Der Sündenbock – Ein Purim-Traum

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Autor der vorliegenden Purim-Geschichte ist der Arzt und Schriftsteller Dr. Isidor Eliaschoff (1873-1924), bekannt unter seinem jiddischen Pseudonym „Baal Machschoves“. Er wurde in Kovna, Litauen geboren, ging zum Studium in die Schweiz und dann nach Heidelberg und Berlin, wo er ein Anhänger von Herzls Zionismus wurde. Die Geschichte erschien 1902 in der Zeitschrift “Ost und West”, die sich als “Illustrierte Monatsschrift für das gesamte Judentum” verstand und im Kontext der “Jüdischen Renaissance” dem westjüdischen Publikum die kulturellen Leistungen der sog. “Ostjuden” vorstellte. Übersetzer aus dem Jiddischen ist Berthold Feiwel, der zusammen mit Martin Buber und anderen den Jüdischen Verlag gründete und Werke zahlreicher jüdischer Autoren aus Osteuropa übersetzte…

Aus dem Jüdischen des Dr. J. ELiaschoff übersetzt von Berthold Feiwel
Erschienen in: Ost und West, Heft 3, März 1902

… Hatt ich aber heute Nacht einen Schreck! Haman, der Sohn Hammadathi’s, hat mir einen Besuch abgestattet. Wie aus einer Wolke ist er herabgefallen, und ehe ich noch recht verstehen konnte, was um mich herum geschah, stand er schon leibhaftig vor mir, Haman, der Sohn Hammadathi’s, des Agagiters, und bei ihm stand sein iüngstes Söhnlein Waisatha, das er an der Hand hielt ….

Ich hab‘ ihn sofort erkannt: An seinem Zeichen am Halse — dem breiten, blauen Ring — und dann nach der alten Beschreibung, die über ihn im Umlauf ist . . . Hoch war er und dürr, spindeldürr, wie ein Schatten, seine Wangen waren eingefallen, die Augen starrten glanzlos aus tiefen Höhlen, sein Gesicht war fahl. Und es fehlten auch nicht die bekannten roten und blauen Flecke, von denen die Rede geht. Er stand da, gebrochen, mit gekrümmtem Rücken, wie ein Greis. Eingehüllt war er in einen alten Sterbekittel …. Ohne viele Umstände setzte er sich auf die Kante meines Bettes. Er seufzte auf, tief, tief.

So vergingen einige Minuten, während welcher die Stille in meinem Zimmer nur von den entsetzlichen Seufzern meines toten Gastes unterbrochen wurde. Mir liefen Schauer eiskalt über den Rücken, und mit klopfendem Herzen erwartete ich das erste Wort Hamans.

„O, es ist nicht auszuhalten“ — begann er plötzlich nach einem schweren Seufzer, und seine Stimme war so schwach und wehmütig, dass es mir das Herz zusammenzog.

„Die Purim-Klappern ((Es ist jüdische Volkssitte, dass zur Megilah die Knaben Holz-Klappern (Knarren) mitbringen, von denen sie jedesmal, wenn der Name Hainaus genannt wird, ausgiebig sten Gebrauch machen. Die Alten begnügen sich, die Musik der Kinder-Instrumente durch Trampeln zu ergänzen.)) werden mich noch ins Verderben bringen. Eine solche Strafe! Eine solche Strafe! Oo! . .“ Wieder seufzte er tief auf und schüttelte den Kopf.

„Was willst Du von mir?“ fragte ich, indem ich ihn mit weitaufgerissenen Augen ansah, „wie kann ich Dich denn davon erlösen?“

„Du bist doch ein Schreiber, ein Zeitungsmensch, sprichst doch jede Woche mit ein paar tausend Juden! Oo, Du könntest mir eine grosse Wohlthat erweisen!“

Der Grabgeruch, den Haman mitgebracht hatte, stieg mir entsetzlich in die Nase, es begann mich im Halse zu sticken, und ich schrie ihm zu, so gut ich konnte: „Tritt zurück! Tritt zurück! Ich kann Dich nicht ertragen!“

„Unmöglich“, antwortete er, „ich bin ja ein Geist. O, ein Geist ist niemals nah oder weit, ein Geist ist ringsherum, ist überall. Ich war heute zur Megilah zur nämlichen Zeit in Amerika, in Galizien und Rumänien, — wo es nur einen Minjan giebt, ein Haus, ein Stübchen, in dem man die „Megilah“ liest, war ich dabei. Du musst nicht mehr Aristokrat sein wollen als Deine jüdischen Brüder. Sie haben mich ertragen in ihren Betstuben und Synagogen, ertrag auch jetzt Du mich an Deinem Bett!“

Was thun? Ich nahm einen Streifen arabischen aromatischen Papiers und brannte ihn an. Dann griff ich nach einer Cigarette und paffte Rauchwolken in die Luft.

