Antijudaismus-Antisemitismus: Martin Luther und die Juden in der deutschen Rezeption

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Wie in meinem Beitrag zur Judenmission im „Schtetl“ bereits angesprochen, gab es in der deutschen Geschichte keine vergleichbare bedeutende Persönlichkeit, die über Jahrhunderte so starken antijudaistischen Einfluss ausübte, wie der Reformator Martin Luther. Nicht nur der „Stürmer“-Herausgeber Julius Streicher glaubte sich bekanntlich beim Nürnberger Prozess zu seiner Verteidigung auf ihn berufen zu können, sondern ungezählte andere Deutsche, die allerschwerste Schuld auf sich geladen hatten, versuchten mit Luthers Worten im Kopf  ihr Gewissen zu beruhigen. Aus diesen beiden Sätzen geht bereits hervor, dass wir es hier mit einem Tabuthema zu tun haben, denn annähernd die Hälfte unserer Landsleute ist oder war protestantisch und Kritik an Luther wird von vielen von ihnen als Kritik an ihrem Selbstverständnis aufgefasst. Umso interessanter erscheint es daher zu untersuchen, wie deutsche Nachschlagewerke, deutsche Historiker und deutsche Medien bei ihrer Luthereinschätzung mit diesem Komplex umzugehen pflegten und pflegen…

Von Robert Schlickewitz

Ich will meinen treuen Rat geben: Erstlich, daß man ihre Synagoge oder Schule mit Feuer anstecke, und was nicht verbrennen will, mit Erde überhäufe und beschütte, daß kein Mensch einen Stein oder Schlacke davon sehe ewiglich… Zum anderen, daß man auch ihre Häuser desgleichen zerbreche und zerstöre… Zum dritten, daß man ihnen nehme all ihre Betbüchlein und Talmudisten… Zum vierten, daß man ihren Rabbinern bei Leib und Leben verbiete hinfort zu lehren… Zum fünften, daß man den Juden das Geleit und Straße ganz und gar aufhebe…“. Neben diesem Zitat Luthers aus dessen Schrift „Von den Juden und ihren Lügen“ von 1543 stehen diverse weitere Schmähungen und Verwünschungen, in denen Juden als „Mörder“ von Christen, als „Plage, Pestilenz und eitel Unglück“ etc. bezeichnet werden und die in einer Zeit, in der höhere Bildung und freie Meinungsbildung nur kleinen Minderheiten unter den Deutschen vorbehalten waren, sehr viel zum allgemeinen Zerrbild vom Juden als dem ‚Fremden‘ bzw. dem Nichtdazugehörigen beitrugen.

Auch wenn von engagierter protestantischer Seite heute gern der Einwand erhoben wird, dieses negative Judenbild habe doch „nur“ der alte Luther, nicht hingegen der junge, dynamische, idealistische Luther der frühen Jahre vertreten, so sei erwidert, dass das ganze Lebenswerk das Profil einer Persönlichkeit bestimmt, nicht nur dessen subjektiv als Höhepunkte verstandenen Frühjahre.

Ferner macht es einen großen Unterschied, ob ein junger, noch ungebildeter, unreifer Mensch sich despektierlich über eine Minderheit äußert und später seine Haltung auch öffentlich revidiert, wie das Beispiel Thomas Mann so anschaulich und überzeugend gezeigt hat, oder ob ein Individuum in seinen Spätjahren, die doch als die Jahre der Besinnung, des Resümierens, der auf Altersweisheit beruhenden Reflexion angesehen werden, sich voller Hass über Juden und leider auch über Sinti und Roma auslässt, wie eben jener ausSachsen-Anhalt stammende Stifter der größten Konfession in Deutschland.

Es ist nicht meine Absicht die unbestrittenen Verdienste Luthers um die deutsche Kultur (Sprache, Literatur etc.) und um die Bekämpfung des schädlichen Einflussmonopols der gewissenlosen Papisten-Katholiken zu schmälern, nur bin ich der Ansicht, dass Deutschland heute allmählich die Reife besitzen sollte, auch die Schattenseiten, noch dazu, da diese so weitreichende Folgen hatten, seines großen Sohnes zu kennen und offiziell anzuerkennen.

In chronologischer Reihenfolge untersuche ich im Folgenden allgemeine und biografische Nachschlagewerke aus den letzten einhundert Jahren auf ihre Informationen zu Luther und den Juden. Ein zweiter Teil wird das Thema in Lutherbiografien und in allgemeinen bzw. religionsbezogenen Geschichtsbüchern sowie in den Medien behandeln.


Meyers Großes Konversations-Lexikon
in 20 Bänden, 6. Aufl. von 1906, enthält einen sehr ausführlichen, idealisierenden Beitrag zu Martin Luther, in dem Juden an keiner Stelle erwähnt werden.

Bereits Mitte der 1930er Jahre erschien im Berliner Propyläen-Verlag eine mehrbändige deutsche Biografie mit dem Titel Die grossen Deutschen, die besonders in gutbürgerlichen Haushalten in hohem Ansehen stand. Nach dem Krieg erlebte sie, unter Hermann Heimpel, Theodor Heuss und Benno Reifenberg als Herausgebern eine aktualisierte und ergänzte Neuauflage (1956) und wurde noch bis in die 1990er Jahre, u. a. in Taschenbuchform, mehrfach nachgedruckt. Ihre Einträge, so auch der zu Martin Luther, kennzeichnen schwerfälliger, nationaler Pathos und unsachlich-schwelgerische Schwärmerei für den jeweiligen Beschriebenen. In einem solchen Rahmen kann es nicht verwundern, dass das Verhältnis des Reformators zu Juden darin keinen Platz fand.

Die erste nach 1945 erschienene Ausgabe des Brockhaus‘, Der Kleine Brockhaus (2bändig, 1950), verhält sich, auf Informationen zu Juden bezogen, entsprechend.

Der Grosse Brockhaus (16. Aufl., zwölf Bände, 1955) hingegen nennt in einem tabellarisch angelegten Lebenslauf des Reformators, also außerhalb des zusammenhängenden Textes seines Eintrags, unter der Jahreszahl 1543 (4. 1.) dessen Publikation „Von den Juden und ihren Lügen“.

Der Grosse Herder (5. Aufl., Freiburg 1955) konzentriert sich unter seinem Stichwort Luther, Martin auf rein christliche Aspekte.

Einer der umfang- und faktenreichsten Einträge im dreibändigen Biographischen Wörterbuch zur deutschen Geschichte von 1973 aus dem auf die Herausgabe anerkannter biografischer Nachschlagewerke spezialisierten K. G. Saur Verlag ist dem Reformator aus Eisleben gewidmet. Bedauerlicherweise jedoch kam diese Auskunftsbereitschaft nicht dem hier interessierenden Verhältnis Luthers zu den Juden zugute. Mit geradezu peinlicher Rücksichtnahme wird wortklauberisch formuliert/fabuliert:

In der Innigkeit seines Glaubens, der Sprachkunst seiner Bibelübersetzung, der Wortgewalt seiner Flugschriften, in denen er im Zorn, dem Grobianismus der Zeit entsprechend, oft jedes Maß verlor, wurde dieser in der bürgerl. Welt seiner Zeit stehende und ihr verhaftete Prof. doch zu dem die Menschen über seine Zeit hinaus prägenden Lehrer. Noch im MA. verwurzelt, etwa auch in seinem wirtschaftlichen Denken (Stellungnahme gegen die Fuggerei, wie, v. a. im Alter, gegen die Juden) wie seiner Gesellschaftslehre (…) und mit einem tiefen Mißtrauen gegen die menschliche Vernunft (…) erfüllt, steht er doch am Beginn der NZ (=Neuzeit), in der das Verhältnis von Bindung und Freiheit im Gewissen des Christen immer erneut Antwort heischt.

Meyers Enzyklopädisches Lexikon (9. Aufl., 25 Bde., 1975) belegt in seinem Luther-Artikel, dass die Redaktion des Nachschlagewerkes offensichtlich den Auftrag erhalten hatte, zumindest zu versuchen das vorübergehend umstrittene Image des Reformators wieder ‚gerade zu rücken‘:

L. hat mehrfach zu wirtschaftl. Fragen Stellung genommen. Dabei hat er sich nachdrückl. gegen die Finanzmonopole seiner Zeit und den Machtmißbrauch in Wirtschaft und Handel gewandt (Kleiner und Großer ‚Sermon von dem Wucher‘, 1519/20; ‚Von Kaufshandlung und Wucher‘, 1524; ‚An die Pfarrherrn, wider den Wucher zu predigen‘, 1540). L. hat sich auch wiederholt zu aktuellen gesellschaftlichen Fragen (z. B. zur Judenfrage) und polit. Problemen (z. B. ‚Von weltlicher Obrigkeit, wieweit man ihr Gehorsam schuldig sei‘, 1523) öffentl. geäußert. Aber etwa seine Schriften über die Juden (zunächst 1523 für, dann ab 1538 mehrfach gegen sie) sind fehlinterpretiert, wenn man sie in die Geschichte des säkularen Philo- oder Antisemitismus einreiht, mag der moderne Antisemitismus sich auch vielfach (bis hin zu J. Streicher im Nürnberger Prozeß) auf ihn berufen. L. schrieb in erster Linie als Schriftausleger (nicht der Bluts- oder ‚Rassen‘-gegensatz ist für ihn entscheidend, sondern der des Glaubens); der an Christus glaubende Jude ist ihm der ‚liebe Bruder‘.

Das für einfache Ansprüche konzipierte Goldmann Lexikon (24 Bde., 1998) beschränkt sich auf rein christliche Gesichtspunkte.

Eine schwere Enttäuschung ist das 1998 im renommierten Stuttgarter Kröner Verlag erschienene Lexikon der deutschen Geschichte bis 1945, für dessen Herausgabe der Leitende Archivdirektor Dr. Gerhard Taddey verantwortlich zeichnet. Gerade von Taddey, der als Autor mindestens zweier Bücher zur regionalen Geschichte der Juden im deutschen Südwesten hervortrat, hätte man bei der Bearbeitung des Luther-Artikels (der von ihm persönlich stammt!) mehr Mut erwartet. Über manche Nebensächlichkeit aus dem Leben des Reformators informiert er bereitwilligst, nur über Luthers so schmerzlich folgenreiche Haltung gegenüber den Angehörigen der Minderheit mag er kein Wort verlieren.

Vollkommen uninformativ in Sachen Juden ist auch der Eintrag zu Martin Luther im Biographischen Lexikon zur deutschen Geschichte des Tübinger Professors Udo Sautter von 2002, das der angesehene Münchner C. H. Beck Verlag in seinem Programm führt.

Die Zeit. Das Lexikon in 20 Bänden (2005) hat ebenfalls kein Interesse daran zu einer möglichen Kontroverse beizutragen. Ganz besonders ärgerlich wirkt hier das trivial-gefällige Luther-Essay (neben dem regulären Luther-Eintrag) des Star-Autors des bürgerlichen Intelligenzlerblattes Robert Leicht.

Die Brockhaus Enzyklopädie in 30 Bänden (21. Aufl., 2006) gibt nur knappe und ebenfalls nicht (mehr) provokante Informationen zu Luther und den Juden preis:

L. selbst äußerte sich in seinen letzten Lebensjahren zunehmend polemisch und meinte, den ‚Feinden Christi‘ mit schärfstem Zorn begegnen zu müssen, so etwa in den Schriften ‚Von den Juden und ihren Lügen‘ (1543) und ‚Wider das Papsttum zu Rom, vom Teufel gestiftet‘ (1545).“ Bzw.: „Lutherforschung. … Bes. lebhaft erörtert wurden L.s Zweireichelehre, Zeitpunkt und Charakter der reformator. Erkenntnis L.s (…), der Thesenanschlag, L.s Verhältnis zur mittelalterl. Tradition der Scholastik, der Mystik, der Schriftauslegung und zum Augustinismus seines Ordens, seine Stellungnahme gegen die Bauern und die Juden.

Nicht ganz in die Reihe der bisher zitierten oder genannten Werke mag das Jugendsachbuch Wer war das? Menschen der Geschichte von Christine Schulz-Reiss aus dem Jahre 2007 passen. Ich führe es dennoch auf, da es meines Erachtens einen richtigen, ehrlichen Weg beschreitet:

In den nächsten Jahren veröffentlichte er immer neue Anklagen gegen die ‚Feinde Christi‘, zu denen er nun offen das ‚Papsttum zu Rom, vom Teufel gestiftet‘, aber auch die ‚Juden und ihre Lügen‘ zählte. Er rief sogar dazu auf, den Juden das Bleiberecht in Deutschland zu versagen – weil sie Christus nicht anerkannten.“ Bzw.: „Die Hasstiraden gegen die Juden sind das düstere Kapitel in Luthers Schriften. Die evangelische Kirche distanzierte sich später davon.

Fazit:

Eine durch einen breiten Konsens weiter Teile der bundesdeutschen Gesellschaft gedeckte Feigheit im Umgang mit der eigenen Geschichte und eine übertriebene Rücksichtnahme gegenüber den ‚Gefühlen‘ einer satten, denkfaulen, national wie religiös eigenverliebten Bevölkerung verhinderte bis in die Gegenwart die längst überfällige Aufklärung über eine sehr wesentliche Seite der Persönlichkeit des Reformators Martin Luther, die gut zu kennen unerlässlich wäre, bei der Beantwortung elementarster Fragen zu unserer nationalen Geschichte.

Anmerkung:

Die Textauszüge wurden in ihrer Originalschreibweise wiedergegeben.

Literatur:

Biographisches Wörterbuch zur deutschen Geschichte, München 1973/Augsburg 1995, Stichwort: Luther, Martin
Brockhaus Enzyklopädie in 30 Bänden, 21. Aufl., Leipzig u. Mannheim 2006, Stichwort: Luther, Martin
Der Grosse Brockhaus in 12 Bänden, 16. Aufl., Wiesbaden 1955, Stichwort: Luther, Martin
Der Grosse Herder, 5. Aufl., Freiburg 1955, Stichwort: Luther, Martin
Der Kleine Brockhaus, Wiesbaden 1950, Stichwort: Luther, Martin
Die Zeit. Das Lexikon in 20 Bänden, Hamburg 2005, Stichwort: Luther, Martin; Essay „Glaube allein“ von Robert Leicht
Goldmann Lexikon, München 1998 (24 Bde., Bertelsmann/Random House), Stichwort: Luther, Martin
Lexikon der deutschen Geschichte bis 1945, (Hg.) G. Taddey, Stuttgart 1998, 3., überarbeitete Aufl., Stichwort: Luther, Martin
Meyers Enzyklopädisches Lexikon, 9. Aufl., Mannheim u. a. 1975, Stichwort: Luther, Martin
Meyers Großes Konversations-Lexikon, 6. Aufl., Leipzig und Wien 1906, Stichwort: Luther, Martin
Neues Lexikon des Judentums, (Hg.) J. H. Schoeps, Gütersloh/München 1998, Essay: „Kirche und Judentum“ von Edna Brocke, S. 463-467
U. Sautter, Biographisches Lexikon zur deutschen Geschichte, München 2002, Stichwort: Luther, Martin
C. Schulz-Reiss, Wer war das. Menschen der Geschichte, Bindlach 2007, S.86-94
E. Zeeden, Martin Luther 1483-1546. In: Die grossen Deutschen, (Hg.) Hermann Heimpel u.a., Berlin u.a. 1956/1966, S. 418-432

46 Kommentare

  1. Evangelisch-Lutherische Christen, wo bleibt Ihr?

    Engagierte Gläubige, Pastorinnen und Pastoren, Bischöfinnen und Bischöfe, Frau Käßmann, Ihr kennt natürlich das von mir hier wiedergegebene Material, die Aussprüche Luthers ebenso wie die Sekundärliteratur und Ihr kennt die tödlichen Folgen, die die menschenfeindlichen Aufrufe des Reformators im NS hatten.

