Christlicher Antijudaismus: „Ritualmordbeschuldigungen“ in deutschen Nachschlagewerken

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Nachdem Ritualmordvorwürfe kürzlich an dieser Stelle anhand ausgewählter Beispiele erörtert wurden, soll heute der Umgang renommierter deutscher Lexikonredaktionen mit diesem Themenkomplex im Laufe der letzten hundert Jahre untersucht werden…

Von Robert Schlickewitz

Meyers Großes Konversationslexikon in zwanzig Bänden, 6. Aufl., Leipzig und Wien 1904/1909 verweist unter „Ritueller Mord“ auf „Blutaberglaube“ und kommt dort zur Sache:

„Blutaberglaube. Die mannigfachen Ideen und Praktiken, die sich auf die vermutliche Kraft und Wirksamkeit frischen Blutes, namentlich des menschlichen, gründen. Die Anschauung, daß im Blute Leben und Seele, Individualität, Kraft und Gesundheit wohnen, daß es das eigentliche Lebensprinzip sei, ist bei allen Völkern ausgeprägt und führte früh zu den Zeremonien der Blutvermischung bei Schließung der Blut- oder Halbbrüderschaft, der Belebung der Schatten durch gespendetes Blut (…) und der Entsühnung von aufgeladener Schuld durch Opferung eines Tieres und Waschung oder Besprengung mit dem vergossenen Blute beim Mithraskult und den Taurobolien. Naturgemäß mußte dabei das Blut unschuldiger Wesen für besonders wirksam gelten, und daher spielen Kinder und Jungfrauenopfer in primitiven Religionsgebräuchen und Sagen (…), eine große Rolle. Dem „unschuldigen Blut“ ward ferner große Wirksamkeit zur Heilung hartnäckiger Krankheiten, wie Aussatz und andrer Hautausschläge (z. B. Elefantiasis), zugeschrieben. Nach der Sage erfolgte der Auszug der Juden aus Ägypten, weil der aussätzige Pharao zu seiner Heilung das Blut von 150 Judenkindern verlangt habe; im Mittelalter kehrt dasselbe Thema in der Sage Konstantins d. Gr. (bei Moses von Chorene und Cedrenus) wieder und bildet das Hauptmotiv in den Dichtungen vom Armen Heinrich, von Amicus und Amelius und in der Hirlandasage. Auch das Menstrualblut, das die Alten und viele Naturvölker für giftig hielten, galt als wirksam gegen Flechten und andere hartnäckige Hautübel. Die Epilepsie glaubte man nur durch einen Trunk warmen Menschenblutes heilbar und suchte im alten Rom das Blut sterbender Fechter aus den Wunden zu trinken, während später das aufgefangene Blut hingerichteter Verbrecher zu einem gesuchten Heilmittel ward. Durch das Blut der sogen. Vampire suchten sich die Angehörigen gegen deren nächtliche Angriffe zu sichern, es spielte in slawischen Gegenden noch während der letzten Jahrzehnte in Leichenschändungsprozessen seine Rolle. Auch viele Morde kleiner Kinder und schwangerer Frauen sind auf ähnliche abergläubische Vorstellungen zurückzuführen.

Einer besonderen Richtung gehört die Beschuldigung fremder Religionsgenossenschaften an, bei ihren Entsühnungsmahlzeiten des Blutes eines gemordeten Menschen (ritueller Mord) zu bedürfen. Im römischen Reich glaubte man, daß bei den Christen jeder neu in die Gemeinschaft Aufzunehmende mit einem Dolche ein unter Opfermehl verborgenes Kind zu töten hätte, worauf alle Anwesenden an dem Bluttrank und der Menschenfleischmahlzeit teilnähmen. Soviel auch Kirchenväter und christliche Profanschriftsteller (Justinus Martyr, Tertullian, Minucius Felix u.a.) sich bemühten, diese ungeheuerliche Zumutung zu widerlegen, folgte doch jeder derartigen Anklage, meist eine blutige Christenverfolgung, bis das Christentum Staatsreligion wurde. War es hier die mißverstandene Abendmahlsfeier, die den Verdacht zuerst erregte, so scheint eine mittelalterliche jüdische Zeremonie, bei der dem Andenken der vom Pharao gemordeten Judenkinder vier Becher Weins gewidmet wurden, den ersten Ansatz zu der Beschuldigung der Juden gegeben zu haben, daß sie jährlich bei ihrem Passahfest einen Christen ermordeten, um sich seines Blutes bei der Feier zu bedienen. Diese Beschuldigung tauchte zuerst bei der Judenaustreibung aus Frankreich unter Philipp II. (1180-1223) auf und kehrte seitdem wieder, wenn irgendwo um Ostern ein junger Mensch verschwand oder ermordet gefunden wurde. Mehrere solcher angeblich von Juden geschlachteter Christenkinder wurden heilig gesprochen, wie der heil. Simon von Trient (1475) und der heil. Werner, dem am Rhein mehrere Kapellen gewidmet sind.