Haman aber begann indessen zu erzählen mit zitternder, hohler Grabesstimme, die Worte schauerlich dehnend, und ab und zu hüstelnd und stöhnend:

„Närrische Juden! Närrische Menschen! Was haben sie sich just an mich so angeklammert? Ich meine, Memuchan ((Memuchan, einer der 7 Weisen des Ahasveros, der dem König die Verstossung Vosthi’s, der Königin und Vorgängerin Esthers anriet. Die Aggadisten halten ihn für identisch mit Haman.)) war um kein Haar besser als ich. Zwar, sie sagen, Memuchan sei niemand anderer als ich, Haman. Es wäre dann etwa so wie mit dem Zeitungsschreiber Note Schnukin, der sich auch für seine Leser ein Pseudonym wählt: „Der gesottene Patriot.“ Aber ich weiss genau, wer Memuchan gewesen ist. O, ich weiss, wenn Memuchan gekonnt hätte, hätte er alle Juden gebraten und gespiesst…“ . Und er schlug ein böses Lachen an.

„Närrische Juden! Närrische Menschen!“ — fuhr er nach einer Weile fort und begleitete seine Worte mit höhnischen Grimassen — „aus mir macht Ihr einen Berg Asche und Harbona ((Harbona, einer von den Hofleuten des Ahasveros, wies dem König den Galgen, der für Mordechai errichtet worden war, worauf der König befahl, Haman daran zu hängen.)) steht bei Euch, wer weiss wie sehr, in Ansehen. Frag doch mich, wer Harbona war! Ich könnte Dir von ihm Geschichten erzählen, dass Du Dir die Ohren zuhalten würdest. Ich will Dir nur ganz kurz sagen: Harbona war der Aufseher über die Jungfrauen, die man für Ahasveros ausgesucht hat. Jetzt verstehst Du wohl schon, was das für ein Früchtchen war?“ Und sein kaltes Gelächter ging mir durch Mark und Bein.

„Man trägt mir nach, ich sei so protzig und dünkelhaft-stolz gewesen, dass ich es nicht hätte verwinden können, dass Mordechai mir nicht die Ehre gab, die mir gebührte. … Doch wessen Schuld ist da grösser, die meine oder die Deiner Brüder? Hätten sich alle Juden als Männer gezeigt, wären sie mir nicht, wo ich ging und stand, zu Füssen gefallen, wären sie nicht vor mir auf Bauch und Knieen gerutscht, hätten sie mir nicht Namen und Ehren gegeben, die ich gar nicht verdiente — ich hätte mich nicht gewundert, dass ein Jude, Mordechai, mit mir nicht so viel Auhebens macht und sich wie ein Mann hält. Ich hab‘ es nicht glauben können, dass ein Mann aus einem so knechtischen Volke kein Sklave sein könne. Ich habe nur immer gedacht, dass er mir, gerade mir, nicht Ehre bezeugen will, weil er an den Bestand meiner Macht nicht glaubte, dass er aber vor einem anderen, einem Stärkeren, ebenso demütig und sklavisch sein würde, wie alle seine Brüder, und darum wollte ich ihm eine furchtbare Probe geben davon, was ich vermag. Ooo! . . .“

Haman verstummte für eine Weile und sass da, wie in tiefes Nachdenken versunken. Dann begann er wieder, mit einem weinerlichen Ton in seiner Grabesstimme: „Es ist nicht mehr auszuhalten, wie’s von Jahr zu Jahr ärger wird. Früher hab‘ ich noch gehofft, dass man Deine Brüder vom Erdboden tilgen wird, — und wo es nur irgend einen bösen Anschlag oder eine Judenhetze gab, war ich dabei. Torquemada hab‘ ich manchen feinen Rat in’s Ohr geflüstert, ich war der Vertraute Isabellens, der Spanierin, der Ratgeber Chmelnicki’s, ich habe ein neues Projekt ausgeheckt, wie man für ein Spottgeld ganze Wälder Holz für Scheiterhaufen erwerben könnte — es hat aber alles nichts geholfen.

Deine Brüder haben sich wohl verlaufen über die ganze Erde und sind versprengt in alle Winkel, aber sie sind fruchtbar geworden und haben sich vermehrt. Und mit jedem neuen Purim stürzen sie sich mit erhöhtem Ungestüm auf mich …. Später hab‘ ich in die Assimilation meine Hoffnung gesetzt. Ich glaubte, dass sie meiner Not ein Ende machen wird. O, — es war ein grosser Irrtum. Jahr um Jahr zieht ein in die Bethäuser und Betstuben, und jedes Jahr verbessern die Mechaniker die Klappern und Knarren. Es ist nicht auszuhalten!“. Haman versank in Nachdenken und seufzte und seufzte.