    Meint Ihr nicht auch, es wäre allmählich an der Zeit Euer ‚elitäres Gehabe‘ abzulegen und nun Euren Leuten an der Basis endlich ‚reinen Wein einzuschenken‘ ?
    Als ‚elitäres Gehabe‘ bezeichne ich die immer wieder bei Euch angetroffene Haltung „Huch – es ist schlimm genug, dass wir das Alles wissen, aber dies dürfen wir doch dem einfachen Mann/der einfachen Frau, ‚unten‘, unter gar keinen Umständen zumuten, denn die laufen uns doch in Scharen davon…“

    Vertraut dem einfachen Mann, der einfachen Frau – ich hab‘ mich bereits mit ihnen unterhalten – sie laufen Euch nicht weg – aber sie haben ein Recht darauf, und sie erwarten es, von Euch, endlich vollständig und überall (in Nachschlagewerken, Schulbüchern, modernen Medien etc.) über Luthers Einstellung zu Juden und Sinti und Roma aufgeklärt zu werden und wichtiger noch, darüber belehrt zu werden, was der Luthersche Antijudaismus noch viele Jahrhunderte nach Ableben des Reformators angerichtet hat.
    Dabei muss ganz ausdrücklich auch der abscheuliche deutsche Antiziganismus mit einbezogen werden, denn Ihr wisst ja, dass „Zigeuner“ mit Juden gemeinsam von ‚ihm‘ geschmäht und verteufelt wurden.

    Für ein besseres und minderheitenfreundlicheres Deutschland, das Ihr doch ebenfalls anstrebt, so tönt(e) es jedenfalls so häufig aus Euren Mündern, rufe ich Euch auf – beginnt mit der neuen deutschen Aufklärung – beginnt jetzt damit!

    Oder wollt Ihr, dass auch noch unsere Kinder, Enkel und Urenkel in Lüge und Heuchelei großwerden und weitere Generationen die Wahrheit beugen müssen?
    Denkt auch and die Nachkommen der von unseren (deutschen) Vorfahren Gemeuchelten – sie haben gleichfalls ein Recht darauf, dass alle Schuldigen beim Namen genannt, dass Verantwortungen klar bezeichnet werden und dies nicht in einigen wenigen, schwer erreichbaren Fachbüchern, sondern überall da, wo man sich danach erkundigen möchte.

    Ich appelliere daher an Euer Gewissen und Euren Anstand – sorgt dafür, dass in allen deutschsprachigen Nachschlagewerken und anderen Konsultationsmedien für jeden und jederzeit nachzulesen steht, was ich hier auch im Namen meiner nichtdeutschen Vorfahren und Verwandten fordere.

    Habt Mut und Vertrauen und wartet nicht länger!

    Euer Mitbürger

    Robert Schlickewitz

    PS: Ihr tut mit dieser neuen deutschen Aufklärung noch zusätzlich ein gutes Werk: Habt Ihr einmal damit begonnen die Wahrheit zu verkünden, so bleibt auch den Papisten nichts Anderes übrig als ‚auf den fahrenden Zug aufzuspringen‘. Und dass es bei denen sehr viel mehr zu ‚beichten‘ gibt, als aus dem „Pirzel einer Sau spritzet“, dürfte Euch ja wohl bekannt sein.

  2. Wie schätzt der große jüdische Historiker Heinrich Graetz (1817-1891) Martin Luther ein? Teil 1
    Ziehen wir seine „Volkstümliche Geschichte der Juden“ zu Rate; mein Exemplar seines dreibändigen Werkes stammt aus dem Jahre 1889. Ich zitiere von den Seiten 212, 214-216, 217, 219, 227:
     
    „… Als das Interesse an dem Reuchlin’schen Streit lauer zu werden anfing, tauchte eine andere Bewegung in Deutschland auf, welche das fortsetzte, was jener angebahnt hatte, die festen Säulen des Papsttums und der katholischen Kirche bis auf den Grund zu erschüttern und eine Neugestaltung Europa’s vorzubereiten. Die so weittragende Reformation hatte erst durch den ursprünglich sich um den Talmud drehenden Streit einen günstigen Luftzug vorgefunden, ohne welchen sie weder hätte entstehen, noch wachsen können. Aber die reformatorische Bewegung, welche in kurzer Zeit eine weltgeschichtlich wirkende Macht wurde, aus winzigen Anfängen entstanden, bedurfte eines kräftigen Rückhaltes, wenn sie nicht im Keim erstickt werden sollte. Martin Luther, eine kräftige, derbe, eigensinnige und leidenschaftlich erregte Natur, die mit Zähigkeit an ihren Überzeugungen und Irrtümern festhielt, gab ihr diesen Rückhalt. Der willensstarke Luther wurde durch den Widerspruch allmählich zu der Überzeugung geführt, daß der jedesmalige Papst, und dann noch weiter, daß das Papsttum überhaupt nicht unfehlbar sei, und daß der Glaubensgrund nicht der päpstliche Wille, sondern das Schriftwerk sei…

    Schon lagen die Verhältnisse derart, daß jeder Luftzug den Brand nur noch mehr begünstigte. Luther hatte auf dem Reichstage zu Worms Standhaftigkeit und Mut erlangt und durch ein Festigkeit verratendes Wort den Bruch mit dem Papsttum vollendet. Obwohl der Kaiser Karl, durch eigenen stockkirchlichen Sinn und von Finsterlingen belagert und ermahnt, geneigt war, den Reformator als Ketzer dem Scheiterhaufen zu überliefern, so ließ er ihn doch aus politischer Berechnung, den Papst dadurch in Händen zu haben, ungefährdet abziehen und erklärte ihn erst später in die Reichsacht. Indessen war Luther bereits auf seinem Patmos, der Wartburg, verborgen und geborgen. Während er hier in der Stille an einer deutschen Übersetzung der Bibel arbeitete, wurde im Wittenbergischen von den reformatorischen Heißspornen alle kirchliche Ordnung umgestoßen, der Gottesdienst in den Kirchen verändert, Messe und Priesterornamente abgeschafft, die Mönchsgelübde aufgehoben und Priesterehen eingeführt – d. h., die Priester erklärten ihre bisherigen heimlichen Konkubinen öffentlich als ihre Gattinnen. Die Gemüter waren für die Reformation vorbereitet. Sie faßte daher in Norddeutschland, Dänemark, und Schweden feste Wurzel, drang in Preußen, Polen und andererseits in Frankreich und sogar in Spanien ein, in das Land düsterer, dumpfer Kirchlichkeit und blutdürstiger Verfolgungssucht…

    Für die Juden hatte Luther’s Reformation anfangs nur eine geringe Wirkung. Indem sich Katholiken und Neuerer namentlich in Deutschland in jeder Stadt in den Haaren lagen, hatten sie keine Muße zu Judenverfolgungen, es trat daher hier eine kleine Pause ein. Luther selbst, dessen Stimme bereits mächtiger als die Fürsten klang, nahm sich ihrer anfangs an und strafte die vielfachen Beschuldigungen gegen sie Lügen. In seiner derben und innigen Weise äußerte er sich gleich anfangs darüber: ‚Diese Wut (gegen Juden) verteidigen noch einige sehr abgeschmackte Theologen und reden ihr das Wort, indem sie aus großem Hochmut daher plaudern: die Juden wären den Christen Knechte und dem Kaiser unterworfen. Ich bitte Euch darum, sagt mir: wer wird zu unserer Religion übertreten, wenn es auch der allersanftmütigste und geduldigste Mensch wäre, wenn er sieht, daß sie so grausam und feindselig und nicht allein nicht christlich, sondern mehr als viehisch von uns traktiert werden?‘
    In einer eigenen Schrift, deren Titel schon die verbissenen Judenfeinde stutzig zu machen geeignet war: ‚Daß Jesus ein geborener Jude gewesen‘ (1523), sprach sich Luther noch derber gegen den unvertilgbaren Judenhaß aus: ‚Unsere Narren, die Papisten, Bischöfe, Sophisten und Mönche, haben bisher also mit den Juden verfahren, daß wer ein guter Christ gewesen, hätte wohl mögen ein Jude werden. Und wenn ich ein Jude gewesen wäre, und hätte solche Tölpel und Knebel den Christenglauben regieren und lehren gesehen, so wäre ich eher eine Sau geworden als ein Christ. Denn sie haben mit den Juden gehandelt, als wären es Hunde und nicht Menschen, haben nichts mehr thun können, als sie schelten. Sie sind Blutsfreunde, Vettern und Brüder unseres Herrn; darum, wenn man sich des Blutes und Fleisches rühmen soll, so gehören die Juden Christo mehr an, denn wir. Ich bitte daher meine lieben Papisten, wenn sie müde geworden, mich Ketzer zu schimpfen, daß sie nun anfangen, mich einen Juden zu schelten.‘ ‚Darum wäre mein Rat‘, so fährt Luther fort, ‚daß man säuberlich mit ihnen (den Juden) umgehe; aber nun wir mit Gewalt sie treiben und gehen mit Lügenteiding um und geben ihnen schuld, sie müßten Christenblut haben, daß sie nicht stinken und weiß nicht, was des Narrenkrams mehr ist, – auch daß man ihnen verbietet, unter uns zu arbeiten, hantieren und andere menschliche Gemeinschaft zu haben, damit man sie zu wuchern treibt, wie sollen sie zu uns kommen? Will man ihnen helfen, so muß man nicht des Papstes, sondern der christlichen Liebe Gesetz an ihnen üben und sie freundlich annehmen, mit lassen werben und arbeiten, damit sie Ursache und Raum gewinnen, bei uns und um uns zu sein.‘ Das war ein Wort, wie es die Juden seit einem Jahrtausend nicht gehört hatten. Man kann darin Reuchlin’s milde Verwendung für sie nicht verkennen.
    Manche heißblütige Juden sahen in der Auflehnung der Lutheraner gegen das Papsttum den Untergang der Jesuslehre überhaupt und den Triumph des Judentums. Drei gelehrte Juden kamen zu Luther, um ihn für das Judentum zu gewinnen. Schwärmerische Gemüter unter den Juden knüpften gar an diesen unerwarteten Umschwung und namentlich an die Erschütterungen, welche das Papsttum und der abgöttische Reliquien- und Bilderdienst erfahren, die kühnsten Hoffnungen von dem baldigen Untergange Roms und dem Herannahen der messianischen Zeit der Erlösung. – Mehr als der jüdische Stamm gewann die jüdische Lehre durch die Reformation. Bis dahin wenig beachtet, kam sie in der ersten Zeit der Reformation gewissermaßen in Mode…

    Wenige Jahre vorher galt den Vertretern der Kirche die Kenntnis des Hebräischen als Luxus oder gar als ein verderbliches Übel, an Ketzerei auftreifend; durch die Reformation dagegen wurde es in die notwendigen Fächer der Gottesgelehrtheit eingereiht. Luther selbst lernte hebräisch, um gründlicher in den Sinn der Bibel eindringen zu können…

    Durch die Reuchlinische und Lutherische Bewegung kam auch die so lange vernachlässigte Bibelkenntnis einigermaßen in Schwung…

    Selbst Geistliche fanden sich nicht heimisch darin, weil sie sie nur aus der lateinischen Sprache der Vulgata kannten, und diese den Grundgedanken der biblischen Wahrheit durch Unverstand und Verkehrtheit verwischt hatte. Es war daher eine wichtige That, als Luther in seiner Einsamkeit auf der Wartburg die Bibel, das alte und neue Testament, in die deutsche Sprache übersetzte. Luther mußte dazu, wie schon angegeben, etwas Hebräisch lernen und Juden um Auskunft fragen. Es war den damals Lebenden, als wenn das Gottesbuch erst neu geoffenbart worden wäre; diese reine Stimme hatten sie noch nicht vernommen. Ein frischer Hauch strömte den Menschen daraus entgegen, als die Wälle entfernt waren, welche diese Lebenslust des Geistes so lange abgesperrt hatten…

    Die reformatorische Bewegung in Deutschland hatte auch in Spanien einen Wiederhall gefunden. Luther’s und Calvin’s Lehre von der Verwerflichkeit des Papsttums, der Priesterschaft und des Ceremoniendienstes war durch die Verbindung Spaniens mit Deutschland infolge der Personal-Union des Kaisers Karl auch über die Pyrenäen gedrungen. Der Kaiser, dem die Reformation in Deutschland so viel zu schaffen machte, gab dem heiligen Offizium die Weisung, streng gegen die lutherisch Gesinnten in Spanien zu verfahren. Dem blutdürstigen Ungetüme war die ihm zugewiesene Beute willkommen, und fortan ließ es eine Art Gleichheit gegen Juden, Mohammedaner und lutherische Christen eintreten. Jedes Auto da Fé verkohlte in gleicher Weise die Märtyrer der drei verschiedenen Religionsbekenntnisse…“
     
    Hervorhebungen (Sperrdruck): Heinrich Graetz
     
    RS
     

  3. Ein Anrufer möchte gerne wissen, wie denn die evangelisch-lutherischen Kirchen im Ausland mit dem Judenhass ihres großen moralischen Vorbildes bzw. mit den so unheilvollen Folgen von dessen Antijudaismus umgehen.
    Ich habe eine mögliche Antwort hierauf in „Die katholische Kirche und der Holocaust – Untersuchung über Schuld und Sühne“ von Daniel Jonah Goldhagen, Berlin 2002, S. 304f gefunden:
     
    „… 1994 erklärte die evangelisch-lutherische Kirche in Amerika, wie unentrinnbar der Antisemitismus ihrer Kirche und wie katastrophal die Folgen waren:
    ‚In der langen Geschichte des Christentums gibt es keine tragischere Entwicklung als die der Behandlung jüdischer Menschen, der sie durch Christen ausgesetzt waren. Sehr wenige christliche Glaubensgemeinschaften waren stark genug, der Versuchung durch Anti-Judaismus und seinen modernen Nachfolger Anti-Semitismus zu entrinnen.
    Lutheraner (…) empfinden in dieser Hinsicht eine besondere Bürde, einmal wegen bestimmter Teile in Martin Luthers Vermächtnis, zum anderen wegen des Unheils, einschließlich des Holocaust im 20. Jahrhundert, das Juden gerade an Orten erleiden mussten, an denen lutherische Kirchen stark vertreten waren. (…)
    Im Geist dieser Benennung der Wahrheit müssen wir, die seinen Namen und sein Erbe tragen, mit Schmerzen auch Luthers antijüdische Schmähungen und gewalttätige Empfehlungen in seinen späten Schriften zur Kenntnis nehmen. Wie es viele von Luthers Zeitgenossen im 16. Jahrhundert taten, weisen wir diese gewalttätigen Schmähungen zurück und mehr noch, wir drücken unseren tiefen und bleibenden Kummer aus über ihre tragische Wirkung auf folgende Generationen. (…)
    Wir beklagen die Mitschuld unserer eigenen Tradition in dieser Geschichte des Hasses; überdies drücken wir unseren dringenden Wunsch aus, dass wir unseren Glauben an Jesus Christus mit Liebe und Respekt für die jüdischen Menschen leben.‘ “