Einen neuen Charakter gewann der B., als nach Anerkennung der Transsubstantiationslehre wiederholt blutartige Flecke auf Hostien als wunderbare Bestätigungen der neuen Lehre betrachtet worden waren, z. B. bei der von Raffael gemalten Messe von Bolsena oder beim Wunderblut zu Wilsnack in der Altmark (1388). Das schon im Altertum häufig beobachtete Auftreten blutroter Flecke an Gebäck und Speisen (…) mag die erste Veranlassung zu dieser Art von B. gegeben haben; fortan traten häufige Beschuldigungen auf, die Juden hätten sich geweihte Hostien zu verschaffen gewußt, um zu sehen, was an dem christlichen Dogma Wahres sei, und hätten so lange mit Nadeln oder Pfriemen hineingestochen, bis reichlich Blut geflossen sei. Die Juden wurden dann eingekerkert, durch Anwendung der Folter zu Geständnissen gebracht und hingerichtet. Auch hierbei bildete eine große Judenverfolgung mehr als einmal das Nachspiel der Prozesse. Unter andern wurden 1510 in Berlin 34 Juden wegen blutender Hostien hingerichtet. Vergeblich erhoben aufgeklärte Päpste, wie Benedikt XII. (gegen das Blutwunder zu Passau 1338) und Ganganelli, ja selbst jüdische Renegaten, wie Pfefferkorn, gegen die wahnwitzigen Anklagen ihre Stimme; sie haben bei dem Aufleben der Judenverfolgungen in Ungarn und Russland, bei den Prozessen von Tisza Eszlar (1882), Korfu (1891), Xanten (1892) und Konitz (1900), überhaupt in den Kreisen fanatischer Katholiken, wie Rohling und Desportes, eine Neubelebung erfahren. Eine große Judenverfolgung war jedesmal die unausbleibliche Folge dieser Beschuldigung, die um so unsinniger ist, da den Juden selbst der Genuß von Tierblut (3. Mos. 17, Vers 10-14) aufs strengste untersagt ist. Vgl. Strack, Das Blut im Glauben und Aberglauben der Menschheit (8. Aufl., Münch. 1900; P. Cassel, Die Symbolik des Blutes (Berl. 1882); Chwolson, Die Blutanklage der Juden (Frankf. 1901).“

(Hervorhebungen des Lexikonautors in kursiver Schreibweise wiedergegeben)

Der Grosse Herder, 5. Aufl., Freiburg 1955:

„Ritualmord, die Tötung von Menschen in Ausübung eines relig. Ritus, bes. um Blut für kultische Zwecke zu gewinnen.

Haltlose Anklage wegen R.s wurde im Altertum gg. die Christen u. bes. seit dem 12. Jh. bis zur Ggw. oft gg. die Juden erhoben u. führten zu blutigen Judenverfolgungen.“

Der Grosse Brockhaus in 12 Bänden, 16. Aufl., Wiesbaden 1956:

„Ritualmord, Ermordung eines Menschen aus rituellen Gründen (>Menschenopfer). Die Römer warfen den ersten Christen R. im Zusammenhang mit dem Abendmahl vor. Später verstand man unter R. besonders den angeblich vom jüdischen Gesetz vorgeschriebenen Mord von Christen zu kultischen Zwecken. Obwohl die Haltlosigkeit solcher Beschuldigung wiederholt erwiesen worden ist, wurde bis ins 20. Jahrh. immer wieder der Vorwurf des R. gegen die Juden erhoben.

