Die Juden von Saloniki im deutschen Lexikon

1
159

Die Juden der griechischen Stadt Saloniki, dieser einzigartige und mehr als zwei Jahrtausende bestehende Mikrokosmos‘ jüdischen Lebens auf dem Balkan, wurden 1943 im Verlaufe nicht einmal eines halben Jahres von Deutschen ausgelöscht (siehe hierzu u.a. mein vorangegangener Beitrag).  Die gleichen Deutschen pflegen ihr kulturelles Erbe, ebenso wie ihre Geschichte seit mehr als drei Jahrhunderten in verschiedenen Nachschlagewerken zusammen zu tragen und, zunächst nur ihren Eliten, dann größeren Teilen ihrer Bevölkerung zugänglich zu machen…

Von Robert Schlickewitz 

Die Lexika der Deutschen, von denen die der Verlagshäuser Brockhaus, Meyer und Herder die weiteste Verbreitung fanden, geben ein Weltbild wieder, welches auf den ersten Blick als objektiv und authentisch erscheint, welches sich jedoch bei näherer Betrachtung als höchst einseitig, als stark von nationalen und christlichen (!) Befindlichkeiten sowie von ‚patriotischen‘ Erwägungen geprägt erweist. Entsprechend sucht man nach bestimmten Fakten und Angaben häufig vergebens. Die so zahlreichen Lücken, Auslassungen, Halbwahrheiten, Klitterungen und ‚Schönschreibereien‘ in den deutschen Nachschlagewerken werfen nicht selten mehr Fragen auf als die Einträge beantworten. Ganz besonders die Lexika der Jahre nach 1945 kennzeichnet der fragwürdige Trend zu einem So-wenig-als-nötig, wenn es etwa um Auskünfte zu den deutschen Untaten des „Dritten Reiches“ geht. Ob diese fragwürdige Verlags- bzw. Redaktionspolitik dem ‚guten Ruf‘ Deutschlands jedoch letzten Endes tatsächlich zugute kam (und kommt), darf bezweifelt werden. Denn auch Zeitgenossen, die später zu Neonazis oder Rechtsradikalen wurden, haben vielleicht irgendwann einmal eines dieser Lexika befragt und nur unzureichende, bzw. ihr übersteigert deutschnationales, unkritisches Eigenbild lediglich bestätigende Informationen vorgefunden. Selbst ganz ‚normale‘ Benutzer blieben über Jahrzehnte hinweg, etwa in Bezug auf die nationale Minderheitengeschichte, grundsätzlich und notorisch unterinformiert.

2000 Jahre Juden in Saloniki – wie gingen/gehen deutsche Nachschlagewerke generell an dieses Thema heran? Wie stellen sie die so schmerzliche Rolle der eigenen deutschen Vorfahren bei der Vernichtung der Juden der griechischen Stadt dar? Welche möglichen Erkenntnisse oder Lehren aus der Geschichte vermitteln die Lexika dem deutschen Benutzer?

Zur Beantwortung dieser Fragen soll ein repräsentativer Querschnitt durch die deutsche Lexikon-Landschaft der letzten einhundert Jahre in chronologischer Reihenfolge die nötigen Aufschlüsse liefern. Es werden jeweils sämtliche vorhandene Angaben zu Juden wörtlich (kursiv) wiedergegeben.

Meyers Großes Konversations-Lexikon, 6. Aufl., Leipzig und Wien 1909:

Saloniki

Seine (Provinz Saloniki!) auf 1 130 800 Köpfe geschätzte Bevölkerung besteht aus Slawen (550 000), Türken (330 000), Griechen (170 000), Juden (56 000), Walachen (27 000) und mohammedanischen Zigeunern (22 000)…

Die Stadt hat … eine römisch-katholische Kirche, 30 Synagogen … eine jüdische Hauptschule…

Die Bevölkerung der Stadt wird auf 105 000 geschätzt, davon 60 000 Juden (Spaniolen oder Sephardim), 3000 Franken (*), den Rest Türken und Griechen…

S. ist der Sitz eines Generalgouverneurs (…) und des Generalkommandanten (…) von Mazedonien, eines griechischen Metropoliten, eines Großrabbiners der Juden und zahlreicher Konsuln…

Zwar alles andere als erschöpfende Informationen, aber immerhin brauchbares Basismaterial.

Der Große Brockhaus, 15. Aufl., Leipzig 1933:

Saloniki

2) Hauptstadt des Nomos S. …, hat 1928 244 680 E., darunter viele spaniolische Juden…

Das Erscheinungsjahr ist das Jahr, in dem die Nationalsozialisten an die Macht kamen.

Der Kleine Brockhaus (2 Bände), Wiesbaden 1950:

Das Stichwort „Saloniki“ enthält keine Angaben zu Juden.

Der Grosse Brockhaus, 16. Aufl., Wiesbaden 1956:

Das gleiche Bild bietet sich in der mehrbändigen Ausgabe des angesehenen Nachschlagewerks.

Der Grosse Herder, 5. Aufl., Freiburg 1956:

Ebenfalls keine Angaben zu Juden unter dem Stichwort „Saloniki“; angemerkt wird lediglich, dass sich die Stadt vom 9.4.1941 bis 31.10.1944 „in deutscher Hand“ befand. Mag ja sein, dass mit dieser Minimalinformation die Erlebnisgeneration in Deutschland ausreichend ‚bedient‘ wurde, nur – reichte diese Information auch aus, um die Jugend der Adenauerjahre vollständig ins Bild zu setzen?