  4. Das „Neue Lexikon des Judentums“ (Gütersloh/München 1998) gibt unter „Luther, Martin“ lediglich den Hinweis auf ein Essay „Kirche und Judentum“ von Edna Brocke, wenige Buchseiten weiter vorne, an. Dort lesen wir u.a. (S.465f):
     
    „… Auch der Reformator Martin Luther (1483-1546) entwarf in seinen Spätschriften ein Zerrbild der Juden. Er behauptete, Juden seien Mörder von Christen und insgesamt eine ‚Plage, Pestilenz und eitel Unglück‘. Und so schrieb er in seiner Schrift ‚Von den Juden und ihren Lügen‘ (1543): ‚Ich will meinen treuen Rat geben: Erstlich, daß man ihre Synagoge oder Schule mit Feuer anstecke, und was nicht verbrennen will, mit Erde überhäufe und beschütte, daß kein Mensch einen Stein oder Schlacke davon sehe ewiglich… Zum anderen, daß man auch ihre Häuser desgleichen zerbreche und zerstöre… Zum dritten, daß man ihnen nehme all ihre Betbüchlein und Talmudisten ((die erste öffentliche Talmudverbrennung hatte 1242 in Paris stattgefunden, und im 13. Jahrhundert wurden in Frankreich wiederholt jüdische Auslegungsschriften verbrannt))… Zum vierten, daß man ihren Rabbinern bei Leib und Leben verbiete hinfort zu lehren… Zum fünften, daß man den Juden das Geleit und Straße ganz und gar aufhebe…‘ – ‚Ratschläge‘, die in ihrer Summe im 20. Jahrhundert befolgt werden sollten. An der Aufzählung der Aspekte, die für Luther Stein des Anstoßes waren, läßt sich das Muster christlicher Feindschaft gegen Juden deutlich ablesen. Die Treue des Judentums zu sich selbst und die des religiösen Judentums zu seinem Gott, aber auch die Tatsache, daß Juden zu allen Zeiten bereit waren, ihr Leben zu wagen, um sich nicht zwangstaufen zu lassen, war und ist für das Christentum eine bleibende Herausforderung im Hinblick auf seine eigene Identität. Daran änderte sich auch durch Aufklärung und Säkularisierung nichts. Die christlichen Denkmuster, Urteilskategorien und Maßstäbe – im Sprachlichen, Künstlerischen, ja im Kulturellen überhaupt – sind geblieben, auch wenn sie fortan ein säkulares Gewand tragen. Deshalb ist auch die Ausgrenzung von Juden im 19. und 20. Jahrhundert weit stärker von christlich geprägten Denkmustern beeinflußt, als gemeinhin angenommen wird…
    Wie wenig sogar die ‚Deklaration der Menschenrechte‘ vom 27. August 1789 gegen antijüdische Einstellungen und Emotionen wirklich auszurichten vermochte, zeigen etwa für Frankreich der Dreyfus-Prozeß von 1894 und für Preußen der evangelische Hofprediger Adolf Stoecker (1835-1909), der bis heute als Gründer der Berliner Stadtmission 1876 – ein geschätzter Kirchenmann ist. Für seine 1878 gegründete ‚Christlich-Soziale Arbeiterpartei‘ fand er Formulierungen wie diese: ‚Kräftigung des christlich-germanischen Geistes…, um dem Überwuchern des Judentums im germanischen Leben… entgegenzutreten.‘ Wie stark religiös motiviert die Ausgrenzungstendenzen selbst noch im 20. Jahrhundert waren, zeigt sich in den Richtlinien der ‚Glaubensbewegung Deutsche Christen‘ vom 26. Mai 1932. Dort heißt es unter anderem: ‚Wir lehnen die Judenmission in Deutschland ab, solange die Juden das Staatsbürgerrecht besitzen und damit die Gefahr der Rassenverschleierung und Bastardisierung besteht. Die Heilige Schrift weiß auch etwas zu sagen von heiligem Zorn und versagender Liebe. Insbesondere ist die Eheschließung zwischen Deutschen und Juden zu verbieten.‘ Die ‚Bekennende Kirche‘, die noch im September 1933 den ‚Arierparagraphen‘ als bekenntniswidrig abgelehnt hatte und seine Einführung in die Kirche verweigerte, verabschiedete ein knappes Jahr später, am 31. Mai 1934, auf der ersten Bekenntnissynode in Barmen die Barmer Theologische Erklärung ‚Zur gegenwärtigen Lage der Deutschen Evangelischen Kirche‘. Keiner ihrer sechs Abschnitte geht theologisch auf die Bedeutung des Judentums für das Christentum ein, geschweige denn auf die Lage der Juden in Deutschland. Die ‚Bekennende Kirche‘ bekannte zwar in eigener Sache, schwieg jedoch zu Verfolgung anderer, die ihr eigenes Bekenntnis bezeugten…“

  5. Der Reformator und Kämpfer gegen religiöse Vorurteile war von religiöser Toleranz weit entfernt. Er war mitschuldig daran, daß die protestantischen Fürsten und Völker noch gehässiger mit den J. verfuhren als die Katholiken.
    Willy Cohn

  6. Von Deschner sollte mensch so viel als möglich gelesen haben…

    Unvergessbar ist dies, das die Intention seines Lebenswerkes umschreibt:

    „Wer in dieser Kirche noch ‚etwas retten‘ will, ist entweder unwissend oder Opportunist oder von Mystik besoffen. Man kann in dieser Kirche längst nichts mehr retten, sondern nur sich noch und andere vor ihr!“

    Zwar hat er das in Hinblick auf die katholische Kirche geschrieben (in „Der gefälschte Glaube“), aber es gilt viel umfassender.

    ego

  7. Wie wird und wurde Luther von jüdischen Autoren, bzw. Nachschlagewerken eingeschätzt?
    Eine erste Antwort gibt das 1927 im Berliner Jüdischen Verlag erschienene „Jüdische Lexikon“:
     
    „Luther, Stellung zu Juden und Judentum. Aus einer im Anfang seines Lebens entschieden freundlichen Stellung L.‘s zu den J. wurde am Schluß eine ausgesprochen feindliche. In der ersten Epoche seines Wirkens, 1513/21, hatte L. kaum Gelegenheit, mit den J. in persönliche Berührung zu treten, seine Einstellung zu ihnen war die des christlichen Theologen. Er beschäftigte sich mit dem Gedanken ihrer Bekehrung, die er zunächst allerdings für völlig unmöglich hielt. Erst als die J. sich intensiv mit L. zu beschäftigen begannen, weil der Sturm in der Christenheit sie auf den Beginn des messianischen Zeitalters hoffen ließ und sie daher L. mit gewissen Sympathien gegenübertraten, wuchs in ihm die Überzeugung, daß es Schuld der bisherigen Kirche sei, daß die J. noch nicht bekehrt werden konnten. Er glaubte sogar, daß die J. seiner Lehre zuströmen und daß mit seinem Namen sich das große Werk ihrer Bekehrung verbinden würde. Aus diesem Geist heraus entstand seine Schrift (1523): „daß Jesus Christus ein geborener J. sei.“ Naturgemäß trat in der Stellung L.‘s zu den J. der Rückschlag ein, als der erhoffte Erfolg ausblieb. Dazu kam eine Reihe von schlechten Erfahrungen, die L. mit einzelnen J. gemacht hatte, sowie das Auftreten judaisierender Sekten unter seinen Anhängern. Auch brachte ihn der Widerspruch auf, den j. Gelehrte gegen Einzelheiten seiner Bibelübersetzung erhoben. Allmählich entwickelte sich L. zu einem Judenhasser, der sich in den derbsten Schimpfereien und aufpeitschenden Hetzreden gegen die J. erging. In zwei Schriften („Von den Jüden und ihren Lügen“, 1542, und „Vom Schem Hamphoras“) wiederholte er die Beschuldigungen gegen die J., die der Täufling Anton Margaritha gegen sie erhoben hatte. Er verlangte, daß die Christen die Synagogen verbrannten, die Häuser der J. zerstörten, daß die Fürsten die J. zum Frondienst zwängen, daß man ihnen die heiligen Schriften fortnehme und ihnen das Beten verbiete. Er hetzte die Fürsten zur Landesverweisung der J., die Raubritter zu Überfällen auf. Keine Barmherzigkeit! Noch vier Tage vor seinem Tode, 1546 zu Eisleben, eiferte er in einer Predigt gegen die J. und forderte ihre Austreibung.
    Der Reformator und Kämpfer gegen religiöse Vorurteile war von religiöser Toleranz weit entfernt. Er war mitschuldig daran, daß die protestantischen Fürsten und Völker noch gehässiger mit den J. verfuhren als die Katholiken. Seine zwiespältige Natur, die die evangelische Freiheit forderte, aber im Kampf gegen die unterdrückten Bauern auf seiten der Fürsten stand, die Demut und Sanftheit predigte, aber die Zehngebote für aufgehoben erklärte, ließ auch dem Volk der Bibel keine Gerechtigkeit widerfahren. Für den versittlichenden Charakter der j. Religion hat er kein Verständnis gezeigt.
    W. C. (Willy Cohn, Breslau)“
     
    RS

  8. Teil 2 von Karlheinz Deschners Ausführungen zu Luther und den Juden. Hier geht es um die Auswirkungen, die die ‚Lehren‘ des Reformators im NS hatten.

    Karheinz Deschner, Abermals krähte der Hahn – Eine kritische Kirchengeschichte, 1962/1996 München, S. 525ff:
     
    Unter Hitler
     
    ‚Das völlige Versagen der ‚Kirchenführer‘, der Kirchenausschüsse und der Kirchenverwaltungen ist am Tage. Sie haben im allgemeinen die nichtarischen Pastoren in die Wüste geschickt und waren froh, sie los zu sein‘.
    Der Theologe Wilhelm Niemöller.
     
    … Das Verhalten der protestantischen Kirche in Deutschland gegenüber den Juden unter Hitler mögen folgende Fakten kennzeichnen. Der 1933 von der Evangelischen Kirche geschaffene Arierparagraph legte fest, daß Personen nichtarischer Abstammung nicht als Geistliche und Beamte der allgemeinen kirchlichen Verwaltung berufen werden können und Geistliche oder Beamte arischer Abstammung, die mit einer Person nichtarischer Abstammung die Ehe eingehen, zu entlassen sind.
    Im Jahre 1939 verlangte die evangelische Kirchenbehörde den Nachweis arischer Abstammung schon von den Kandidaten der Theologie.
    Am 10. 2. 1939 beschloß der Landeskirchenrat der Thüringer evangelischen Kirche ein antijüdisches Gesetz, dessen § 1 lautet: ‚Juden können nicht Mitglieder der Thüringer evangelischen Kirche werden.‘ Ein ähnliches antijüdisches Kirchengesetz wurde im Februar 1939 erlassen für die evangelisch-lutherische Kirche Mecklenburgs, Anhalts und Sachsens.
    Derartiges hatte es nicht einmal im finsteren Mittelalter gegeben.
    Am 17. 12. 1941 veröffentlichten die nationalkirchlichen evangelischen Kirchenführer folgende Bekanntmachung über die kirchliche Stellung evangelischer Juden:
    ‚Die nationalsozialistische deutsche Führung hat mit zahlreichen Dokumenten unwiderleglich bewiesen, daß dieser Krieg in seinen weltweiten Ausmaßen von den Juden angezettelt worden ist. Sie hat deshalb im Inneren wie nach außen die zur Sicherung des deutschen Lebens notwendigen Entscheidungen und Maßnahmen gegen das Judentum getroffen.
    Als Glieder der deutschen Volksgemeinschaft stehen die unterzeichneten deutschen Evangelischen Landeskirchen und Kirchenleiter in der Front dieses historischen Abwehrkampfes, der u.a. die Reichspolizeiverordnung über die Kennzeichnung der Juden als der geborenen Welt- und Reichsfeinde notwendig gemacht hat, wie schon Dr. Martin Luther (!) nach bitteren Erfahrungen die Forderung erhob, schärfste Maßnahmen gegen die Juden zu ergreifen und sie aus deutschen Landen auszuweisen.
    Von der Kreuzigung Christi bis zum heutigen Tage haben die Juden das Christentum bekämpft oder zur Erreichung ihrer eigennützigen Ziele mißbraucht oder verfälscht. Durch die christliche Taufe wird an der rassischen Eigenart eines Juden, seiner Volkszugehörigkeit und seinem biologischem Sein nichts geändert. Eine deutsche Evangelische Kirche hat das religiöse Leben deutscher Volksgenossen zu pflegen und zu fördern. Rassejüdische Christen haben in ihr keinen Raum und kein Recht.
    Die unterzeichneten deutschen Evangelischen Kirchen und Kirchenleiter haben deshalb jegliche Gemeinschaft mit Judenchristen aufgehoben.
    Sie sind entschlossen, keinerlei Einflüsse jüdischen Geistes auf das deutsche religiöse und kirchliche Leben zu dulden.‘
    Diese Bekanntmachung unterschrieben die Landesbischöfe bzw. Landeskirchenpräsidenten von Sachsen, Hessen, Mecklenburg, Schleswig-Holstein, Anhalt, Thüringen und der Vorsitzende der evangelisch-lutherischen Kirche von Lübeck.
    Am 22. 12. 1941 ersuchte die Deutsche Evangelische Kirchenkanzlei in einem
    Schreiben an die obersten Kirchenbehörden im Einvernehmen mit dem Geistlichen Vertrauensrat, ‚die geeigneten Vorkehrungen zu treffen, daß die getauften Nichtarier dem kirchlichen Leben  der deutschen Gemeinde fernbleiben. Die Nichtarier werden selbst Mittel und Wege suchen müssen, sich Einrichtungen zu schaffen, die ihrer gesonderten …‘.
    Die Evangelische Landeskirche Hannover erhob ab 9.1.1942 von Juden keine Kirchensteuer mehr, ‚da Juden nicht als Mitglieder der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannover als Körperschaft des öffentlichen Rechts angesehen werden können‘.
    Allerdings gab es auch evangelische Theologen, vor allem in der sogenannten Bekennenden Kirche, die den Antijudaismus der Naziregierung offen verurteilten. Die  Führer dieses Kreises schrieben sogar an Hitler: ‚Wenn den Christen im Rahmen der nationalsozialistischen  Weltanschauung ein Antisemitismus aufgedrängt wird, der zum Judenhaß verpflichtet, so steht für ihn (sie) dagegen das christliche Gebot der Nächstenliebe‘. Auch der evangelische Landesbischof von Württemberg, Wurm, trat noch 1943 in einem Schreiben an den Minister für kirchliche Angelegenheiten wenigstens für die getauften und in Mischehen lebenden Juden ein.Auch gegen den Ausschluß nichtarischer Christen aus der Kirchengemeinschaft erhoben evangelische Theologen ihre Stimme und mahnten die Pfarrer und Gemeinden die kirchliche Gemeinschaft mit ihnen aufrechtzuerhalten. Diese Proteste  waren freilich vereinzelt und zudem selten sehr entschieden. Konzedierte man doch auch auf protestantischer Seite, daß selbst die Bekennende Kirche gegen die antisemitischen Gesetze und die Judenverfolgung im staatlichen Raum ’nur sehr zögernd Stellung nahm‘. “
     
    (Hervorhebungen: Karlheinz Deschner)
     
    RS

  9. Heute erteile ich Karlheinz Deschner, dem bekannten Religionshistoriker und herausragenden Kritiker der katholischen Kirche das Wort zu Luther und den Juden. Es kommen hier u.a. die abscheulichen Gleichsetzungen Luthers von Juden mit Schweinen zur Sprache. Es fällt bei der Lektüre dieser übelsten Auswürfe schwer, nicht am Verstand des Reformators zu zweifeln, selbst angesichts der „Zeitumstände“, die so gerne von Lutherapologeten vorgeschoben werden.
     
