waren auch zahlreiche ehemalige KZ-Häftlinge und Widerstandskämpfer Gäste in der Nürnberger Villa. Oft saßen Opfer und Täter an einem Tisch und die „Hausdame” musste ihr ganzes psychologisches Geschick einsetzen, um Auseinandersetzungen zu vermeiden.

Die Gräfin wurde natürlich verpflichtet über alle Ereignisse, die sich im Zeugenhaus zutrugen, Stillschweigen zu bewahren. Aber Frau Kalnoky machte sich heimlich Notizen und führte darüber hinaus ein Gästebuch. Jahrzehnte interessierte sich niemand für die Geschichte des ehemaligen Zeugenhauses und seiner Leiterin. Die Adelige übersiedelte Ende der vierziger Jahre in die USA und lebte am Rande von Cleveland im Bundesstaat Ohio. 1996 berichtete die Journalistin Christiane Kohl im Magazin „Der Spiegel“ erstmals über das Nürnberger Zeugenhaus (2005 erschien ihr Buch dazu). Plötzlich stand die Gräfin im Rampenlicht der Medien. Mehrere Zeitungen und TV-Teams nahmen sich der vergessenen Episode der deutschen Nachkriegsgeschichte an. „Jetzt wo ich bald sterbe, kommt ihr endlich”, beschwerte sich die 87-jährige seinerzeit in einem Gespräch mit dem Autor.


Gästebucheintrag vom 20. August 1946: Zeichnung und Widmung von Henriette von Schirach.
Repro: © Jim G. Tobias

Die Ereignisse aus längst vergangenen Tagen waren jedoch immer noch lebendig: „Am Nachmittag des 1. Oktobers 1946“, so erinnerte sich die Gräfin, “saßen wir alle im Salon am Radiogerät und hörten der Urteilsverkündung des Internationalen Militärtribunals zu.” Zwei ihrer Gäste waren besonders angespannt: Henriette von Schirach und ihr Vater Heinrich Hoffmann, Hitlers persönlicher Freund und Fotograf. Die führenden Vertreter des 3. Reiches, unter ihnen Keitel, Göring, Ribbentrop und Jodl wurden wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit zum Tode verurteilt. Auch Frau von Schirach rechnete mit dem Schlimmsten. „Plötzlich ein Schrei, Henriette jauchzte auf. Das Gericht schickte ihren Mann, Baldur von Schirach, für nur 20 Jahre hinter Gittern”, entsann sich Ingeborg Kalnoky: „Sie tanzte vor Freude, weil man ihrem Gemahl das Leben schenkte.”

Eine düstere Anekdote schilderte die Gräfin in ihrem seit langem vergriffenen Buch „The Guest House”. Fünf neue Gäste mussten in der Villa untergebracht werden. Die Neuankömmlinge waren Überlebende aus diversen Konzentrationslagern, die als Zeugen vor dem Militärtribunal aussagen sollten. Unter ihnen befanden sich vier polnische Juden, die die Hölle von Majdanek überlebt hatten und ein deutscher Widerstandskämpfer, der jahrelang in Mauthausen gequält worden war. Die Hausdame wollte die neuen Gäste der versammelten Runde vorstellen und sagte: „Entschuldigen Sie bitte, wenn ich die polnischen Namen der Herren nicht richtig ausspreche.” „Sie haben alle Nummern, liebe Gräfin”, warf der Widerstandskämpfer zynisch ein und schaute dabei Heinrich Hoffmann an. „Vielleicht würde es Herrn Hoffmann freuen, wenn sie sich mit ihren Nummern vorstellen würden?“ „Warum nicht”, entgegnete der Fotograf und sagte, mit einem breiten Grinsen zu den ehemaligen KZ-Häftlingen: „Ich freue mich Sie kennenzulernen, nennen Sie mir Ihre Nummer oder wenn Sie wollen Ihren Namen.”


Während Hitlers Leibfotograf Heinrich Hoffmann das Gästebuch mit seinen Karikaturen illustrierte, verewigte sich seine Frau Erna mit schwülstigen Reimen.
Repro: © Jim G. Tobias

Das Zeugenhaus beherbergte insgesamt rund 100 Menschen, darunter kurzzeitig auch Elmar Streicher, der Sohn Julius Streichers, des ehemaligen NS-Frankenführers und „Stürmer“-Herausgebers. Viele trugen sich in das Gästebuch ein, wie etwa der Antifaschist Robert Havemann, aber auch Görings Privatsekretärin Gisela Limberger. Das Haus wurde streng bewacht. Niemand konnte das Anwesen verlassen, so dass auf engstem Raum Opfer und Täter aufeinander trafen. Doch Gräfin Ingeborg Kalnoky meisterte fast alle kritischen Situationen: „Ich war doch die einzige Frau der Welt, die den Gestapo-Chef bewacht hat”, erinnerte sich die ehemalige Hausdame schmunzelnd.

Bis zum Ende des Jahres 1947 führte die – 1997 verstorbene – adelige Dame das Haus in der Novalisstraße. Nazigrößen und Wehrmachtsgenerale, unter ihnen Erwin Lahousen, ein enger Mitarbeiter von Abwehrchef Canaris, lebten unter ihrer Obhut. Der Ex-General war ein wichtiger Zeuge für die Alliierten. Um den sichtlich nervösen Lahousen bei Laune zu halten, schickten die Militärbehörden ihm einige Tage vor seiner Vernehmung „ein Mädchen aufs Zimmer”. „Besondere Gäste erhielten eine besondere Betreuung”, so kommentierte die Zeitzeugin diese Begebenheit.


Gräfin Ingeborg Kalnoky in ihrem Haus am Rande von Cleveland im Sommer 1996. Ein Jahr später starb die Frau, die Geschichte schrieb.
Foto: © Jim G. Tobias

Lese-Tipp:
Christiane Kohl: Das Zeugenhaus. Nürnberg 1945: Als Täter und Opfer unter einem Dach zusammentrafen
Goldmann Verlag 2006, Euro 8,95, Bestellen?