Brockhaus Enzyklopädie in 20 Bänden, 17. Aufl., Wiesbaden 1973:

Saloniki

Geschichte… Zu Anfang des 15. Jahrhunderts wanderten aus Spanien vertriebene sephard. Juden ein und bildeten bis zu ihrer Ausrottung (1943/44) eine blühende Gemeinde. 1912 kam S. an Griechenland.

Will das Renommierlexikon nun informieren oder nur suggerieren, wer für die „Ausrottung“ verantwortlich war?

Meyers Enzyklopädisches Lexikon, 9. Aufl., Mannheim u.a. (korrigierter Nachdruck) 1979:

Saloniki, … 

Geschichte… Die griechische Bevölkerung wurde getötet oder deportiert, an ihrer Stelle wurden am Ende des 15. Jh.s 20 000 aus Spanien vertriebene Juden angesiedelt…

Die jüd. Bevölkerung wurde unter dt. Besatzung während des 2. Weltkrieges nahezu vollständig getötet…

Ob möglicherweise bei Kämpfen „getötet“ oder planmäßig im KZ Auschwitz ermordet, muss der Benutzer woanders nachschlagen.

Goldmann Lexikon in 24 Bänden, (Hg.) Bertelsmann Lexikographisches Institut, „aktualisierte Ausgabe“, Gütersloh und München 1998:

Juden werden unter dem Stichwort „Saloniki“ nicht erwähnt.

Brockhaus Enzyklopädie in 30 Bänden, 21. Aufl., Leipzig und Mannheim 2006:

Saloniki, …

Geschichte… Die griech. Bevölkerung wurde getötet oder deportiert, an ihrer Stelle wurden am Ende des 15. Jh. 20 000 aus Spanien vertriebene Juden angesiedelt.

Ein absolutes ‚geistiges Armutszeugnis‘ für die Redaktion des Renommierlexions: Der gleiche Text wie 27 Jahre zuvor beim Exkonkurrenten Meyer – minus der Information über die Auslöschung der Saloniki-Juden durch Deutsche (!).

Zum Vergleich:

Encyclopaedia Britannica, 1959:

Salonika

Pop. (1928 last census before World War II) 236 524, including some 50 000 Sephardic Jews, whose ancestors fled thither in the 16th century from Spain and Portugal: their language is a corrupt form of Spanish, called Ladino (…) …

Each religious community has ist own schools and places of worship, among the most important being the Jewish high-school, the Jesuit college, a high-school founded in 1860 and supported by the Jewish Mission oft he Established Church of Scotland, a German school…

Ebenfalls nur wenige Informationen über die Juden in Saloniki; aber es waren auch nicht die Briten, sondern die Deutschen, die hier eine ganze Kultur vernichteten und über 40 000 Menschen ermordeten.

PS:

Das hier untersuchte Stichwort „Saloniki“ ist nur eines von Hunderten, welche in Zusammenhang mit der deutschen Minderheitengeschichte stehen. Und – es ist bedauerlicherweise repräsentativ für den sich über viele Generationen erstreckenden feigen Umgang deutscher Lexikonredaktionen mit der eigenen, deutschen, intoleranten Vergangenheit.

Literatur:

Encyclopaedia Judaica, Jerusalem 1971, Stichwort: „Salonika“
Enzyklopädie des Holocaust, (Hg.) Israel Gutmann, Tel Aviv 1990 (Berlin 1993), Stichwort: „Saloniki“
S. Friedländer, Das Dritte Reich und die Juden, München 2008, S. 869-872
Neues Lexikon des Judentums, (Hg.) Julius H. Schoeps, Gütersloh/München 1998, Stichwort: „Griechenland“

Youtube-Tipp: Ein Überlebender aus Saloniki

[youtube]http://www.youtube.com/watch?v=SKzchjai7iY[/youtube]

(*) Gemeint sind mit Franken – W e s t e u r o p ä e r, also Franzosen (möglicherweise auch Spanier und Portugiesen), gemäß der „Geschichte des Balkans“ von Prof. Dr. Edgar Hösch (2004).

1 Kommentar

  1. Ein Literatur-Hinweis zu dem oben angegebenen YOUTUBE-Tipp.
     
    Die Erinnerungen eines der drei hier porträtierten Saloniki-Juden, Shlomo Venezia, sind in deutscher Sprache in Buchform erschienen.
    Als Übersetzung aus dem Französischen brachte sie der Karl Blessing-Verlag in München im Jahre 2008 heraus:
     
    Shlomo Venezia, in Zusammenarbeit mit Beatrice Pasquier: Meine Arbeit im Sonderkommando Auschwitz – Das umfassende Zeugnis eines Ãœberlebenden.
     
    271 S., zahlreiche Illustrationen und Fotos. Von Simone Veil stammt das Vorwort. Das erste Kapitel ist dem Leben der Juden in Saloniki gewidmet und steuert wertvolle Informationen bei. Außerdem lernen wir aus dem empfehlenswerten Buch eine Menge über die eigene deutsche Mentalität.
     
    Bei ZVAB ist das Buch gebraucht für ab 12 Euro bestellbar. 
     

Kommentarfunktion ist geschlossen.