    Karheinz Deschner, Abermals krähte der Hahn – Eine kritische Kirchengeschichte, 1962/1996 München, S. 521ff:
     
    „Der Antijudaismus von der Reformation bis zu Hitler
     
    Luther
    ‚Eine erschreckend ähnliche Sprache hat fast 400 Jahre später Hitler geführt‘. H. G. Adler
     
    Luther hat am christlichen Antijudaismus nichts geändert. Im Gegenteil! Zwar gibt es aus seiner Frühzeit einige judenfreundliche Äußerungen, schrieb er beispielsweise, Papisten, Bischöfe, Sophisten und Mönche hätten die Juden in einer Weise behandelt, daß alle guten Christen wünschen sollten, Juden zu werden. Wenn er Jude wäre und die Behandlung der Juden durch die Christen mitansehen müßte, würde er es vorziehen, ein Schwein zu sein. Aber in späteren Jahren wurde Luther ein rabiater Antisemit, der in übelsten Pamphleten, wie dem ‚Brief wider die Sabbather an einen guten Freund‘, ‚Von den Juden und ihren Lügen‘, ‚Vom Schem Hamphoras‘ u. a., ’scharfe Barmherzigkeit‘ empfiehlt und mit verführerischer Beredsamkeit fast alle überkommenen katholischen Lügen und Gräuelmärchen auftischt, die Brunnenvergiftung ebenso wie Ritualmord. Diese Schriften, meinte der Schweizer Reformator Bullinger, gegen die ‚hündische‘, schmutzige Beredsamkeit Luthers protestierend, seien nicht von einem berühmten Seelen-, sondern von einem ‚Schweinehirten‘ verfaßt. Hatte Luther die Juden doch wiederholt mit Schweinen identifiziert, ja, er war der Meinung, sie seien ’schlimmer als eine Sau‘.
    Es dürfte nicht leicht fallen, aus dem ‚Stürmer‘, der berüchtigten antisemitischen Nazizeitung, niederträchtigere Schmähungen der Juden zu eruieren, als aus den Werken Martin Luthers, auf die sich denn auch Stürmer-Herausgeber Julius Streicher vor dem Internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg berief. So schreibt er zum Beispiel: ‚Ein solch verzweifelt, durchböset, duchgiftet, durchteufelt Ding ist’s umb diese Jüden, so diese 1400 Jahr unsere Plage, Pestilenz und alles Unglück gewest und noch sind. Summa wir haben rechte Teufel an ihnen‘.
    Oder: ‚Hieher zum Kusse! Der Teufel hat in die Hosen geschissen und den Bauch abermal geleeret. Das ist ein recht Heiligthum, das die Juden und was Jude sein will, küssen, fressen und sauffen, was solche Jünger speien, oben und unten auswerfen können. Hie sind die rechten Gäste und Wirthe zusammengekommen, habens recht gekocht und angerichtet… Der Teufel frißt nun mit seinem englischen Rüssel und frißt mit Lust, was der Juden unteres und oberes Maul speiet und spritzet‘.
    Oder: ‚Es ist hie zu Wittenberg an unser Pfarrkirchen eine Sau in Stein gehauen; da liegen junge Ferkel und Jüden unter, die saugen; hinter der Sau steht ein Rabbin, der hebt der Sau das rechte Bein empor, und mit seiner linken Hand zeucht er den Pirzel über sich, bückt und kuckt mit großem Fleiß der Sau unter dem Pirzel in den Talmud hinein, als wollt er etwas Scharfs und Sonderlichs lesen und ersehen… Denn also redet man bei den Deutschen von einem, der große Klugheit ohne Grund furgiebt: Wo hat ers gelesen? Der Sau im, grob heraus, Hintern‘.
    In seiner 1543 verfaßten Schrift ‚Von den Juden und ihren Lügen‘, die man auf protestantischer Seite ‚das Arsenal‘ nannte, ‚aus dem sich der Antisemitismus seine Waffen geholt hat‘, fordert Luther: ‚Daß man ihre Synagogen oder Schulen mit Feuer anstecke, und was nicht verbrennen wil, mit Erde überhäufe und beschütte, daß kein Mensch einen Stein oder Schlacke davon sehe ewiglich. Und solches soll man tun unserem Herrn und der Christenheit zu Ehren, damit Gott sehe, daß wir Christen seien und solch öffentlich Lügen, Fluchen, Lästern seines Sohnes und seiner Christen wissentlich nicht geduldet noch gewilligt haben… Daß man auch ihre Häuser desgleichen zerbreche und zerstöre. Denn sie treiben dasselbige drinnen, was sie in ihren Schulen treiben. Dafür mag man sie etwa unter ein Dach oder Stall tun, wie die Zigeuner… Daß man ihnen nehme all ihre Betbüchlein und Talmudisten, darin solche Abgötterei, Lügen, Fluch und Lästerung gelehrt wird… Daß man ihren Rabbinern bei Leib und Leben verbiete, hinfüro zu lehren… Daß man ihnen verbiete, bei uns öffentlich Gott zu loben, zu danken, zu beten, zu lehren, bei Verlust Leibes und Lebens‘.
    Wie in so mancher Hinsicht, werden die Katholiken auch in dieser durch Martin Luther nicht beschämt. Auch alle anderen führenden Reformatoren waren judenfeindlich. Und Hitler brachte dann den Antijudaismus zur letzten Entfaltung. In seinen Vorlesungen über ‚Kirche und Synagoge‘ bestätigt Wilhelm Maurer, Luther habe ‚mitgeholfen, daß in den breiten Schichten des christlichen Volkes der sakramental begründete Antisemitismus vom Mittelalter her weiter wirken konnte, bis er dann durch den rassemäßig begründeten abgelöst wurde‘. Und der Tehologe Martin Stöhr bekennt von Luther: ‚Wir haben es erleben müssen, daß seiner und anderer Theologen Meinungen eine Jahrhunderte überdauernde tödliche Explosivkraft besaßen. ‚“
    RS

  10. Ein weiterer Leser möchte gerne nähere Angaben zu Julius Streichers, des Herausgebers des Antijudenblattes „Der Stürmer“, Sichberufen auf Martin Luther beim Nürnberger Prozess haben.
     
    Dazu fand ich bei Daniel Jonah Goldhagen, „Die katholische Kirche und der Holocaust“, Berlin 2002, S. 215f eine Antwort:
     
    „Wenn jemand einen anderen eifrig lehrt, einen Dritten zu hassen und feindselige Gefühle gegen ihn zu empfinden, wenn dieser andere sich dann nach dem, was er gelernt hat, richtet und beschließt, den Dritten zu töten, und wenn die erste Person die Absicht des anderen kennt, wenn sie begreift, dass sie es war, die das Motiv geliefert und ihn zum Töten angestiftet hat, aber dennoch nichts unternimmt, um den, der zum Mörder wird, von seinem Tun abzubringen, dann hat auch die erste Person einen wesentlichen Teil zu dem Verbrechen beigetragen und ist daran im strafrechtlichen Sinne schuld. In den Nürnberger Prozessen wurde dieses Prinzip auf den Holocaust angewandt, und zwar in dem Verfahren gegen Julius Streicher, den Herausgeber des vielgelesenen, wüst antisemitischen Blattes Der Stürmer, …
    Der Rechtsgrund für Streichers Verurteilung in Nürnberg war Anstiftung zu Mord und Ausrottung.
    Streicher behauptete in Nürnberg, wenn er sich vor dem Gericht für seine Mitwirkung an der massenhaften Ermordung der Juden zu verantworten habe, dann gehöre auch Luther auf die Anklagebank, der Vater der lutherischen antisemitischen Ãœberlieferung, dessen Antisemitismus wiederum auf die katholische Tradition zurückging und der vierhundert Jahre nach seinem Tode vor allem in Deutschland noch immer Menschen dazu verleite, Juden zu hassen und nach ihrer Ausschaltung zu trachten. Ob das, was Streicher über einen Mann sagte, der seit vierhundert Jahren tot war, nun richtig war oder nicht – Streicher, der den nationalsozialistischen Antisemitismus, dessen religiöse Ursprünge und die Affinitäten zwischen beiden kannte und begriffen hatte, wie stark die religiös erzeugte Feindseligkeit war, hatte zumindest damit Recht, dass die religiösen Autoritäten, die den Hass verbreiteten, ebenfalls schuldig waren. Der Ankläger in Nürnberg sagte die unbestreitbare Wahrheit, als er von den katastrophalen Folgen sprach, die von jenen angerichtet wurden, die Antisemitismus verbreitet hatten. Die Anklagevertretung war der Auffassung, dass der Angeklagte Streicher
     
    ‚diese Verbrechen ermöglicht hat, zu denen es niemals ohne ihn und Leute seines Schlages gekommen wäre. Er leitete die Propaganda und die Erziehung des Volkes auf diesem Wege. Ohne ihn hätten die Kaltenbrunner, die Himmler und General Stroop niemanden gehabt, um ihre Befehle auszuführen. Wie wir gesehen haben, befasste er sich besonders mit der Jugend und den Kindern Deutschlands. In seiner Ausdehnung ist sein Verbrechen wahrscheinlich größer und weitreichender als das irgendeines anderen Angeklagten. Das Elend, das sie verursacht haben, fand mit ihrer Gefangennahme ein Ende. Die Auswirkungen der Verbrechen dieses Mannes, das Gift, das er in die Herzen von Millionen von jungen Knaben und Mädchen, jungen Männern und Frauen gegossen hat, wirkt weiter. Er hinterlässt als Erbschaft fast ein ganzes von ihm verführtes, mit Hass, Sadismus und Mordlust vergiftetes Volk.‘ “
     
    (Goldhagen relativiert gleich anschließend den letzten Teil des obigen Zitats des Anklägers.)
     
    RS

  11. Teil 3  der Besprechung von Paul Schützens “Lutherfibel”
     
    Grundlegendes Thema war es, zu untersuchen, wie Mitglieder der Bekennenden Kirche oder der Deutschen Christen, jener beiden großen Sammelbecken evangelisch-lutherischer Christen in Deutschland während des „Dritten Reiches“, wie diese den Antijudaismus Martin Luthers für ihre, nationalsozialistischen, Zwecke instrumentalisierten.
     
    Ich habe zu diesem Zweck als ein Beispiel zunächst die „Lutherfibel“ von Paul Schütz (1934) herangezogen. Im heute wiedergegebenen Wortlaut enthalten sind Exzerpte aus Luthers „Tischreden“, die von Schütz in ganz besonderer Absicht arrangiert worden sind.
     
    „Lutherfibel“, S. 86:
     
    Deutsche sind die besten Kriegsleute
     
    Und  da der Franzose nur Deutsche bei sich hatte, so behielt er von Sieg und das Feld; denn Deutschland gibt die besten und treuesten Kriegsleute, die sich an ihrer Besoldung begnügen lassen und beschützen die Leute; sind nicht wie Spanier, die nehmen weg Gut, Weib und Kinder, mit großer Untreue und Unzucht. Sie wollen Wirt im Hause sein, auch die Schlüssel an der Seite haben, die Kisten fegen; ferner Weib und Kinder zu ihrem Mutwillen berauben. Darum begehrt ihrer niemand zu Schutzherren. Daher Antoni de Leva, ein geborener Spanier, und des Kaisers vornehmster, glückseligster oberster Hauptleute einer, hat an seinem letzten Ende den Kaiser vermahnt, er wollte ihm die deutschen Kriegsleute lassen lieb sein und ja sehen, daß er ihre Gunst und guten Willen nicht verliere. Verlöre er die, so wäre es mit ihm aus, denn sie hielten als ein Mann.“
     
    Ohne Zweifel ein Loblied auf den deutschen Soldaten und den deutschen Volkscharakter, auf Kosten der menschlichen Qualitäten anderer Völker. Die Absicht ist klar, der verlorene Erste Weltkrieg bedrückt 1933/34 das deutsche Selbstverständnis, die deutsche Psyche immer noch und man muss den eigenen Leuten sagen, dass sie ‚gut‘ sind, dass sie anständig und rechtschaffen sind. Vielleicht hat Schütz auch schon die beginnende Wiederbewaffnung Deutschlands vor Augen und will mit der Auswahl dieser Lutherworte einen neuen deutschen Militarismus rechtfertigen.
     
    Deutschlands Preis
     
    Deutschland ist wie ein schöner, weidlicher Hengst, der Futter und alles genug hat, was er bedarf. Es fehlet ihm aber an einem Reiter. Gleich nun wie ein stark Pferd ohne Reiter, der es regiert, hin und wieder in der Irre läuft, also ist auch Deutschland mächtig genug von Stärke und von Leuten, es mangelt ihm aber an einem guten Haupt und Regenten.“
     
    Ganz offensichtlich will Schütz mit diesem Wortlaut auf den „Führer“ des deutschen Volkes, Adolf Hitler, hinweisen, der die Fähigkeit und Kompetenz besitzt, das Pferd Deutschland über Höhen und Tiefen kommender Zeiten zu geleiten.
     
    Allein die darin wohnen…
     
    Deutschland ist ein sehr gut Land, hat alles genug, was man haben soll, zu erhalten dieses Leben reichlich. Es hat allerlei Früchte, Korn, Wein, Getreide, Salz, Bergwerke und was aus der Erde zu kommen und zu wachsen pflegt; allein mangelts an dem, daß wir’s nicht recht achten nicht recht brauchen, wie wir billig sollten, Gott zu Ehren und dem Nächsten zu Nutz, und danken ihm nicht dafür; ja wir mißbrauchen aufs allerschändlichste, viel ärger denn die Säue.“
     
    Was will Schütz mit diesem Luthersatz bewirken?
    Zunächst mal den Deutschen bauchpinseln, sie loben und bestätigen; dann sie an verborgene  Fähigkeiten und Kräfte erinnern, ihnen Mut machen und sie auffordern, sich auf den ‚rechten Weg‘ (mit dem „Führer“) zu begeben. Möglicherweise möchte  er sogar schon die „Gemeinnutz geht vor Eigennutz“-Innenpolitik der NS-Regierung ankündigen.
     
    Es sind lauter Mosaiksteine, die den damaligen Umständen in Deutschland und den deutschen Befindlichkeiten entsprechend oder entgegenkommend angeordnet sind und die die NS-Politik als vom Konfessionsstifter Luther vorhergesagt bzw. abgesegnet erscheinen lassen sollen.
     
    Gleiches gilt auch für das oben (Teil 1) bereits wiedergegebene Kapitel „Von den Juden“.
    Mit geeigneten Passagen aus Luthers Schriften gelang es, wie so häufig zuvor in der Geschichte, Menschen, bzw. ein halbes Volk, mithilfe der Religion zu manipulieren. Bedauerlicherweise hat jedoch bis heute nur eine Minderheit der Deutschen die notwendigen Konsequenzen für sich aus dieser christlichen Unheilsgeschichte gezogen.
     
