„Brunnenvergiftungslegenden“ in deutschen Nachschlagewerken

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Neben den häufiger vorkommenden Beschuldigungen Hostienschändung oder Ritualmord begangen zu haben, kamen unter mittelalterlichen Christen auch noch solche Legenden auf, die Juden vorwarfen Brunnenvergifter zu sein. Erstere beide Themenkomplexe wurden an dieser Stelle bereits erörtert und ihre Berücksichtigung in renommierten deutschen Nachschlagewerken untersucht. Im Vorliegenden sollen die Brunnenvergiftungen im Zusammenhang mit Judenverfolgungen als Eintrag im Lexikon einer eingehenden Betrachtung unterworfen werden…

Von Robert Schlickewitz

Belege für derartige Beschuldigungen liegen seit der Antike vor. Sie wurden damals schon mit Epidemien (Pest, Blattern etc.) in Verbindung gebracht, da die jeweiligen Krankheits- und Vergiftungssymptome für Laien oft schwer unterscheidbar sind. Aus dem 14. Jahrhundert ist einer der ersten Fälle für Europa, genauer für Südfrankreich überliefert. Damals (1321) beschuldigte man Leprakranke der Mittäterschaft in einem Komplott muslimischer Anstifter und jüdischer Mittelsmänner zur Ausrottung der Christen durch Vergiftung von Brunnen. Sowohl die Kranken als auch die Juden, jene Gruppen also, deren man am schnellsten und mühelosesten habhaft wurde, verloren bei den sich daran anschließenden Massakern ihr Leben. Ab 1348 kam dann ganz offen die Beschuldigung gegenüber den Juden auf, als Brunnenvergifter für die Ausbreitung der Pest verantwortlich zu sein. Auch wenn Papst Klemens VI. die Juden noch im selben Jahr in Schutz nahm und Ausschreitungen gegen sie verbot, konnte er dem sich nun ausbreitenden christlichen Wahn keinen wirksamen Einhalt gebieten. Notfalls halfen auf der Folter abgepresste Geständnisse Juden der Täterschaft zu überführen und die Bürger glauben zu machen, hierbei handele es sich um eine weitere jener teuflischen Maßnahmen der Juden zur Ausrottung der Christenheit. Von Frankreich griff die verwerfliche neue Zeiterscheinung auf die Schweiz, den Elsass sowie weitere mitteleuropäische Regionen über und löste dort jeweils schwerste Verfolgungswellen aus, die zur Vernichtung ganzer Judengemeinden führten.

Nach dem es kaum noch Juden in West- und Mitteleuropa gab, erwählte sich die städtische Bevölkerung andere Randgruppen zu Sündenböcken, die nun das bisherige Los der Juden zu tragen hatten: Bettler, Ketzer, Hexen.

Meyers Großes Konversationslexikon in zwanzig Bänden, 6. Aufl., Leipzig und Wien 1904:

„Brunnenvergiftung, Vermischung des Brunnenwassers mit giftigen Stoffen aus chemischen Fabriken, Zeugdruckereien ec., Senkgruben, Begräbnisplätzen ec., auch mit Bleisalzen aus bleiernen Wasserleitungsrohren. Besonders gefährlich ist die Verunreinigung des Brunnenwassers mit pathogenen Bakterien, wie Typhus- und Cholerabazillen. Über die Anwesenheit schädlicher Stoffe im Brunnenwasser gibt die chemische und bakterioskopische Untersuchung Aufschluß. Oft verfiel das Volk, durch Seuchen geängstigt, auf den unbegründeten Verdacht einer absichtlichen B., der unter anderm in der Mitte des 14. Jahrh. in rheinischen Städten zu blutigen Judenverfolgungen führte. Bisweilen richtete sich die Volkswut auch wohl gegen die Ärzte als Brunnenvergifter. Absichtliche B. soll von den Spaniern bei ihrer Erhebung gegen die Napoleonische Herrschaft zur Vertilgung ihrer Unterdrücker zu Hilfe genommen worden sein. Das deutsche Reichsstrafgesetzbuch (§324) bestraft die vorsätzliche B. mit Zuchthaus bis zu 10 Jahren und, wenn dadurch der Tod eines Menschen verursacht wurde, mit Zuchthaus nicht unter 10 Jahren oder mit lebenslänglichem Zuchthaus. Fahrlässige B. zieht bei entstehendem Schaden Gefängnisstrafe bis zu einem Jahr nach sich.“

Der Große Brockhaus, 15. Aufl., Leipzig 1929:

„Brunnenvergiftung,

Bei Ausbreitung gewisser Seuchen, wie der Pest, der Cholera, wiederholte sich oft die Erscheinung, daß das Volk auf die unbegründete Meinung verfiel, die allgemeine Erkrankung sei durch eine absichtliche Vergiftung der Brunnen herbeigeführt. Namentlich im Mittelalter wurde dieser Irrtum zuzeiten, in denen der sog. Schwarze Tod (Pest) herrschte, für den fanatischen Pöbel Veranlassung, die Totengräber und Ärzte als Urheber des Übels zu beschuldigen. Eine noch schlimmere Folge dieser Vorurteile waren in der Mitte des 14. Jahrh. zur Pestzeit die schrecklichen Judenverfolgungen, die kaum durch die Bannsprüche des Papstes Clemens VI. unterdrückt werden konnten. Es sollten damals angeblich die Brunnen, ja sogar die Luft, von den Juden vergiftet worden sein, um, wie man meinte, die Christenheit zu vertilgen. Der Wahn, der Feind habe die Brunnen vergiftet, findet sich vereinzelt noch im 19. Jahrhundert…“

Der Grosse Herder, 5. Aufl., Freiburg 1953 enthält unter diesem Stichwort nur allgemeine Angaben, keine Bezüge zu Judenverfolgungen.