„In früheren Zeiten“, begann er nach einer Weile, „gab’s eine grosse Armut unter den Juden. Das war schon eine Seltenheit, wenn einer ganze Sohlen unter den Stiefeln hatte. Die Haman-Klappern waren aus dünnen Brettchen gefertigt und hielten kaum ein paar Stunden aus. Zur Megilah pflegte schon der grösste Teil der Klappern dienstunfähig und stimmlos zu sein. Heutigen Tags aber macht man sie unglaublich solid, sie sind nicht umzubringen. Und dann: Heute beginnt man, unter’s arme Volk Stiefel auszuteilen. Juden wie Abraham Käs, Leib Pack und Jeruchem, der Schleifer, die sich früher nur sehr vorsichtig und kleinlaut an mich heranmachten, haben heute Stiefel mit ganzen Absätzen und an den Absätzen noch Eisenbeschlag. O, o, schwere Zeiten! Kaum hab‘ ich diesen Füssen entwischen können! …“ Und Haman verfiel in einen kläglich-weinerlichen Ton. „Meine einzige Hoffnung beruht jetzt auf Theodor Herz! und dem Zionisten-Kongress. Im Lande Eurer Väter werdet Ihr an Haman vergessen, vielleicht Euch ein oder das andere Mal noch seiner wohlwollend erinnern. Aber indessen ist’s recht, recht schlecht. Der Zionismus hat die Bethäuser wieder gefüllt, man wird jüdischer, man sorgt viel gründlicher für’s Volk — und Abraham Käs, Leib Pack und Jeruchem, der Schleifer, bekommen Stiefel mit ganzen Absätzen. O, dass ich doch schon erlebte, Euch in Eurer Heimat zu sehen! Zu Esras Zeiten, als man Euch aus der Gefangenschaft wieder nach Erez-Israel ziehen liess, da hat man im Tempel keine Megilah gelesen. Erst seit Titus Euch wieder vertrieben und zerstreut hat, habt Ihr Euch wieder an mich und die Megilah erinnert. Wann wird es endlich sein, dass Ihr wieder in Erez-Israel seid, — aber ohne Haman und ohne die Megilath-Esther?“ . . .

Indessen begann es zu tagen, und Haman fühlte offenbar, dass bald die Zeit des ersten Minjan komme, wo man wieder gegen ihn anrücken würde. Er hüllte sich fester in seinen Sterbekittel und weckte Waisatha, sein Söhnchen, das indessen zu seinen Füssen am Boden geschlummert hatte. Doch — Haman bleibt ja immer Haman, und so wusste er mir vor dem Fortgehen noch einen feinen Stich zu versetzen.

Er reckte sich plötzlich in die Höhe, dehnte die Brust, schaute mich an mit dem Blicke des Haman von einst, des ersten Ratgebers des Königs, dann sagte er mir mit giftigem Lächeln:

„Närrische Menschen mit kleinem Gehirn! Wenn ihnen recht wehe um’s Herz ist, dann suchen sie sich einen Sündenbock aus, an dem sie ihren ganzen Zorn und Schmerz auslassen. Ihr Kopf ist zu schwach, als dass sie sich mehrere Sündenböcke denken könnten. Und nach jedem Hieb, nach jedem Stoss, den sie bekommen, werfen sie sich nur auf den einen armseligen Jammerbock. Als könnte wirklich ein Bock so viel Schlechtigkeit begehen! Alle Jahre beklappert und betrampelt man Haman in den Bethäusern. Alle Jahre beklappert und betrampelt man Deine Brüder irgendwo in Land und Stadt. Und bisweilen sage ich mir, dass nicht ein Haman durch die Welt wandert, sondern dass es zwei Hamane sind. Und weisst Du, Freund Zeitungsschreiber, wer der zweite Haman ist? Das jüdische Volk!“

„Und noch etwas magst Du wissen: Närrische Juden wähnen, dass an all ihrem Unglück nur die Hamane schuld sind. Närrische Völker wähnen, dass an all ihrem Unglück nur die Juden schuld sind. Erwischen die närrischen Juden irgend einen Haman, den sie umklappern können mit einer heiseren Knarre — so beruhigen sie sich. Erwischen die närrischen Völker einen armen Juden, dem sie ein Federkissen zerfetzen können — so beruhigen sie sich. Ja, ja, Freundchen, ich glaube fest, es gibt nicht einen, es gibt zwei Hamane auf der Welt.“ Und Haman lachte dazu, ein hässliches, höhnisches, hohles Lachen …. Plötzlich verstummte er, seine hagere Gestalt schrumpfte zusammen. Nochmals weckte er Waisatha. „Komm, Waisath’chen!“ sagte er mit dumpfer Stimme: „es ist schon Zeit. Man schlägt schon auf die Ständer der Betpulte … 0,o!“

Vor dem Weggehen nahm er Abschied von mir, doch auf eine Art, dass ich glaubte, es ginge mir an’s Leben.

„Bei uns dort ist es so Sitte, dass man sich verabschiedet, indem man den Hals des andern umklammert. Bleib gesund, Freund Zeitungsschreiber, und vergiss nicht, was ich Dir erzählt habe; leb‘ wohl!“ — und dabei würgte er mich, dass ich meinte, er presse mir die Seele aus dem Leibe.

Ein Glück, dass ich in diesem Augenblick erwachte ….