    Vier Jahre nach Herausgabe der Schützschen „Lutherfibel“, am Geburtstag Luthers, in der Nacht vom 9. auf den 10 November 1938, gingen in Deutschland Synagogen in Flammen auf, das nationalsozialistische Deutschland feierte seine „Reichskristallnacht“.
     
    RS

  12. Teil 2  der Besprechung von Paul Schützens “Lutherfibel”
    Während das Kapitel „Von den Juden“ für sich selbst sprach, füge ich den Auszügen aus dem Kapitel „Von den Deutschen“ kleinere Erläuterungen bzw. Interpretationen an.
     
    „Von den Deutschen
    Deutsche Tugend: Wahrsein und Treusein
     
    Uns Deutsche hat keine Tugend so hoch gerühmt, und (wie ich glaube) bisher so hoch erhaben und erhalten, als daß man uns für treue, wahrhaftige, beständige Leute gehalten hat, die da haben Ja – ja, Nein – nein lassen sein, wie des viel Historien und Bücher Zeugen sind…
    Wir Deutschen haben noch ein Fünklein (Gott wollts erhalten und aufblasen) von derselben alten Tugend, nämlich, daß wir uns dennoch ein wenig schämen, und nicht gern Lügner heißen, nicht dazu lachen, wie die Welschen und Griechen, oder einen Scherz draus treiben. Und obwohl die welsche und griechische Unart einreißt (Gott erbarms!), so ist dennoch gleichwohl noch das übrig bei uns, daß kein ernster, greulicher Scheltwort jemand reden oder hören kann, denn so er einen Lügner schilt oder gescholten wird. Und mich dünkt, daß kein schädlicheres Laster auf Erden sei, denn Lügen und Untreu beweisen, welches alle Gemeinschaft der Menschen zertrennt. Erstlich die Herzen; wenn die Herzen zertrennt sind, so gehen die Hände auch auseinander; wenn die Hände von einander sind, was kann man da tun oder schaffen? Wenn Kaufleute einander nicht Glauben halten, so fällt der Markt zu Grund. Wenn Mann und Weib einander nicht treu sind, so läuft sie hinten aus, der Mann vorn aus, und geht, wie jener sagt: ‚Wehre, lieb Else, wehre, daß wir nicht reich werden; brich du Krüge, so breche ich Töpfe“. Wenn ein Bürgermeister, Fürst, König nicht Geleit treulich hält, da muß die Stadt verderben, Land und Leute untergehen. Darum ist auch im welschen Lande solch schändliches Trennen, Zwietracht, Unglück. Denn wo Treu und Glauben aufhört, da muß das Regiment auch ein Ende haben. Christus helf uns Deutschen.“
     
    Die Kernsätze lauten doch:
    Und mich dünkt, daß kein schädlicheres Laster auf Erden sei, denn Lügen und Untreu beweisen, welches alle Gemeinschaft der Menschen zertrennt.
    Sowie:
    Denn wo Treu und Glauben aufhört, da muß das Regiment auch ein Ende haben.
     
    Fragt man Durchschnittsdeutsche heute nach deutschen (Charakter-)Stärken, bekommt man früher oder später „Ehrlichkeit“, „Wahrheitsliebe“, „Verlässlichkeit“ genannt.
     
    Luther und die Deutschen heute haben also ähnliche Ideale. Der deutsche Umgang mit der eigenen Vergangenheit, ich verweise diesbezüglich u.a. auf meine inzwischen über vierzig Beiträge für haGalil, belehrt uns hingegen eines Besseren. Es scheint keine verlogenere, zu (Geschichts-)Lügen geneigtere, es mit der historischen Wahrheit  ungenauer zu nehmende Gesellschaft zu geben als unsere deutsche.
     
    Anspruch und Wahrheit klaffen weit auseinander. Luther wäre höchst unfroh, wenn er wüsste, wie wir mit seinem Erbe umgehen. Er würde uns „Welsche“ schelten, wenn ihm zu Ohren käme, dass wir seine antijudaistischen Schriften aus unserem kollektiven Gedächtnis tilgen (oder dies zumindest seit etwa einhundert Jahren versuchen).
     
    Sollten wir Deutsche nicht versuchen uns die Worte Luthers zu Herzen zu nehmen und die Wahrheit im Umgang miteinander, selbst wenn’s schwerfällt, wieder an die Spitze unserer Ideale setzen? Ja, auch Sie spreche ich hiermit an, Frau Merkel und die Damen und Herren Minister (einschließlich des bayerischen Lügenbarons)!
    ((Mit „Welsche“ sind übrigens Italiener gemeint, die zu Luthers Zeiten in gewissen deutschen Kreisen als nicht seriös galten))
     
    RS
     

  13. Es gibt zum Teil heute noch diese Substitutionstheorie und abgeschwächt entspricht sie der Lüge Gott hätte die Juden verworfen und die Gemeinde an die Stelle gesetzt.
    einfach bei Google   „Substitutionstheorie Israel“ eingeben.
    vielleicht auch „Substitutionstheorie  Israel Gemeinde“
     
     

  14. Eine Leserin möchte wissen, ob es auch Belege dafür gibt, dass sich Martin Luther in seiner allernächsten Umgebung (Familie) antijudaistisch geäußert hat.
     
    Ich bin zwar kein Luther-Spezialist, aber an zwei Briefe des Reformators an seine Frau kann ich mich gut erinnern, in denen er seinen massiven Judenhass zum Ausdruck bringt.
    Sie seien hier in verkürzter Form wiedergegeben:
     
    „Eisleben, 1. Februar 1546
    … Liebe Käthe! Ich bin ja schwach gewesen auf dem Weg hart vor Eisleben, das war meine Schuld. Aber wenn Du wärest dagewest, so hättest Du gesagt, es wäre der Juden oder ihres Gottes Schuld gewest. Denn wir mußten durch ein Dorf hart vor Eisleben, da viel Juden inne wohnen; vielleicht haben sie mich so hart angeblasen. So sind hie in der Stadt Eisleben itzt diese Stund uber funfzig Juden wohnhaftig. Und wahr ist’s, da ich bei dem Dorf fuhr, ging mir ein solcher kalter Wind hinten zum Wagen ein auf meinen Kopf, durchs Barett, als wollt mir’s das Hirn zu Eis machen…
    Wenn die Häuptsachen geschlichtet wären, so muß ich mich dran legen, die Juden zu vertreiben. Graf Albrecht ist ihnen feind und hat sie schon preisgegeben. Aber niemand tuet ihnen noch ichts. Will’s Gott, ich will auf der Kanzel Graf Albrechten helfen und sie auch preisgeben…
    Hiemit Gott befohlen samt allem Haus, und grüße alle Tischgesellen. Am Tage von Mariae Reinigung 1546.
     
    Martin Luther, Dein altes Liebchen.“
     
    Sowie:
     
    „Eisleben, 7. Februar 1546
    Meiner lieben Hausfrauen Katherin Lutherin, Doktorin, Säumarkterin zu Wittenberg, meiner gnädigen Frauen zu Handen und Fußen…
    Ich denke, daß die Helle und ganze Welt musse itzt ledig sein von allen Teufeln, die vielleicht alle um meinenwillen hie zu Eisleben zusammengekommen sind, so fest und hart stehet die Sache. So sind auch hie Juden, bei funfzig in einem Hause, wie ich Dir zuvor geschrieben. Itzt sagt man, daß zu Rißdorf, hart vor Eisleben gelegen, daselbst ich krank ward im Einfahren, sollen aus- und einreiten und -gehen bei vierhundert Juden. Graf Albrecht, der alle Grenze um Eisleben her hat, der hat die Juden, so auf seinem Eigentum ergriffen, Preis gegeben. Noch will ihnen niemands nichts tun. Die Gräfin zu Mansfeld, Witwe von Solms, wird geachtet als der Juden Schutzerin. Ich weiß nicht, ob’s wahr sei. Aber ich hab mich heute lassen horen, wo man’s merken wollte, was meine Meinung sei, groblich gnug, wenn’s sonst helfen sollt.
    Betet, betet, betet und helft uns, daß wir’s gut machen…“
     
    Quelle: Die Juden – Ein historisches Lesebuch, (Hg.) Günter Stemberger, München 1990, S. 184ff
     
     
    Liebe christliche (evangelische) Mitbrüder und -schwestern, lasst das neue Jahr, 2010, nicht tatenlos verstreichen! Ruft Eure Bischöfinnen und Bischöfe auf, Euch endlich ein wahres Lutherbild zu präsentieren! Es soll genug gelogen, geheuchelt, die Geschichte geschönt und verbogen sein. Macht reinen Tisch mit Luther und den Juden!
     
    RS
     

  15. Nach Veröffentlichung meines Beitrags zu Luther und den Juden erhielt ich eine  Reihe von Anrufen kritischer und engagierter Protestanten, die mich baten, doch einmal genauer zu erläutern wie denn im „Dritten Reich“ der Luthersche Antijudaismus zur Propaganda gegen Juden zur Anwendung gebracht wurde.
     
    Nun, dies geschah, um eine erste kurze Antwort zu geben, auf sehr verschiedenartige Weise und von den unterschiedlichsten, mehr oder weniger gelehrten Individuen geistlichen wie weltlichen Standes aus.
     
    Als eines von vielen möglichen Beispielen möchte ich zunächst den Berliner Theologen Paul Schütz (1891-1985) und dessen „Lutherfibel“ von 1934 heranziehen. Wer sich ein rasches Bild von diesem ein wenig unkonventionellen Kirchenmann machen möchte, hat hier dazu die Gelegenheit: http://de.wikipedia.org/wiki/Paul_Schütz_(Theologe)
     
    Schützens Fibel leitet sein Verleger mit folgenden Worten ein:
     
    Diese Lutherfibel will der gegenwärtigen Stunde und den lebendigen Menschen dienen. Aus ihr spricht Martin Luther mitten hinein in unsere Zeit zu dem vielbeschäftigten Laien, dem denkenden Arbeiter und Bauern, dem jugendlichen Vorkämpfer des neuen Deutschlands auf der Hochschule und in der Werkstatt. Jede andere Absicht, vor allem literarischer oder wissenschaftlicher Art liegt ihr fern. Der unterzeichnete Verlag hat deshalb die Herausgeabe in die Hand eines Mannes gelegt, der im praktischen Gemeindepfarramt steht und seit Jahren am Kampfe um die religöse Erneuerung in Deutschland teilnimmt.
    Wilh. Gottl. Korn Verlag.“ (Breslau)
     
    Und später, im Kapitel „Von den Juden“, liest man:
     
    Die Geschichte bezeugt, daß Gott sein Volk verstoßen hat
     
    Darum sei ein Christ nur zufrieden, und zanke mit den Juden nicht; sondern mußt du oder willst du mit ihnen reden, so sprich nicht mehr denn also:
    Hörest du, Jude, weißt du auch, daß Jerusalem und eure Herrschaft samt dem Tempel und Priestertum zerstört ist nun über 1460 Jahr? Denn dies Jahr, da wir Christen schreiben von der Geburt Christi 1543, sinds gerade 1469 Jahr, und geht also ins 1500. Jahr, daß Vespasianus und Titus Jerusalem zerstört haben, und die Juden daraus vertrieben. Mit diesem Nüßlein laß sich die Juden beißen und disputieren, so lange sie wollen. Denn solcher grausame Zorn Gottes zeigt allzu genug an, daß sie gewißlich müssen irren und unrecht fahren; solches mag ein Kind wohl begreifen.
    Denn so greulich muß man nicht von Gott halten, daß er sollt sein eigenes Volk so lange, so greulich , so unbarmherzig strafen, und dazu stillschweigen, weder mit Worten noch Werken trösten, keine Zeit noch Ende bestimmen. Wer wollt an solchen Gott glauben, hoffen oder ihn lieben? Darum schließt dies zornige Werk, daß die Juden  gewißlich von Gott verworfen, nicht mehr sein Volk sind, er auch nicht mehr ihr Gott sei…
    Und wo ein Funke Vernunft oder Verstandes in ihnen wäre, müßten sie wahrlich bei sich also denken: Ach, Herr Gott, es stehet und gehet nicht recht mit uns, das Elend ist zu groß, zu lange, zu hart, Gott hat unser vergessen usw. Ich bin zwar kein Jude, aber ich denke mit Ernst nicht gern an solchen grausamen Zorn Gottes über dies Volk; denn ich erschrecke davor, daß mirs durch Leib und Leben gehet. Was wills werden mit dem ewigen Zorn in der Hölle über falsche Christen und alle Ungläubigen?…
    Summa, wie gesagt, disputiere nicht viel mit Juden von den Artikeln unseres Glaubens: sie sind von Jugend auf also erzogen mit Gift und Groll wider unsern Herrn, daß da keine Hoffnung ist, bis sie dahin kommen, daß sie durch ihr Elend zuletzt mürb und gezwungen werden, zu bekennen, daß der Messias sei gekommen und sei unser Jesus.
     
    Es gibt nur eine Lösung der Judenfrage: daß sie sich bekehren und sich taufen lassen.
     
