Judenmission: Der fragwürdige Umgang mit einem Tabubegriff

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Besonders deutsche Nachschlagewerke treten gern mit dem Anspruch der Seriosität auf. Das Deutschland der Wissenschaft, der Kultur und der Technik hat tatsächlich einige Errungenschaften vorzuweisen, auf die es mit Recht stolz sein kann. Gerade deshalb jedoch hätte man es sich leisten können auch bei den weniger ruhmreichen Kapiteln, wie etwa bei der vaterländischen Religions- und Sozialgeschichte, ehrlicher mit der historischen Wahrheit umzugehen…

Von Robert Schlickewitz

Aber dazu sind wir Deutschen anscheinend nicht in der Lage. Zwar kritisieren wir selbst mit Inbrunst und Eifer andere Nationen, deren Handeln, deren Eigenarten, deren vermeintliche oder tatsächliche Intoleranz und was noch Alles – nur – Selbstkritik zu üben oder sich Kritik von anderen gefallen zu lassen, liegt uns ganz und gar nicht.

Kritisch sollte man als denkender Mensch mit ‚bon sens‘ aber sein (oder werden), vor allem als Deutscher, angesichts einer Geschichte der Verführungen und falschen Versprechungen durch eine so häufig skrupellose Staatsspitze (Könige, Kaiser, „Führer“, Minister), die mit tödlicher Regelmäßigkeit in Katastrophen mündete. Misstrauen, auch unseren heutigen Politikern gegenüber, ist nicht nur angebracht, sondern sollte Bürgerpflicht sein. Denn häufig genug erwiesen sich gerade deutsche Nachkriegspolitiker als lobbyabhängig oder bestechlich. Auf Halbwahrheiten, Klitterungen, Lügen, regelrechten Betrug stoßen wir auch in anderen Bereichen unseres Alltagslebens, etwa beim Einkauf (Mogelverpackungen, „Bio-“Produkte etc.), im Umgang mit Vorgesetzten sowie Arbeitskollegen und in Geschichtsbüchern bzw. in Lexika.

Ebenso repräsentativ wie jene Lederrücken im bürgerlich-intellektuellen Wohnzimmerregal wirken mögen, so wenig geben sie ein getreues oder nur annähernd reales Bild der Tatsachen wieder – wenn wir sie über Geschichte, Gesellschaft und Religion befragen wollen. Vor allem Religion! Unser deutsches Christentum, so viele grausame Verbrechen es auch zu verantworten haben mag – es bleibt uns ‚heilig‘. Kritik am Erbe der Protestanten oder Katholiken darf auch noch im 21. Jh. nur äußerst behutsam und nur in ‚kleinen Dosen‘ geübt werden. In breiten bundesdeutschen Kreisen reicht es bereits die Namen Deschner oder Goldhagen zu nennen (geschweige denn gar zu zitieren!), um Gehör entzogen zu bekommen, um in eine unbotmäßig-kirchenkritische ‚Schmuddelecke‘ abgedrängt zu werden, um als ‚persona non grata‘ zu gelten. Toleranz mit Religionskritikern im sich für so aufgeklärt haltenden Deutschland der Gegenwart – ein Fremdwort..

Judenmission – über ihre historischen Hintergründe und ihren Eingang in deutsche Volkslieder gab bereits ein vorangegangener Artikel Auskunft. Heute soll die Behandlung dieses Phänomens in deutschen Nachschlagewerken im Verlaufe eines Jahrhunderts untersucht und auf gewisse Tendenzen hingewiesen werden.

„Brockhaus‘ Conversations-Lexikon“ (16 Bde., 13. Aufl., 1884) verweist unter dem Stichwort „Judenmission“ auf den Eintrag „Mission“ und ‚streift‘ unter „Juden“ den Themenbereich Bekehrungsversuche und gewaltsame Bekehrungen im Heiligen Römischen Reich, in England, Spanien, Italien und Preußen mit wenigen Worten.