Der Grosse Brockhaus in 12 Bänden, 16. Aufl., Wiesbaden 1953 verzichtet unter „Brunnenvergiftung“ ebenfalls auf Informationen zu Juden.

Meyers Enzyklopädisches Lexikon in 25 Bänden, 9. Aufl., Mannheim u.a. 1972 hält es gleichfalls für unnötig diesen Aspekt der jüdisch-deutschen Sozialgeschichte unter dem Stichwort „Brunnenvergiftung“ aufzugreifen.

Das Goldmann Lexikon in 24 Bänden, Bertelsmann Lexikonverlag, Gütersloh/München 1998 glaubt ganz ohne einen Eintrag „Brunnenvergiftung“ auskommen zu können.

Ebenso das „Lexikon der deutschen Geschichte bis 1945“, (Hg.) Gerhard Taddey, 3. Aufl., Stuttgart 1998.

Die Brockhaus Enzyklopädie in 30 Bänden, 21. Aufl., Leipzig und Mannheim  2006 verhält sich entsprechend der anderen vorgenannten Nachschlagewerke der Nachkriegszeit, indem sie die Judenmorde unter ihrem Stichwort „Brunnenvergiftung“ ausblendet.

Fazit:

Der bereits in meinen früheren Beiträgen festgestellte Trend der deutschen Lexikonredaktionen auf möglicherweise rufschädigende oder zu nationaler Schande Anlass gebende Informationen in Zusammenhang mit der eigenen Minderheitengeschichte zu verzichten, fand auch hier wieder seine Bestätigung.

Jedoch vermittelt dieses konkrete Beispiel „Brunnenvergiftung“ dem kritischen Leser noch eine weitere wichtige Erkenntnis. Es muss doch nachdenklich oder sogar bedenklich stimmen, dass Deutsche zur Zeit des NS den ihnen  damals zur Verfügung stehenden allgemeinen Nachschlagewerken (z. B. dem „Brockhaus“, 15. Aufl.) zwar knappe, aber doch ehrliche Informationen zu den mit den Brunnenvergiftungslegenden in Zusammenhang stehenden Judenmorden entnehmen konnten. Während dagegen nach 1945 die deutschen Lexikonredaktionen in geradezu auffallender Einmütigkeit dazu übergingen, Angaben über vor dem Holocaust stattgefunden habende blutige Judenverfolgungen in Deutschland möglichst zu unterdrücken, bzw. sie, indem sie sie nicht mehr aufgriffen, aus dem kollektiven Gedächtnis zu tilgen.

Über die Motive für dieses (von ‚oben‘ verfügte?) allgemeine Verschweigen von Tatsachen braucht nicht lange spekuliert zu werden, sie liegen auf der Hand: Der Eindruck eines Kontinuums deutschen Judenhasses über viele Jahrhunderte hinweg sollte vermieden werden; die Verbrechen der NS-Diktatur sollten für den Durchschnittsdeutschen der einzige ‚Makel‘ in seiner kollektiven Erinnerung sein; schließlich und endlich sollten sich Deutsche nicht zu lange mit dem Nachdenken über ihre vom Hass gegenüber Minderheiten (Juden, Sinti, Roma, Homosexuelle etc.) geradezu geprägten, christlichen Kultur ‚aufhalten‘.

Es soll der bundesrepublikanisch-deutsche Bürger also bis in die Gegenwart (vergl. „Brockhaus“, 21. Aufl.) vor seiner eigenen Geschichte, damit verbunden ebenso vor den aus ihr zu ziehenden Schlüssen und Erfahrungen, bewahrt werden; es soll ihm ein unbeschwertes, auf die kulturellen und historischen Glanzlichter seiner Vergangenheit ausgerichtetes, ‚bequemes‘ Eigenbild vermittelt werden; ein Eigenbild, das ihn nicht ‚unnötig‘ in seiner erwünschten Eigenschaft als unkritischen Konsumenten und dem Materialismus ergebenen Bruttosozialprodukterzeuger belastet oder gar belästigt.

Als antisemitisch angesehen wird, so jedenfalls eine der gängigen Definitionen des Terminus‘ Antisemitismus, wenn jemand historisches judenfeindliches Verhalten einer Gemeinschaft vorsätzlich verschweigt oder unterdrückt. Genau daran seien die Redaktionen deutscher allgemeiner wie geschichtswissenschaftlicher Handbücher und Nachschlagewerke aufs Eindringlichste erinnert.

Literatur:

Neues Lexikon des Judentums, (Hg.) J. H. Schoeps, Gütersloh/München 1998, Stichwort: Brunnenvergiftungslegende

siehe auch: Hostienfrevel, Brunnenvergiftung, Ritualmord…