    Übers Andere habt ihr auch noch die Juden im Lande, die da großen Schaden tun. Nun wollen wir christlich mit ihnen handeln und bieten ihnen erstlich den christlichen Glauben an, daß sie den Messias wollen annehmen, der doch ihr Vetter ist und von ihrem Fleisch und Blut geboren und rechter Abrahams Same, des sie sich rühmen. Wiewohl ich Sorge trage, das jüdische Blut sei nunmehr wässerig und wild geworden. Das sollt ihr ihnen erstlich anbieten, daß sie sich zu dem Messias bekehren wollen und sich taufen lassen, daß man sehe, daß es ihnen ein Ernst sei: wo nicht, so wollen wir sie nicht leiden. Denn Christus gebeut uns, daß wir uns sollen taufen lassen und an ihn glauben. Ob wir gleich nun so stark nicht glauben können, wie wir wohl sollten, so trägt doch Gott Geduld mit uns.
    Nun ists mit den Juden also getan, daß sie unsern Herrn Jesum Christum nur täglich lästern und schänden. Dieweil sie das tun und wir wissen’s,  so sollen wir es nicht leiden. Denn soll ich den bei mir leiden, der meinen Herrn Christum schändet, lästert und verflucht, so mache ich mich fremder Sünden teilhaftig, so ich doch an meinen eigenen Sünden genug habe.  Darum sollt ihr Herren sie nicht leiden, sondern sie wegtreiben. Wo sie sich aber bekehren, ihren Wucher lassen und Christum annehmen, so wollen wir sie gerne als unsere Brüder halten. Anders wird nichts draus, denn sie machen’s zu groß. Sie sind unsere öffentlichen Feinde, hören nicht auf, unsern Herrn Christum zu lästern, heißen die Jungfrau Maria eine Hure, Christum ein Hurenkind; uns heißen sie Wechselbälge oder Maalkälber. Und wenn sie uns könnten alle töten, so täten sie es gerne, und tuns auch oft, sonderlich die sich für Ärzte ausgeben, ob sie gleich je zu Zeiten helfen; denn der Teufel hilft’s doch zuletzt versiegeln. So können sie die Arznei auch, so man in Welschland kann, da man einem ein Gift beibringt, davon er in einer Stunde, in einem Monat, in einem Jahr, ja in zehn oder zwanzig Jahren sterben muß; die Kunst können sie.
    Darum sei unverworren mit ihnen als mit denen, die da nichts anderes bei euch tun, denn daß sie unsern lieben Herrn Jesum Christum greulich lästern, stehen uns nach Leib, Leben, Ehre und Gut. Noch wollen wir die christliche Liebe an ihnen üben und zuvor sie bitten, daß sie sich bekehren, den Herrn annehmen, den sie vor uns billig ehren sollten. Welcher solches nicht tun will, der setze es in keinen Zweifel, daß der ein verboster Jude ist, der nicht ablassen wird, Christum zu lästern, dich auszusaugen und (wo er kann) zu töten.
    Darum bitte ich, wollet euch fremder Sünde nicht teilhaftig machen. Ihr habt genugsam Gott zu bitten, daß er euch gnädig sei und euer Regiment erhalte, wie ich noch täglich bete und ducke mich unter dem Schirm des Sohnes Gottes. Den halte und ehre ich für meinen Herrn, zu dem muß ich laufen und fliehen, wo mich der Teufel, die Sünde oder ander Unglück anficht. Denn er ist mein Schirm, soweit Himmel und Erden ist, und meine Gluckhenne, darunter ich krieche vor Gottes Zorn. Darum kann ich mit den verstockten Lästern und Schändern dieses lieben Heilandes keine Gemeinschaft noch Geduld haben.
    Das habe ich als ein Landeskind euch zur Wahrheit sagen wollen zur Letzte, daß ihr euch fremder Sünde nicht teilhaftig macht. Denn ich meine es ja gut und treulich, beides mit den Herren und Untertanen. Wollen sich die Juden zu uns bekehren und von ihrer Lästerung und, was sie sonst getan haben, aufhören, so wollen wir es ihnen gerne vergeben: wo aber nicht, so sollen wir sie auch bei uns nicht dulden noch leiden.“
     
     
    Dass diese ein knappes halbes Jahrtausend alten Worte im neuen Gewande, sie stammen aus der 1543er Schrift „Von den Juden und ihren Lügen“ sowie aus der „Vermahnung wider die Juden“ von 1546 und wurden von Schütz in zeitgenössisches Deutsch ‚herübergesetzt‘, ihre Wirkung in Hitlerdeutschland nicht verfehlt haben, bezeugt mein eigenes Exemplar der „Lutherfibel“: Der Vorbesitzer hat nach gängiger Beamtenmanier mit Lineal und roten bzw. blauen Buntstiften die ihm wichtig erscheinenden Zeilen (nicht eben wenige!) sauber unterstrichen und einige, besonders markante Stellen zusätzlich mit roten Ausrufungszeichen am Seitenrand versehen.
     
    Im sich anschließenden Kapitel „Vom alten Testament“ wird ein überraschend differenziertes Bild dieser Schrift mit nur wenigen ‚Seitenhieben‘ auf Juden präsentiert, jedoch findet Schütz  dennoch genügend andere Stellen, die er mit in seine Fibel aufnimmt, in dem der alte Judenhass unmissverständlich zum Ausdruck kommt.
     
    Von größtem Interesse und mit ungeahnt passenden Bezügen zur Gegenwart präsentiert sich in Schützens „Lutherfibel“ das Kapitel „Von den Deutschen“, indem auch die Türken, die bekanntlich zu Luthers Zeiten vor Wien standen (und abgewehrt werden konnten), nicht fehlen dürfen…
     
    Beizeiten mehr hierzu.
     
    RS

  16. @ Herrn Schlickewitz
    Stimme zu Herr Schlickewitz! Um Glaubwürdigkeit predigen zu können, muß man auch glaubwürdig sein. Ich behaupte hier aber einmal, daß das Problem  auf sich selbst zurückwirkt. Glaubwürdigkeit PREDIGEN also schon den Glaubwürdigkeitsverlust enthält, ja erzeugt. Denn diese ABSOLUTE Glaubwürdigkeit – d.h. das Sich-selbst-so-Produzieren, daß man überall und in jeder Situation gegenüber jedem Anderen als hundertprozentig eingestuft werden kann und damit berechenbar – läuft u.U. in die Gefahr eines grandiosen Perfektionismus und einer Totalität (das Katholische im Wortsinn), die gerade für Mörderisches, als dem Versuch die eigenen Autorität nicht zu verlieren, verantwortlich wird. So in der Geschichte gesehen. Ich sehe das Problem also nicht in der Glaubwürdigkeit, sondern in der Autorität und religiösen Deutungshoheit und damit im PREDIGEN, was ja eine sublime Form der ANKLAGE ist!
    Und hier wäre Jesus genauso heranzuziehen: Richtet nicht!
    Siehe meine Beiträge oben.

  17. @Bernhard Schiller
     
    Ich „will“ nicht, dass „die Kirchen sich gegenseitig anklagen“, sondern ich stelle nur fest, warum sie es nicht tun!

     
    Warum es moralisch berechtigt wäre allmählich kritische Rückschau auf die Geschichte der eigenen Konfession zu halten, habe ich oben und in anderen Beiträgen bereits mehrfach detailliert ausgeführt.

    Man kann schlecht glaubwürdig „Wahrheit“ predigen (wollen), wenn man selbst so große Probleme mit dem Umgang mit der Wahrheit hat, meinen Sie nicht auch, Herr Schiller?
     
    Die evangelische Bischöfin Käsmann hat anlässlich ihrer Neujahrsansprache gerade eben u. a. zwei beherzenswerte Worte fallen lassen: „Mut“ und „Vertrauen“. Beides, Mut und Vertrauen, wünsche ich meinen evangelischen und katholischen Mitbrüdern und -schwestern bei der längst überfälligen ‚Entrümpelung‘ ihres jeweiligen Selbstverständnisses!

    Nehmt Euch die Worte Eures „Gottessohnes“ ohne ‚wenn und aber‘ zu Herzen, die da lauteten, „Du sollst kein falsches Zeugnis ablegen!“ und bereinigt Eure offizielle Geschichtsschreibung. Nicht nur die Nachkommen der von uns Dahingemeuchelten, auch unsere Kinder haben ein Recht darauf, die volle und reine Wahrheit über Luther, die Päpste, über das menschliche und moralische Versagen zweier Staatskirchen und der christlichen Gläubigen en gros zu erfahren. Nicht irgendwann oder „später“, sondern immer wenn ihnen danach ist und sie daheim ein Lexikon, eine Biografie deutscher Persönlichkeiten oder ein Nachschlagewerk zur Hand nehmen.

    Für einen ehrlichen Umgang mit der Vergangenheit!

    Evangelische Christen könnten die Worte von Frau Käsmann in etwa so umsetzen: Mit Mut an die Arbeit, die Wahrheit an die breite Öffentlichkeit zu bringen und im Vertrauen auf Einsicht und Verständnis der Gläubigen und im Vertrauen auf ihren christlichen Gott.

    RS

  18. @ Herrn Schlickewitz
    „als mit der moralisch berechtigten und notwendigen Anklage gegenüber dem anderen zu beginnen.“
     
    Sie wollen, daß sich die Kirchen gegenseitig anklagen?  Micht interessiert weiter, wieso Sie diese Anklagen für „notwendig“ halten und inwiefern für „moralisch berechtigt“, also von welchem Moralkodex oder welcher Gesetzlichkeit gedeckt? Vielen Dank für Ihre Antwort!

  19. @E. Schultz
     
    Viel interessanter und weiterführender wäre die Frage, weshalb in der späteren Neuzeit das Erbe des wechselseitigen religiösen Hasses nicht überwunden werden konnte. Von Menschen, die keineswegs mehr in der mittelalterlichen Überlieferung verfangen waren und mehrere hundert Jahre später lebten.
     
    Danke, Herr/Frau Schultz für diesen Einwand, auf den ich gerne eingehe.
     
    Wie ich in meinem Beitrag ausführe, liegt mir nicht daran, Luther schlecht zu reden, sondern den Umgang von Nachschlagewerken mit ihm und seiner so folgenreichen Einschätzung der Minderheit der Juden offen zu legen. Nachschlagewerke, die einem großen Teil der Deutschen der letzten einhundert Jahre zugänglich waren oder sind, habe ich auf diesen Punkt hin untersucht.
     
    Und in den (so spärlichen) angetroffenen Informationen zu diesem Komplex liegt bereits die Antwort auf Ihre Frage. Man verschwieg in diesen Nachschlagewerken am liebsten das, was eigentlich allen Deutschen hätte gesagt werden müssen, sogar mit Nachdruck hätte gesagt werden müssen.
     
    Anstatt Deutsche über diese Seite Luthers zu informieren, wurde peinlich geschwiegen, nach dem Motto, was nicht sein darf, muss auch nicht an die große Glocke.  Man hat den Deutschen dadurch die Möglichkeit genommen aus ihren und Luthers Fehlern zu lernen. Man hat Deutsche für dumm und unfähig gehalten, die nötigen Schlüße zu ziehen, umzudenken, ein neues Denken zu entwickeln; es sollte Alles beim Alten bleiben.
    Wie die Einträge in den erwähnten Nachschlagewerken aus dem 21. Jh. belegen, soll mit dieser Haltung offensichtlich auch für die Zukunft nicht gebrochen werden.
     
    Und in den Zeiten davor, 16. bis 19. Jahrhundert, hat sich über dieses Thema, Umgang mit Minderheiten, kaum jemand ernsthafte Gedanken gemacht bzw. diese vor einem größeren Publikum ausgebreitet oder gar diskutiert. Man hatte ‚einfach‘ andere Probleme wie zum Beispiel den Gegensatz der Konfessionen, die Einigung der deutschen Nation, die Seuchen, Kriege, die Sorge um die materielle Sicherung der Familie etc.
     
    Las man aber Luther, oder beschäftigte man sich mit ihm, stieß man auf seine vor allem negative Einschätzung der Juden und die bestätigten dann den alten deutschen Antijudaismus, den fast jede christliche Familie in Deutschland, als Erbe der eigenen Vorväter gleichsam, hegte bis in neuere und neueste Zeiten.
     
    Es konnte also zu keiner Änderung im deutschen Denken und Fühlen kommen, da, anscheinend der Fürst, der Herzog, der König, der Kaiser, der Staat und die Kirche zunächst vordergründigere ‚Sorgen‘ hatten, später die Bewahrung eines unbefleckten Lutherbildes für wichtiger hielten als eine breite Aufklärung.
     
    Denken Sie daran, dass für viele Menschen auch heute noch die Religion eine wichtige Stütze im Leben darstellt. Und Religionen stützen sich nun mal auf Mythen (Was wäre eine Religion ohne einen Mythos?). Den Luther-Mythos zu pflegen war/ist protestantischen Geistlichen und Bischöfen nicht nur ein Anliegen, sondern es sichert ihnen den Lebensunterhalt samt des hohen Lebensstandards, der für sie unverzichtbar geworden ist. Somit wird von ihnen auch kaum ein Abbau der (Luther-)Mythen zu erwarten sein. Dieser kann nur von der Basis ausgehen, oder von außen.
     
    Ein Umdenken auf breiter Basis führt darüberhinaus  zu einer gewissen (von staatlicher Seite unerwünschten) Verunsicherung bei größeren Bevölkerungskreisen. Damit einher geht, so die Sorge der Herrschenden, in einer arbeitsintensiven Gesellschaft wie der unseren eine Ablenkung von unserem höchsten Gut, der Arbeit. Da aber Arbeit Geld ist und der Materialismus als der eigentliche deutsche ’spiritus vitae‘ gilt, werden deutsche Regierungen auch wirklich Alles unterlassen, was ein breites Umdenken einleiten könnte, selbst angesichts unserer so einmaligen Geschichte eines eliminatorischen Antisemitismus‘.
     
    Ein weitere Grund, warum sich keine Änderung (im Bewußtsein auf breiter Front) abzeichnet und abzeichnen kann, ist der, dass die deutsche Bevölkerung in etwa zwei gleich große Lager gesteilt ist, in ein katholisches und ein protetstantisches. Die Ironie, oder sollte man sagen die Tragik, der deutschen Geschichte (und Gegenwart) will es, dass beide Lager schwere Sünden auf dem Kerbholz haben, dass beide Lager um die Sünden des jeweiligen anderen bestens informiert sind und dass beide Lager nach Abwägung der Sachlage zu dem Ergebnis gekommen sind, lieber den ’status quo‘ aufrecht zu erhalten, als mit der moralisch berechtigten und notwendigen Anklage gegenüber dem anderen zu beginnen.
     
    RS

  20. @E.  Schulz und die Teilnehmer der Diskussion

    “Doch nicht, weil sie täglich jene Bemerkungen von Luther lasen und wortgetreu übernahmen, die hier so hochgespielt werden. Das wäre denn doch allzu simpel”
    “Daß Luther perfekt war und in allen Dingen recht hatte, würde heute auch kaum ein  Protestant behaupten. Wie es bei jedem anderen Menschen ebensowenig der Fall ist.”

    Was man aber mit Sicherheit behaupten kann – vorausgesetzt die Person Jesu sei dieser Gesinnung gewesen und nicht auch teilweise von abgrundtiefem Hass bestimmt – ist, daß Luther mit seinen Worten über und gegen Juden nicht “im Geiste”, dem “heiligen” nämlich, stand. Gerade unter Protestanten gilt ja die Schrift- oder Wortgläubigkeit oder die Schrift als Autorität. DIE Schrift, die Luther per Übersetzung zur deutschsprachlichen Norm erhob.
    Problem dabei: Luther hat erst die Bibel übersetzt und das, so die Verlautbarungen seiner Anhänger, “im Geiste”. Und dann seine bösen Worte veröffentlicht. Also später! Als schwer empfinde ich die Vorstellung, Luther sei im Geist gewesen und dann davon abgefallen. Also war er zur Zeit der Reformation nicht “im Geist”.  Das macht ja nun nichts, dann war er eben Mensch wie Du und Ich und damit fehlbar und widersprüchlich. Wird er sympathisch dadurch. Dann aber, gerade dann, verliert das Lutherbild jeglichen Anspruch auf Autorität und damit wäre diese ganze Diskussion hier auch zu beenden, denn wo keine höhergestellte Autorität, da auch keine Möglichkeit sich auf diese zu berufen, im Guten wie im Bösen. Dann bleibe nur ich übrig, nicht als Autoriät für andere, doch aber als Urheber meiner Taten. Schwupps wirds doch wieder ganz protestantisch! Das Gewissen.
    Bei allen Überlegungen, in dieser Diskussion oder irgendwo sonst gilt letztendlich und gültig:
    Niemand kann geistiger Brandstifter sein, wo ihm nicht gehorcht wird und sich nicht einer auf ihn beruft. Weder Luther noch sonst ein Mensch!
    Widerstand und Ungehorsam, waren das Werte Luthers???