„Meyers Großes Konversations-Lexikon“ (20 Bde., 6. Aufl., 1905) folgt diesem Beispiel im Wesentlichen und informiert unter seinem Stichwort „Mission“:

Mission (lat.), Sendung, Auftrag; insbes. der Inbegriff aller Unternehmungen, welche die Verbreitung des Christentums unter nichtchristlichen Völkern bezwecken. Die Geschichte der M. fällt zusammen mit der Ausbreitung des Christentums… “

Hierauf folgt ein ausführliches Traktat zu Geschichte und geografischer Ausdehnung der Mission, wobei positive Ergebnisse stolz hervorgehoben werden. Kurz vor Ende erfolgt dann ein knapper Bezug zur Judenmission:

„Höchst dürftige Erfolge weist noch immer die M. unter den Juden auf, die in neuerer Zeit besonders von England aus betrieben wird…“

„Der Große Brockhaus“ (20 Bde., 15. Aufl., 1931) widmet Judenmission einen eigenen Eintrag:

Judenmission, Veranstaltungen zur Bekehrung der Juden zum Christentum. Schon Papst Gregor I. hat um 600 Versuche zur Judenbekehrung unternommen, verbot aber jede gewaltsame Bekehrung. Seine Nachfolger stellten den Juden sogar Schutzbriefe wie zur Sicherung ihres Lebens und Eigentums so auch zum Schutze ihrer Religion aus. Das Mittelalter unternahm verschiedene Versuche der Judenbekehrung durch Schriften, öffentl. Disputationen, auch Gewaltmaßregeln, wie zwangsweise Anhörung von Predigten, Gründung von Studienanstalten zur Erlernung der orient. Sprachen; doch wurden vielfach nur Scheinerfolge erzielt. 1543 errichtete der Stifter des Jesuitenordens Ignatius von Loyola in Rom ein Heim für jüd. Neophyten, und 300 Jahre später gründeten die Brüder Ratisbonne, Söhne eines reichen jüd. Bankiers, eine eigene Kongregation, die Töchter Unserer Lieben Frau von Sion, zur Erziehung israel. Konvertiten, mit Niederlassungen in Paris und Jerusalem.

Von prot. Seite wurden schon im Reformationsjahrhundert gelehrte Beziehungen zu den Juden unterhalten. Das Hallische Institutum Judaicum, ein mit der Universität verbundenes Seminar zur Erforschung der jüd. Sprache und Literatur, blühte von 1728 bis 1760. Im 19. Jahrh. bildete sich zuerst 1809 ein Verein für Judenbekehrung in England; 1826 entstand in Basel der ‚Verein der Freunde Israels‘, 1822 in Berlin die ‚Gesellschaft zu Beförderung des Christentums unter den Juden‘, 1824 die ‚Rheinischwestfälische Gesellschaft‘. Frz. Delitzsch gründete 1870 in Leipzig den evang.-luth. Zentralverein für Mission unter Israel, 1886 ein Seminar zur Ausbildung von Theologen für die J., das Institutum Judaicum in Leipzig. Die Übersetzung des Neuen Testaments ins Hebräische wurde seit 1875 in Hunderttausenden von Exemplaren verbreitet. Obwohl der Antisemitismus auf christl. Seite und der Zionismus auf jüdischer die Bestrebungen der J. hindert, hat diese doch in allen Erdteilen Erfolge zu verzeichnen. Bes. rührig ist die J. in England. In Rußland war u. a. in Odessa ein Zentrum der J. In Kischinew gründete Rabinowitsch eine judenchristl. Gemeinde, die den Glauben an den Messias Jesus und die Feier von Taufe und Abendmahl mit der Beschneidung u. a. jüd.-nationalen Sitten für vereinbar hielt. In Nordamerika, wo die J. mehr von Gemeinden betrieben wird, finden sich in New York, Brooklyn, Boston und Chicago zahlreiche Anstalten und Unternehmungen. In Palästina, wo z. Z. 84 000 Juden sind, stehen 66 Missionare in der Arbeit. Auch nach Afrika, Indien und Australien erstreckt sich die J. In Europa führen die jüd.-christl. Mischehen die Nachkommenschaft der Juden dem Christentum zu. 1927 fanden zum erstenmal in Budapest und Warschau allgemeine und internationale Judenkonferenzen zur Behandlung der einschlägigen Fragen statt.“