H. L. Strack: Das Blut im Glauben und Aberglauben der Menschheit mit bes. Berücksichtigung der Volksmedizin und des jüd. Blutritus (1900); D. Chwolson: Die Blutanklage und sonstige mittelalterl. Beschuldigungen der Juden (1901); A. Hellwig: R. und Blutaberglaube (1913); ders.: Blutlügen (1929); C. Roth: The ritual murders libel and the Jews (New York 1953).“

Meyers Enzyklopädisches Lexikon in 25 Bänden, 9. Aufl., Mannheim u.a. (korr. Nachdruck) 1979:

„Ritualmord,

eine mit kult. oder mag. Zielsetzung vollzogene Tötung von Menschen, die sich vom sakralen Menschenopfer im Hinblick auf dessen Zielsetzung (Hingabe an das Numinose) abhebt und dem Kannibalismus sehr verwandt sein kann. Als R. ist sicher der im Sakralkönigtum weit verbreitete Königsmord anzusehen, der an dem alternden, seiner Kraft verlustig gegangenen Herrscher vollzogen wurde. In sublimierter, nur angedeuteter Form findet sich R. oft im Verlauf von Initiationsriten. – Der Vorwurf des R.es, der von den Römern gegen die Christen und im MA wie im modernen Antisemitismus gegen die Juden erhoben wurde, gehört in den Bereich der Legende.

Literatur: Samuel, M.: Blood accusation; the strange history of the Beiliss case. New York 1966…

Das Goldmann Lexikon in 24 Bänden, Bertelsmann Lexikonverlag, Gütersloh/München 1998 enthält zwar das Stichwort „Ritualmord“, stellt jedoch keinen Bezug zu R.-vorwürfen her.

Brockhaus Enzyklopädie in 30 Bänden, 21. Aufl., Leipzig und Mannheim 2006:

„Ritualmord, eine mit kult. oder mag. Zielsetzung vollzogene Tötung von Menschen…

Geschichte: Im römisch-abendländ. Europa sahen sich oft religiöse Minderheiten ungerechtfertigten R.-Vorwürfen ausgesetzt, so die frühen Christen und seit dem MA bis ins 19. Jh. einzelne Juden wie auch die jüd. Gemeinschaft insgesamt. Seit dem 12. Jh. bildeten absurde antijüd. R.-Beschuldigungen, in Bezug auf angeblich an Christenkindern begangenen Morde, oft den Anlass für christl. Judenverfolgungen und Pogrome bzw. dienten ihrer nachträgl. ‚Begründung‘. Der Ursprung der Blutlegenden und R.-Vorwürfe im MA (als Stereotype des Antijudaismus und Antisemitismus) wird verschieden gedeutet…

Die Legende vom R. Zur Geschichte der Blutbeschuldigung gegen Juden, hg. von R. Erb (1993); R. Po-Chia Hsia: Trient 1475. Geschichte eines R.-Prozesses (a. d. Amerikan., 1997).“

Auffällig erscheint, dass der Brockhaus von 2006, im Gegensatz zu den älteren Lexika die letzen Fälle von Ritualmordbeschuldigungen ins 19. Jh. zurückverlegen möchte und damit die von den deutschen Nationalsozialisten inszenierten sowie den Fall von Kielce/Polen (1946) unterdrückt. Ein bewusster Akt der Täuschung bzw. der Verharmlosung? Oder doch nur Nachlässigkeit?

Ferner – es kommt in keinem der zitierten Lexikonartikel zur Sprache, dass die Ritualmordbeschuldigungen bzw. deren Folgeerscheinungen, der Kult um die Märtyrer, schon früh der Kirche und den jeweiligen christlichen Gemeinden oder Städten erhebliche und hochwillkommene Einnahmen, und dies meist über mehrere Jahrhunderte hinweg, bescherten, denn die zahlreichen Pilger und Wallfahrer waren regelmäßige und großzügige ‚Obolus‘-Spender und ebenso mit barer Münze zahlende Gäste in den Wirtshäusern und Herbergen.

Literatur:
Neues Lexikon des Judentums, (Hg.) J. H. Schoeps, Gütersloh/München 1998, Stichworte: „Ritualmordvorwurf“
K. Schubert, Jüdische Geschichte, München 2007, 6. Aufl.

Bild oben: Der Stürmer, Mai 1939. Die Übersetzung der lateinischen Überschrift lautet: „Sechs Jungen Regensburgs von Juden getötet“