  21. „Das wäre weniger das Problem, wenn er es dabei belassen hätte, anstatt mit tiefsten Judenhass und mit Gewaltaufrufen zu reagieren, der vielen Mördern den Weg bereitet hat und es auch heute noch tut.
    Natürlich konnte Luther nicht voraussehen was nach ihm kam, aber mit christlicher Nächstenliebe, auf die sich Christen immer wieder gern berufen wird, hat das nichts zu tun. Er war ein entscheidender Wegbereiter des eleminatorischem Antisemitismus.“

    Man kann es sich schon sehr einfach machen.
    Die Lutherzeit stellt den Umbruch vom Mittelalter zur frühen Neuzeit dar. Schon vor diesem Hintergrund wäre es doch recht naiv, davon auszugehen, daß die mittelalterlichen Legenden über Juden und die dementsprechenden Zuschreibungen auf einen Menschen, der im frühen 16. Jahrhundert wirkte, keinen Einfluß gehabt hätten.
    Daß Luther perfekt war und in allen Dingen recht hatte, würde heute auch kaum ein  Protestant behaupten. Wie es bei jedem anderen Menschen ebensowenig der Fall ist. Aber hier wird einzelnen Schriften und Äußerungen, die überhaupt nicht den Kern von Luthers Werk ausmachen, eine schier übermächtige Bedeutung zugeschrieben.
    Viel interessanter und weiterführender wäre die Frage, weshalb in der späteren Neuzeit das Erbe des wechselseitigen religiösen Hasses nicht überwunden werden konnte. Von Menschen, die keineswegs mehr in der mittelalterlichen Ãœberlieferung verfangen waren und mehrere hundert Jahre später lebten. Doch nicht, weil sie täglich jene Bemerkungen von Luther lasen und wortgetreu übernahmen, die hier so hochgespielt werden. Das wäre denn doch allzu simpel …
     
     

  22. Noch ein Nachtrag zum Thema Luther und Sinti:
     
    Ich möchte auf einen Brückenschlag zwischen der Situation der“Zigeuner“ auf der einen und der Juden auf der anderen Seite hinweisen.
     
    In Israel erschien 1998 ein wohlrecherchiertes Werk, welches ich jedem Interessierten empfehlen kann. Sein Autor, Dr. Gilad Margalit, Professor für Geschichtswissenschaften (Schwerpunkt Deutschland 19. und 20. Jh.) an der Universität Haifa, ein profunder Kenner der deutschen Minderheitengeschichte, klärt hier faktenreich und gut verständlich auf.
    Deutsche, die des Hebräischen nicht mächtig sind, brauchen auf diese Lektüre nicht zu verzichten, denn 2001 erfolgte unter dem Titel „Die Nachkriegsdeutschen und ‚ihre Zigeuner‘ – Die Behandlung der Sinti und Roma im Schatten von Auschwitz“ die Herausgabe des Buches auch in deutscher Sprache (Metropol Verlag Berlin, ISBN 3-932482-38-7)
     
    Ich gebe einen knappen Abschnitt, in dem auf Luther Bezug genommen wird, wieder. Er schließt das in einem früheren Kommentar von mir bereits zitierte Lutherpredigtwort von 1543 ein.
     
    Gilad Margalit, S. 30f:
    „Die Verwendung des Begriffs ‚Heiden‘ als Synonym für Zigeuner war Ausdruck dafür, dass die christliche Gesellschaft das christliche Glaubensbekenntnis der Zigeuner nicht ernst genommen hat. Sebastian Münster postulierte in seinem Buch ‚Cosmographia Universalis‘ (1550), es sei ‚keine Religion bei ihnen, obschon sie ihre Kinder unter den Christen taufen lassen.‘ Zur Konsolidierung dieser Ansicht trug die Beschäftigung der Zigeuner mit Schwarzer Magie und Wahrsagerei bei, die die Kirche unabhängig von der Herkunft der Ausübenden systematisch bekämpfte, da man beide ‚Künste‘ als Ausdruck einer Verbindung mit den Kräften des Satans wertete. In diesen Bereich fällt auch die dunkle Hautfarbe der Zigeuner, die in Europa schlicht als schwarz betrachtet wurde und in der europäischen Volkskultur als Farbe des Satans und des Bösen schlechthin galt. Andererseits ist darauf hinzuweisen, dass die katholische Kirche und die protestantischen Kirchen in Europa die Zigeuner nie wegen ihrer Tätigkeiten verfolgten. Dies gilt auch für die Haltung der spanischen Inquisition gegenüber den Zigeunern  im 16. und 17. Jahhundert. Der Einfluss der Kirche auf die öffentliche Meinung war in dieser Hinsicht jedoch ziemlich beschränkt. Obwohl Martin Luther die Wahrsager unter den Zigeunern als Lügner brandmarkte, bestand innerhalb der christlichen Gemeinschaft weiterhin eine Nachfrage nach ihren magischen Fähigkeiten in den Bereichen Handlesen, Wahrsagerei, Segnung und Heilung. Sogar der bekannte Arzt und Alchemist Paracelsus räumte ein, daß man von den Zigeunerfrauen Schwarze Magie lernen könne, und er schätzte die Handlesekunst sowie andere Zigeunertraditionen.
    Das den Zigeunern anhaftende Image unmoralischer Menschen ohne Werte ist nicht nur auf die Vorhalte des Betrugs, Diebstahls und Raubs zurückzuführen. Luther behauptete, Zigeuner ließen ihre Kinder öfter taufen, um mehrere Geschenke ihrer christlichen Paten zu erhalten. In einer Predigt im Jahre 1543, in der er die Juden mit den Zigeunern verglich, behauptete Luther, dass Juden wie Zigeuner darauf aus seien, ‚die Leute zu beschweren mit Wucher, die Länder zu verkundschaften und zu verraten, Wasser zu vergiften, zu brennen, Kinder zu stehlen und anderer allerlei meuchel Schaden zu thun‘. Luthers Worte scheinen das Stereotyp des Juden als des ‚Anderen‘ gleichsam auf den Zigeuner zu übertragen. Die Schilderungen über Zigeuner, die Anschuldigungen gegen sie und die ihnen anhaftenden Beinamen deuten darauf hin, dass sie in gewisser Ähnlichkeit zu den Juden schon in einem frühen Stadium, als sie noch als Fremde und ‚Andere‘ eingestuft wurden, mit der Abgrenzung zur Festigung der deutschen Identität beitrugen. Die Attribute des Zigeunerbildes verkörpern jedenfalls das pure Gegenteil jener Zuschreibungen, die die deutsche Gesellschaft als Teile ihrer Identität betrachtete: Sesshaftigkeit, Christentum und weiße Hautfarbe als Sinnbild der moralischen Reinheit. Auf diesem Stereotyp, das sich im Laufe der Jahrhunderte zu einem Bestandteil des Kollektivgedächtnisses herausbildete, baut eine negative Definition der deutschen Identität und der Zugehörigkeit zum deutschen Kollektiv auf. Die Betrachtung des Zigeuners als ‚Anderer‘ besteht bis heute und trägt zur Zementierung des Stereotyps bei.“
     
    Dr. Margalit nennt als Quellen für diesen Abschnitt u.a.: Martin Luther, Vom Schem Hamphoras und vom Geschlecht Christi, Weimarer Lutherausgabe, Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe, Weimar 1883, Bd. 53, S. 613 und die Dissertation:
    Wilhelm Ebhardt, Die Zigeuner in der Hochdeutschen Literatur bis zu Goethes „Götz von Berlichingen“. Göttingen 1928, S. 32ff
     
    RS
    PS: Danke, jim!

  23. „Ein zweiter Teil wird beizeiten die Würdigung des Themas in weiteren Kompendien untersuchen; ich bitte noch um ein wenig Geduld.“
     
    Bin schon sehr gespannt, Schlicke, und bei der Gelegenheit – Danke und großes Kompliment für Deine Arbeit – excellent!

    .

  24. Wie Protestanten und Katholiken im Laufe der Jahrhunderte und heute (!) mit Sinti und Roma umgingen/umgehen kann man folgendem Werk entnehmen:
     
    „Die Stellung der Kirchen zu den deutschen Sinti und Roma“, Beiträge zur Antiziganismusforschung Band 5, (Hg.) Udo Engbring-Romang und Wilhelm Solms, Marburg 2008
    ISBN 978-3-939762-02-7
     
    RS

  25. @Rembremerding
     
    Hegen Sie allen Ernstes große Hoffnung, dass die NDB sich nicht dem feigen Konsenz der anderen genannten, deutschen Nachschlagewerke gebeugt haben könnte?
     
     
    Ein zweiter Teil wird beizeiten die Würdigung des Themas in weiteren Kompendien untersuchen; ich bitte noch um ein wenig Geduld.

    RS

  26. Warum fehlt die Neue Deutsche Biographie als wichtigstes biograph. Nachschlagewerk in der Ãœbersicht?

    Und warum

  27. Wenn wir gerecht sein wollen, müssen wir anerkennen, dass die Konsequenzen nicht ausschließlich für Juden, sondern auch für “Zigeuner” tödlich waren.
     
    Ja – und, verschiedenen Orts, immer noch tödlich sind. Diese Ablehnung ist sozusagen ererbtes Kulturgut – bis heute!
     
     

  28. @Schulamith
     
    Nun, für andere hatte es nicht die tödlichen Konsequenzen wie gerade  für Juden, das ist ein entscheidender Unterschied.
     
    In seiner 1543er Predigt vergleicht Luther Juden mit „Zigeunern“ und behauptet, beide Minderheiten seien darauf aus „die Leute zu beschweren mit Wucher, die Länder zu verkundschaften und zu verraten, Wasser zu vergiften, zu brennen, Kinder zu stehlen und anderer allerlei meuchel Schaden zu thun“.
     
    Wenn wir gerecht sein wollen, müssen wir anerkennen, dass die Konsequenzen nicht ausschließlich für Juden, sondern auch für „Zigeuner“ tödlich waren.
    RS

  29. „Luther hat das Judentum als zeitlich überholte Religion betrachtet und dies anhand von Beispielen belegt. Man kann diese Meinung teilen oder dies nicht tun.“

    Das wäre weniger das Problem, wenn er es dabei belassen hätte, anstatt mit tiefsten Judenhass und mit Gewaltaufrufen zu reagieren, der vielen Mördern den Weg bereitet hat und es auch heute noch tut.
    Natürlich konnte Luther nicht voraussehen was nach ihm kam, aber mit christlicher Nächstenliebe, auf die sich Christen immer wieder gern berufen wird, hat das nichts zu tun. Er war ein entscheidender Wegbereiter des eleminatorischem Antisemitismus.
     
    „Spott und die Angriffe gegen die Protestanten in dieser Zeit ansehen, um eindeutig feststellen zu können, daß diese Angriffe in keiner Weise “feiner” waren.“
     
    Nun, für andere hatte es nicht die tödlichen Konsequenzen wie gerade  für Juden, das ist ein entscheidender Unterschied.
     

  30. Man wird nie zu einer realistischen Einschätzung zeitgenössischer Schriften kommen, wenn man diese nicht mit den Schriften der Gegenparteien vergleicht und sie in einen gemeinsamen Kontext stellt.
    Glaubt tatsächlich jemand, daß im frühen 16. Jahrhundert religiöse Streitschriften in einer anderen Art veröffentlicht wurden, als die erwähnte Schrift von Martin Luther? Man muß sich doch nur einmal den Spott und die Angriffe gegen die Protestanten in dieser Zeit ansehen, um eindeutig feststellen zu können, daß diese Angriffe in keiner Weise „feiner“ waren.
    Luther hat das Judentum als zeitlich überholte Religion betrachtet und dies anhand von Beispielen belegt. Man kann diese Meinung teilen oder dies nicht tun. Es ist letztlich der typische  Aufstand der Jugend gegen das Alter.
    Es kann jedoch als sicher gelten,  daß Luther gegen den Mißbrauch seiner Lehre ebenso Protest erhoben hätte, wie zu seinen Lebzeiten …
     
     

  31. @Elisabeth,
    diese Seite Luthers ist durchaus bekannt, wird aber meist verdrängt und kleingeredet. Aber klar ist natürlich schon, dass Luthers Antisemitismus in keiner Weise normativ für die Kirche von heute ist.
    Dennoch ist es natürlich so, dass wenn man sein Buch „Ãœber die Juden und ihre Lügen“ (zigtausend Google-Treffer besagen übrigens nichts über das tatsächliche Vorhandensein des Originaltextes im Netz – abgesehen von einer Neonazi-Website, wo man allerlei indizierte Bücher findet.) gelesen hat, nicht mehr verstehen kann, warum es bei uns noch Lutherstraßen gibt, oder Luther unlängst als „Größter Deutscher“ beim ZDF zur Wahl stand.

  32. es ist total schockierend wie Luther sein Hasstiraden niederschrieb und gleichzeitig zur Gewalt aufrief. Diese Seite Luthers ist in der evangelischen Kirche leider nicht bekannt. Ich finde es absolut entsetzlich.
    Was die Sache mit dem Tod Jesu betrifft, unschuldig waren da die Römer auch nicht denn sie setzen es um. Die römischen Kaiser hatten damals den Titel Pontifex Maximus. Die Päpste verstehen sich wohl der Fortbestand des römischen Imperiums. Sie nennen sich ja Pontifex Maximus. (größter Brückenbauer)
    Der Papst soll die Klappe halten und Israel in Ruhe lassen und nicht mehr dorthingehen, sondern sich endlich entschuldigen für den Holocaust die Kreuzzüge und alles Böse was die Kirche getan hat.
    Allerdings gibt und gab es immer auch liebe Christen die ich als Vorbild betrachte für mich.  Corrie ten Boom die mit ihrer Schwester Betsie zusammen ihr Leben aufs Spiel setzen um Juden zu verstecken, während der Holocaustzeit. Betsie starb im KZ. Corrie überlebte, es gibt da ein Ballett you are my hiding place, was von ihr handelt.

  33. „Das Wesen des Antisemitismus besteht nicht darin, dass er die Juden alle ausrotten will. Antisemitismus ist auch, wenn man eine ethnische Säuberung befürwortet, also die Deportation aller Juden aus Europa nach Palästina, wie bereits von Luther gefordert.
    Das Wesen des Antisemitismus ist immer rassistisch und geht davon aus, dass die Juden als Volk von Geburt an verstockt (nicht missionierbar s.o.) und durch ihre Ideologie (sic!) aufgefordert seien, alle Nichtjuden zu belügen, betrügen und töten. Zudem habe Gott sie verdammt wegen der angeblichen Ermordung von Jesus.
    Genau dieses Denken findet sich bei Luther und ist von Hitlers Ideologie nur insofern zu unterscheiden, dass Luther noch die Vertreibung der Juden nach Palästina forderte, während Hitler davon ausging, dass das nicht reicht.“

    Sehr interessante Gedanken, die denjenigen, die den vertriebenen Juden „nicht einmal“ einen Teil „Palästinas“ gönnen (sondern nur den Tod) vielleicht doch zu denken geben sollten…. sofern sie nicht zu sehr von ihrem Hass verblendet sind, ansonsten sei G“tt ihrer Seele gnädig…

  34. „Verdienst Luthers“
    Luther ist tot. Sollte er also Verdienste haben, wozu könnten sie ihm JETZT nütze sein?
    Wer der jetzt Lebenden ist im Stande zu entscheiden, worin ein Verdienst besteht? Luthers Reformation bestand darin, Gnade nicht abhängig sein zu lassen vom Verdienst! (Sola fide…) Sollten die der heute Lebenden also die „göttliche“ Eigenschaft ihr eigen nennen, über Verdienst und damit – so protestantisch leistungsfixiert wie irgend – über Wert der historischen Person Luther zu entscheiden (richten), so befinden sie sich – schön widersprüchlich – ganz im Gegensatz zur Gnade, die Luthers Sehnsucht war. Da Luther ja tot ist, ist eine posthume Rechtfertigung seiner Person, wenn nicht anmaßend so doch sinnlos. Es geht ja nicht um ihn, sondern um das persönliche Selbstverständnis heute lebender Protestanten. Die wollen ja die besseren Christen sein (gegenüber Katholiken) und da paßt so ein schwarzer Fleck schlecht aufs weiße Hemd. Vielleicht wäre es an der Zeit, zur Erleichterung des jetzigen Lebens, das eigene Selbstverständnis von ideologischer Ausrichtung (Konfession) zu lösen und damit auch von der Autorität einzelner Subjekte, sei es der tote Luther, sei es der kontinuierlich reinkarnierende Stuhl Petri. Schließlich konnten sich AUCH die Mörder auf Luther berufen!