In „Der Grosse Herder“ (mehrbändig, 5. Aufl., 1954/55) kommt das Stichwort „Judenmission“ nicht vor und der sehr ausführliche Eintrag „Mission“ erwähnt Juden mit keinem Wort. Auch unter „Juden“ vermeidet dieses betont kirchenfreundlich ausgerichtete Nachschlagewerk jedwede Hinweise, die das propagierte ‚heile‘ Bild vom braven deutschen Christen trüben könnten.

„Der Grosse Brockhaus“ (12 Bde., 16. Aufl., 1955) hingegen führt das Stichwort „Judenmission“ mit einem gegenüber seiner Vorkriegsausgabe veränderten Text eigens an:

Judenmission, die Verkündigung des Evangeliums von Jesus von Nazareth als dem im A.T. verheißenen Messias an die Juden. Theolog. Grundlage der J. ist der christliche Glaube, daß der Alte Bund Gottes mit Israel durch den von Jesus als Mittler gestifteten Neuen Bund (Hebr. 9, 15) abgelöst worden ist, in dem es weder Juden noch Heiden mehr gibt (Gal. 3, 28; Röm. 10, 12; Kol. 3, 11). Nach christl. Glauben ist daher der alte Bund kraftlos geworden und das jüd. Festhalten an ihm Verstockung (Apostelgesch. 28, 25-28), die durch die J. überwunden werden soll. Jedoch stellt die J. die Juden nicht mit den übrigen Nichtgetauften auf eine Stufe, weil das Judentum der volkl. und religiös-theolog. Mutterboden Jesu und des werdenden Christentums war und weil ihm seine Bekehrung als Volk verheißen ist (Röm. 9-11).

Bis zur Reformation gab es nur vereinzelte Ansätze einer J.; im Vordergrund standen die isolierenden und unterdrückenden Maßnahmen von Staat und Kirche (>Judentum). Seitdem haben die evangel. Kirchen sich immer wieder durch eigene Einrichtungen an der J. beteiligt; am bekanntesten geworden ist in Dtl. das von Delitzsch 1886 in Leipzig gegr. Institutum Judaicum (1935 nach Wien, 1938 nach London verlegt, seit 1947 in Münster i. W.).. Auf kathol. Seite wirken seit 1843 die von den Brüdern Ratisbonne gegr. Priester-Missionare und Schwestern Unserer Lieben Frau von Sion (beide Mutterhäuser in Paris). Antisemitismus und Zionismus behindern in gleicher Weise die J.; der Staat Israel lehnt sie ab.

Den neueren Bestrebungen des Zusammenwirkens, wie sie von den seit 1948 entstandenen Gesellschaften für christl.-jüd. Zusammenarbeit verkörpert werden, entspricht auf christl.-theolog. Seite neuerdings eine Bewegung, die ‚zwischen dem Schicksal Israels und der Erfüllung der christl. Hoffnung‘ einen Zusammenhang sieht (umstrittene evangel. Formulierung) und die eigentl. Mission unter den Juden durch Bemühungen zur ‚Wiedervereinigung‘ im ökumen. Sinne ersetzen will (kath. Bestrebungen).“

Ganz entsprechend verfährt die „Brockhaus Enzyklopädie“ (20 Bde., 17. Aufl., 1970):

Judenmission, die Verkündigung des Evangeliums von Jesus von Nazareth als dem im A. T. verheißenen Messias an die Juden.

1) N. T.: So wie die werdende Kirche zunächst nur aus Juden bestand, so galt ihre Missionspredigt auch zuerst den Juden (Apg. 9, 20; 13, 5. 14-52; 14, 1-6 u. ö.). Dieser J. erwuchsen jedoch Schwierigkeiten aus ihrer Grundlage, dem Glauben, daß der Alte Bund Gottes mit Israel durch den von Jesus als Mittler gestifteten Neuen Bund (Hebr. 9, 15) abgelöst worden sei und daß es in diesem Neuen Bund weder Juden noch Heiden mehr gebe (Gal. 3, 28; Röm. 10, 12; Kol. 3, 11). Das N. T. beurteilt demgemäß das Festhalten der Juden am Alten Bund als Verstockung (Apg. 28, 25-28), hält aber an dem heilsgeschichtlichen Zusammenhang der Kirche mit dem Volk des Alten Bundes und am Charakter des A. T. als heiliger Schrift fest, so wie es auch Israels Bekehrung als Volk erwartet (Röm. 9-11).

2) Geschichte. Eine J. als Versuch, die Juden ohne Zwang für das Christentum zu gewinnen, hat die alte und mittelalterliche Kirche kaum gekannt. Soweit sie nicht auf J. überhaupt verzichtete und für Absonderung der Juden von den Christen eintrat, hat sie der J. immer wieder Zwangselemente, etwa die Verpflichtung zum Anhören christlicher Predigten, beigemischt und oft, bes. in Spanien (>Marranen) Übertritte von Juden zum Christentum als Scheinbekehrungen verfolgt.

Auch in der Neuzeit hat die kath. Kirche die J. nach einigen Versuchen im 16. Jh. kaum mehr betrieben. Der einzige bedeutsam gewordene Versuch einer nur religiös eingestellten J. waren die Bestrebungen der Brüder M.-Th. und M.-A. Ratisbonne, die dafür seit 1843 eigene Religiosen-Genossenschaften (Notre Dame de Sion) aufbauten. Das Zweite >Vatikanische Konzil läßt in der Erklärung (1965) über die nichtchristlichen Religionen (>Kirche) die J. in der allgemeinen Predigtpflicht der Kirche aufgehen und will vielmehr das auf dem großen gemeinsamen geistlichen Erbe der Christen und Juden aufbauende gegenseitige Verständnis gepflegt wissen. Dem entspricht es, daß die gesamtkirchlichen Beziehungen zu den Juden nicht von dem theologisch dafür zuständigen Sekretariat für die >Nichtchristen getragen werden, sondern von dem für die Einigung der Christen (>Ökumenismus).

Auf evangelischer Seite hat das Interesse des Pietismus an der heiligen Schrift zu neuen Ansätzen in der J. geführt (Institutum Judaicum Halle 1728), wobei die bleibende Bedeutung der Verheißung betont wurde. Die Emanzipation der Juden hat den Vorgang der Judentaufe ins Zwielicht gerückt, aber zusammen mit der intensivierten Studienarbeit z. B. vom Institutum Judaicum Delitzschianum (gegr. 1870, heute in Münster) hat sie die gegenseitige Kenntnis und die Möglichkeiten der Gespräche zwischen Christentum und Judentum stark erweitert. Die Judenmission hält heute daran fest, auch den frommen Juden zum Glauben an Jesus Christus und in die Gliedschaft in der christlichen Gemeinde einzuladen, sie betont aber stärker die Verantwortung der christl. Gemeinde für die Juden ihrer Umgebung und reduziert die Bedeutung der besonderen Missionsorganisationen.“

Anders ging die Redaktion von „Meyers Enzyklopädischem Lexikon“ (25 Bde., 9. Aufl., 1976/78 korrigierte Auflage) an den Themenkomplex heran:

Judenmission, Bez.. für die christl. >Mission unter den Juden.“

lautet dessen einer knapper Eintrag während wir unter „Mission“ im gleichen Nachschlagewerk lesen:

Mission (lat.:=das Gehenlassen, das Schicken, die Entsendung)…

Alle Religionen mit universalem Anspruch sind zumindest latent missionar. und haben zumeist auch fakt. M. getrieben (Islam, Buddhismus). Darüberhinaus kennt das Christentum, das sich von seinem Ursprung her als eschatolog., alle Grenzen überschreitende Botschaft versteht, einen expliziten M.sbefehl des auferstandenen Christus (Matth. 28, 19f; Apg. 1, 9) und sieht in der M. der Kirche die Weiterführung der göttl. Sendung Jesu in die Welt (Joh. 20, 19). Ziel der M. ist nach ev. wie kath. Verständnis die Sammlung des Gottesvolkes durch Bekehrung und durch ‚Einpflanzung‘ der Kirche unter Nichtchristen. Die Entstehung der >Jungen Kirchen in der Dritten Welt einerseits und der Rückgang traditioneller Christlichkeit im Abendland andererseits haben ein neues Verständnis der M. und der Tätigkeit des Missionars notwendig gemacht. Auf kath. Seite hat das 2. Vatikan. Konzil neue Anstöße gegeben. Im ev. Bereich verteidigen evangelikale M.skreise das traditionelle M.sverständnis gegenüber der Betonung des entwicklungs- und sozialpolit. Engagements durch den Ökumen. Rat der Kirchen. Organisator. liegt die M.sverantwortung in der kath. Kirche beim Papst und den Bischöfen, während die M.skongregation (>Kurienkongregation) für Leitung und Koordinierung zuständig ist, auch außerhalb der ihr unterstehenden Gebiete. Auf ev. Seite wird die frühere Zersplitterung durch Zusammenschlüsse von M.sgesellschaften in größeren Verbänden und regional gegliederten M.swerken zunehmend überwunden. – Juden-M.: Dieser spezielle Zweig der M. ist belastet durch Zwangsbekehrungen und –taufen im MA, aber noch mehr durch den sich zu Unrecht auf Jesu Kreuzigung durch die Juden berufenden Antisemitismus. Die reformator. Kirchen begannen im 17. Jh. mit planmäßiger M.sarbeit, zu deren Förderung bes. Institute (…) gegründet wurden. Verstärkte Bemühungen des Pietismus führten 1844 zur Entstehung der ‚Gesellschaft zur Beförderung des Christentums unter den Juden‘, später zur Gründung weiterer Gesellschaften im In- und Ausland. 1871 sammelte F. Delitzsch viele der bestehenden dt. Organisationen im ‚Ev.-luth. Zentralverein für M. unter Israel‘. Einerseits die Fragwürdigkeit, Juden-M. angesichts von Röm. 11 als M. im übl. Sinn zu verstehen, andererseits die wachsende Selbstsicherheit mit der das Judentum Jesus und das N. T. als Teil der eigenen Geschichte für sich in Anspruch nimmt, führten zum jüd.-christl. Dialog…

Geschichte Bereits im 1. Jh. trat die Juden-M. hinter der Heiden-M. zurück, die beim Diasporajudentum anknüpfte, im Röm. Reich schnelle Fortschritte machte und im 3. Jh. im O bis nach Indien vorstieß…“

Zwei Jahrzehnte später bietet sich ein wesentlich verändertes Bild: Das „Goldmann Lexikon“ (24 Bde., Bertelsmann Lexikon Verlag, 1998) erwähnt die Judenmission weder unter einem eigenen Stichwort, noch in seinen Einträgen „Juden“ bzw. „Mission“.