  35. Hallo Herr Scheunert,
    Sie schreiben:
    >> Antijudaismus und Antisemitismus (zwei eng miteinander verwobene aber doch unterschiedliche Ideologien – der Antijudaist will den Juden bekehren, der Antisemit will ihn – in letzter Konesequenz – umbringen) <<

    Luthers Antisemitismus (sic!) resultiert doch aber gerade aus seiner Erfahrung, dass sich die Juden nicht „bekehren“ lassen, dass sie also „integrationsunfähig“ sind, wie man heute sagen würde.

    Das Wesen des Antisemitismus besteht nicht darin, dass er die Juden alle ausrotten will. Antisemitismus ist auch, wenn man eine ethnische Säuberung befürwortet, also die Deportation aller Juden aus Europa nach Palästina, wie bereits von Luther gefordert.

    Das Wesen des Antisemitismus ist immer rassistisch und geht davon aus, dass die Juden als Volk von Geburt an verstockt (nicht missionierbar s.o.) und durch ihre Ideologie (sic!) aufgefordert seien, alle Nichtjuden zu belügen, betrügen und töten. Zudem habe Gott sie verdammt wegen der angeblichen Ermordung von Jesus.

    Genau dieses Denken findet sich bei Luther und ist von Hitlers Ideologie nur insofern zu unterscheiden, dass Luther noch die Vertreibung der Juden nach Palästina forderte, während Hitler davon ausging, dass das nicht reicht.
     

  36. Seit Jahren beschäftige ich mich als Konfessionsloser Bürger mit Martin Luther, pflege auch einen sehr intensiven Kontakt zu Lutheriden. Das man sich aus Feigheit vor einer öffentlichen Auseinandersetzung mit der negativen Hinterlassenschaft von M.L. drückt, ist mehr als bedauerlich. Bedauerlich finde ich auch, dass man hauptsächlich über sein Verhältnis zu den Juden  spricht und dabei seine Einstellungen gegenüber behinderte Menschen unbeachtet lässt. Ich finde jedenfalls, dass beide Problemfälle einen tiefen Einblick in den tatsächlichen Charakter von M.Luther widerspiegeln. Ich kann auch Meinungen nicht akzeptieren, welche die damalige allgemeine Einstellung gegenüber Juden und Behinderte als Grund angeben. Bekanntlich gab es zu jener Zeit auch positivere Ansichten als die von M.Luther. Aber wahrscheinlich darf nicht sein was unbequem ist.

  37. Danke für die Klarstellung, sehr geehrter Herr Scheunert.
    Die Verwendung des Wortes „Papisten“ geschah nicht in ‚Schimpf‘-Absicht, sondern zur Abgrenzung, etwa gegenüber den Altkatholiken.
    Ich freue mich sehr, dass Sie ganz offensichtlich nicht dem Ruf des Papstes (jüngst ergangen in Richtung Anglikaner) folgen und die stetig lichter werdenden Reihen der römischen Katholiken um einen weiteren Konvertiten bereichern werden.
    Den Luther-Film habe ich gesehen und den von Ihnen genannten Mangel gleichfalls mit Unmut zur Kenntnis genommen. Früher, so ab den 1950er Jahren, war es in diesem Lande üblich sämtliche ‚kritischen‘ (deutschunfreundlichen) Szenen aus ausländischen Filmen rauszuschneiden bzw. durch Phantasieübersetzungen der Originaldialoge so zu verändern, dass sich Otto oder Erna Deutschke nicht in ihrem Selbstverständnis verletzt fühlen mussten; vielleicht wurde im Till-Film ähnlich mit den Judenszenen umgegangen… ? Jung, Steinmeier und Guttenberg heucheln, Lexika, Geschichtsbücher, Biografien heucheln – warum also nicht auch die Filmverleiher.
     
    Schön, dass wir in Vielem übereinstimmen.
    Ein gutes Neues Jahr!
    RS

  38. Um Gottes Willen Herr Schlickewitz,

    Sie haben mich in Sachen Konversion völlig missverstanden. Es gibt gewichtige Gründe, aus denen ich mich auf gar keinen Fall der katholischen Kirche anschließen werde! Genannt seien hier vor allem die Haltung des offiziellen Katholizismus (und ich möchte Sie bitten, nicht das Schimpfwort „Papisten“ zu benutzen) zu allem, was mit Sexualität zu tun hat, und letztlich noch wichtiger, die extrem undemokratische Hierarchie der katholischen Kirche.
    Was die Haltung der Katholiken im Allgemeinen zu den Juden angeht, habe ich mich auf deutsche Verhältnisse bis Ende des 2. Weltkriegs konzentriert – zugegeben, eine etwas verkürzte Sichtweise, wenn man den Antisemitismus in katholischen Ländern wie Polen, Österreich oder auch Frankreich (wo die Protestanten aber auch nur kleine Minderheiten sind) in Betracht zieht, da haben Sie schon recht. Und natürlich ist mir die Aussage des deutschen Vorsitzenden der unseligen Pius-Brüder noch im Gedächtnis, der auch sämtliche heute lebenden Juden als schuldig am Tode Jesu ansieht, solange sie sich nicht zu diesem bekennen.  Der Katholizismus ist natürlich – bis zur Reformation sogar in Monopolstellung – schuldig geworden gegenüber den Juden (Kreuzzüge, Vertreibung aus England, Frankreich, Spanien und Portugal).
    Aber der genuin deutsche völkisch-nationalistische Gedanke (der sich während des Kulturkampfes im 19. Jahrhundert auch gegen die „Papisten“ wandte) setze sich stärker in den protestantischen Regionen fest. So erzielten etwa die Nazis im März 1933 ihre besten Ergebnisse in Ostpreußen, Pommern und Schleswig-Holstein und ihre schlechtesten im Raum Köln/Aachen. Bemerkenswerterweise stammten allerdings die höchsten Naziführer (die beiden H. und die beiden G.) aus urkatholischen Regionen.
    Da es  in Ihrer Untersuchung um Aussagen zu Luthers judenfeindlichen Aussagen ging, habe ich mich auf die Verhältnisse in seiner (und meiner) Kirche konzentriert. Dass die evangelisch-lutherische Kirche (wie durchaus auch die römisch-katholische) ihre Leichen im Keller vor großem Publikum äußerst zurückhaltend behandelt, da gebe ich Ihnen recht. Auch die (unabhängige???) Filmindustrie macht es übrigens nicht besser –  ein Beispiel dafür ist der 2003 erschienene und vielgelobte Film „Luther“ von Eric Till, in dem die judenfeindlichen Ausfälle des Reformators komplett ausgeblendet bleiben.
    Dass also die auf höherer Ebene gewonnenen Erkenntnisse über die eigenen dunklen Punkte in Sachen Antijudaismus und Antisemitismus (zwei eng miteinander verwobene aber doch unterschiedliche Ideologien – der Antijudaist will den Juden bekehren, der Antisemit will ihn – in letzter Konesequenz – umbringen)  unters Volk gebracht werden, ist Sache der Gemeindearbeit, da haben Sie vollkommen recht, und diese Verpflichtung nehme ich mir zu Herzen.

    MfG, Volker Scheunert

  39. Neben seinen unbestreitbaren dunklen Punkten hat Luther aber auch einige Verdienste aufzuweisen.
    Dem als sehr tolerant bekannten Judentum sei dank für diese Information am christlichen Heiligen Abend, der Geburt GOTTES Sohn.

  40. @Volker Scheunert
     
    Es war auch für die evangelische Kirche wohl ein schmerzvoller Prozess, sich diesen dunklen Punkten Luthers zu stellen…
     
    Sehr geehrter Herr Scheunert,
    gestellt hat sich die evangelische Kirche dieser Thematik nur in ihren höchsten und intellektuellsten Kreisen, ohne dass dabei allzuviel an die Basis durchgedrungen ist. Mir liegt die diesbezügliche, zum Teil von echter Einsicht zeugende und intelligente, Literatur vor und ich habe sie aufmerksam untersucht. Aber, was nützen diese Erkenntnisse ‚höheren Orts‘, wenn der ‚gewöhnliche‘ Lutheraner von ihnen so gut wie unberührt bzw. unbeeindruckt bleibt? Meine Befragungen von Protestanten in meinem Bundesland Bayern ergaben, dass das Wissen um die Zusammenhänge (Luther/Juden) schlecht bis oberflächlich zu beurteilen ist, dass weiterhin massiv verdrängt wird,  und, dies zur Erwiderung an den Kommentator „ego“  – dass sich sehr viele Mitmenschen auch heute noch in Nachschlagewerken informieren wollen, auch deshalb, weil ein Lexikoneintrag nicht morgen bereits verändert/aktualisiert/nicht mehr abrufbar etc. sein kann, sondern etwas Bleibendes, Verlässliches und (generell anerkannt) Zitierfähiges besitzt.
    Da aber, wie in meinem Beitrag oben zu lesen, auch neueste und angesehene Nachschlagewerke weiterhin dazu tendieren zu verschweigen, scheint der endgültige Reflexionsprozeß hierüber doch noch auf sich warten zu lassen und sollte man von einem „Sichgestellthaben“ auf breiter Ebene lieber nicht sprechen.
     
    Ihre ‚Inschutznahme‘ der katholischen Kirche ist zwar aus Ihrem Argumentieren heraus begreiflich, dennoch bitte ich Sie die gesamte römisch-katholische Unheilsgeschichte in Bezug auf Frauen, Juden, Sinti und Homosexuelle zu berücksichtigen und so kann, nach eingehender und endgültiger Beurteilung der Geschichte dieser Kirche, Ihr unvoreingenommener Daumen nur nach unten weisen.
    Ich möchte Ihnen daher dringendst nahelegen, davon Abstand zu nehmen, die evangelische Kirche zu verlassen und, nach einer eventuellen Konversion, ausgerechnet bei den Papisten ihr ‚Heil‘ zu suchen. Informieren Sie besser die Protestanten in Ihrem Umfeld und regen Sie dort zunächst Diskussionen, später einen allgemeinen Umdenkprozeß an. Als kritischer Protestant sind Sie  ‚unter Ihren Leuten‘ zu mehr in der Lage, als in einer neuen Umgebung.
     
    Nur wenn wir Deutschen uns ehrlich und ohne Vorbehalte unserer Vergangenheit stellen und neben Benz, Bach und Goethe auch unsere Minderheitengeschichte als zu unserem nationalen Erbe gehörig anerkennen, können wir aus dem Tief heraus, in dem wir schon so lange und scheinbar so hilflos verharren. Unsere Kinder und Enkel werden es uns einst danken.
     
    RS

  41. Neben seinen unbestreitbaren Verdiensten hat Luther auch einige dunkle Punkte aufzuweisen. Seine Hetztiraden gegen die Juden gehören ebenso dazu wie seine Befürwortung von Hexenprozessen und seine einseitige Verurteilung der aufständischen Bauern damals.
    Als evangelisch-lutherischer Christ schmerzen mich diese Ausfälle des Reformators ganz besonders. Es war auch für die evangelische Kirche wohl ein schmerzvoller Prozess, sich diesen dunklen Punkten Luthers zu stellen, zumal es über Jahrhunderte in protestantischen Milieus einen Hang zu völkischen, nationalistischen und antisemitischen Ideen gab, der in der an Rom orientierten katholischen Kirche wohl nicht ganz so stark ausgeprägt war.

    MfG, Volker

  42. In Altavista kommen bei der Eingabe: „von den juden und ihren lügen“ 11.100 Nennungen, Google bringt 1.190.000 (von denen aber Vieles, wie üblich bei dieser Suchmaschine, nicht den Gesamtbegriff behandelt), und Bing zählt 685.000 Ergebnisse, macht es allerdings ähnlich wie Google.
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    Es ist also offensichtlich nicht so, dass das Thema unter den Tisch gekehrt ist, im Gegenteil. Wer sich informieren will, hat es natürlich heute leichter als etwa die Zeitgenossen des Bibelübersetzers Luthers (geboren bald ein halbes Jahrtausend bzw. genau 455 Jahre vor der „Kristallnacht“, die ihm sicherlich gefallen hätte), die sich wohl oder übel auf seine Behauptungen zu bestimmten „Stellen“ in seiner Ãœbertragung verlassen mussten, soweit sie nicht Latein oder gar Altgriechisch beherrschten.
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    Dieses Vakuum nutzte Luther ohne Skrupel aus, erging sich in Andeutungen darüber, dass die den Juden angehängten Ritualmordstories wohl wahr sein möchten, fand die „Judensau“ an manchen Kirchen in Ordnung – und begründete seine Hasstiraden immer mit aus dem Zusammenhang gerissenen, z.T. auch einfach bewusst falsch übersetzten Bibelzitaten: denn so antisemitisch wie Luther ist das „Neue Testament“ selbst im Johannes-Evangelium nun ja doch nicht. Die Klagen der Propheten über den Wandel ihrer Landsleute sind ihm ebenfalls willkommene Munition: total verderbt, diese Juden. Wenn schon ihre eigenen Mahner das sagen…
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    Luther agiert in typisch philosemitischer Manier: wird die ursprüngliche heftige Zuneigung nicht erwidert, schlägt sie ins genaue Gegenteil um.
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    Allerdings macht er es bei den aufständischen Bauern genauso: erst zumindest verhaltene Zustimmung, dann schroffe Ablehnung mit Mordaufrufen (http://de.wikipedia.org/wiki/Deutscher_Bauernkrieg#Martin_Luther), derer er sich bei Juden weitgehend enthält, statt dessen möchte er aber gar zu gern das Judentum (übrigens ähnlich wie die katholische Kirche, deren eifriger Anhänger er als Augustinermönch mit späterer Professur ganz anfänglich ebenfalls war) in seiner religiösen Ausrichtung und überdies wirtschaftlich eliminiert sehen. Schon deshalb konnte Streicher, der offen zum Mord aufrief, sich kaum auf ihn berufen.

    Interessanterweise fand Luther mit seinen „Ausfällen“ zu seiner Zeit zu seinem Leidwesen aber wenig Anklang, ganz anders als bei seiner sonstigen, revolutionären Lehre.

    Und die Protestanten heute? Die müssen damit leben. Es sollte ihnen spätestens im Katechumenen- und dann Konfirmandenunterricht zur Kenntnis gebracht und erläutert werden. Dass den Lehrenden dabei der Spagat zwischen einerseits höchstem Lob und andererseits schärfster Ablehnung derselben Persönlichkeit glaubwürdig gelingt, wäre durch geeignete Hilfestellung der Landeskirchen zu befördern.

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