Die vorerst letzte Auflage der „Brockhaus Enzyklopädie“ (30 Bde., 21. Aufl., 2006) glaubt ebenfalls auf das Stichwort „Judenmission“ verzichten zu können. Zwar erwähnt sie en passant Bekehrungsversuche und Mission unter ihren Einträgen „Judentum“ und „Judenverfolgung“, verzichtet aber auf weitere Erläuterungen. Ein Blick auf das Stichwort „Mission“ hingegen konfrontiert mit teilweise unerwarteten Passagen:

Mission…

2) In der Religionsgeschichte die Verbreitung einer Religion und die Gewinnung von Anhängern für sie. Die Bez. geht zurück auf das Sendungsgelübde (‚votum de missionibus‘) der Jesuiten. Als Begriff, der die Verbreitung des christlichen Glaubens unter Nichtchristen bezeichnete, wurde das Wort ‚M.‘ erstmals 1558 von D. Lainez gebraucht. Später wurde M. auch ein religionswiss. Terminus, mit dem heute jegl. bewusst betriebene Ausbreitung einer Religion über ihre heimatl. Basis hinaus bezeichnet wird. M. im eigentl. Sinn ist dabei, ungeachtet dessen, dass auch Stammes- und Volksreligionen gelegentlich in angrenzenden Gebieten partiell Verbreitung finden können, nur bei solchen Religionen möglich, die als >Universalreligionen ihre religiöse Botschaft universal ausrichten und mit dieser prinzipiell alle Menschen erreichen wollen (>Weltreligionen). Diese Religionen haben M. in sehr unterschiedlichem Maß betrieben: Die asiat. Weltreligionen…

Der Islam…

Die jüd. Religion verzichtet de facto auf M., vertritt jedoch – theologisch an einen universalen Monotheismus gebunden – im Grundsatz ebenfalls den M.-Gedanken. Geschichtlich gab es v. a. in der Spätantike in größerer Zahl Übertritte zum Judentum (>Proselyt); insgesamt bilden sie jedoch in der Geschichte und auch heute (nicht unwesentlich durch die mit dem Religionsübertritt verbundenen Verpflichtungen, u. a. die Beschneidung) beeinflusst, eine sehr kleine Zahl.“

Im nun folgenden Abschnitt „christl. M.“ kommen Judenmission oder Bekehrungsversuche an, bzw. Bekehrungen von Juden nicht vor.

Die Tendenz, die aus den genannten Beispielen ablesbar wird, muss als besorgniserregend und peinlich bezeichnet werden. Anstatt ein Mehr an Information vorzulegen, präsentieren deutsche Lexikonredaktionen von heute ein Mehr an Rücksichtnahme gegenüber den religiösen (und nationalen) Gefühlen einer immer unkritischer und selbstgefälliger werdenden christlichen Klientel. Mehr noch, der Versuch des Brockhaus von 2006 den ‚Bock zum Gärtner‘ zu machen, indem ausführlicher auf den Missionsgedanken beim Judentum als auf die schändlich-schäbige christliche Judenmissionsgeschichte eingegangen wird, ist ein weiterer Beleg für die schier grenzenlose Gedankenlosigkeit einer christlich-deutschen Mehrheitsgesellschaft, die nicht in der Lage oder nicht bereit ist, aus der Geschichte zu lernen. Möge diese Phase der allgemeinen Verdummung in Form von Erziehung zu blindem Nationalstolz und christlich-nationaler Eigenliebe, die wir derzeit durchleben, bald aufgeklärteren Zeiten weichen.

In der Einleitung erwähnte Literatur:
K. Deschner, Ein Jahrhundert Heilsgeschichte. Band I und II. Köln 1982/1983
K. Deschner, Kriminalgeschichte des Christentums, Band 1-8, 1969-2004
D. J. Goldhagen, Die Katholische Kirche und der Holocaust, Berlin 2002

6 Kommentare

  1. Felix,

    Danke für deine äußerst interessanten Anmerkungen und den bestechend alternativen Blickwinkel.

  2. Carl, erst mal vielen Dank für den Hinweis auf den wirklich guten Artikel!
    Ansonsten wollte ich dieses Zitat nur auf die nachkonstantinische Kirche selbst anwenden. Hier wären einige Erklärungen notwendig, wie es überhaupt zum katholischen Verständnis des Priestertums gekommen ist. Das Wort „Priester“ stammt bekanntlich vom griechischen „Presbyter“ = „Ältester“: heute würden wir sie „viri probati“ = „bewährte Männer“ nennen (in der Neuzeit müssten dazu auch Frauen gehören können). Das alttestamentliche Priestertum galt bei den Christen als abgeschafft: „Priester“, genauer „Hohepriester“ heisst im NT „Hiereús“; nur einer ist der Hohepriester der jungen Kirche: Christus (Hebräerbrief). In diesem Sinne ist die junge Kirche grundsätzlich egalitär organisiert: alle Getauften sind „Heilige“ in Christus (Paulus).  Jeder Christ konnte grundsätzlich sogar der Eucharistiefeier vorstehen und das Brot Brechen mit den Erinnerungsworten an Jesus den Gekreuzigten und Auferstandenen. – Je mehr aber im nachkonstantinischen Staatskirchentum die „Presbyter“ im neutestamentlichen Sinn zu „Priestern“ im alttestamentlichen Sinn wurden in einer abgehobenen klerikalen Kaste, umso mehr lassen sich die Weherufe Jesu von Mt 23 auf diese anwenden: die junge Kirche konnte noch mit den Worten Jesu (die kaum zu seinen echten Worten gehören dürften) über die Pharisäer lästern: bei ihnen bestand diese Kaste nicht mehr, später wurden die Kleriker im Grunde selber zu den „Juden“, die sie bis aufs Blut bekämpften…

  3. Selbstkritik liegt uns Deutschen wirklich nicht -  Selbstzerfleischung und Dauerlarmoyanz wären die wesentlich zutreffenderen Begriffe! Wer das nicht erkennt muss wohl in einem anderen Land leben.

    Ansonsten ein sehr gelungener und informativer Artikel.

  4. Felix,

    Das Zitat aus MT 23 ist direkt zur Judenmission hinweisend.
    Ich gehe davon aus, dass dir das nicht bewußt war?

    Pharisäer und Schriftgelehrte werden hier in ein extra schlechtes Licht gesetzt, dass sich im Laufe der Jahrhunderte leider durchgesetzt hat, wie bei vielen anderen anti Judaistischen Vorgaben durch die christl. Kirche.
    Darüber gibt es ebenfalls einen sehr interessanten hagalil Artikel:

    http://juden.judentum.org/judenmission/baeck-1.htm

  5. Diese Zusammenstellung erachte ich als wichtig, erhellend und hoffentlich lehrreich. Ich frage mich, wie diese „Rücksichtnahme“ zu erklären ist: auf wen soll hier „Rücksicht“ genommen werden? Wird der deutsche Papst als judenkritisch wahrgenommen (vgl. seine neue Karfreitagsfürbitte), obwohl er öffentlich immer wieder seine Freundschaft zum Judentum beteuert, und glaubt man, auf ihn Rücksicht nehmen zu müssen (vgl. Aufl. 2006)? Das wäre meines Erachtens nur als Folge eines verhängnisvollen deutschen Obrigkeitsglaubens zu verstehen – hört das denn gar nie auf? In der Schweiz kursiert das amüsant und auch selbstironisch geschriebene Buch „Grüezi Gummihälse“ (damit sind die ständig nickenden deutschen Ärzte in schweizer Spitälern karikiert). Ich kann mir nicht vorstellen, dass speziell christliche Autoren solche Geschichtsvergessenheit pflegen, eher Halbchristen, die gelernt haben, sich in unkritischer „Toleranz“ allem gegenüber zu üben. Solches erleben wir ja gegenwärtig auch in der Sprachzerstörung aus vermeintlich geschuldeter Rücksicht gegenüber den Frauen: es ist überall (auch in der Schweiz) verpönt, von „Studenten“ und „Dozenten“ zu schreiben, weil damit angeblich die Frauen nicht „mitgemeint“ wären, obwohl „studens“ und „docens“ klar m/f/n zu verstehen sind, statt dessen heisst es auch an Universitäten (die es nun wirklich besser wissen sollten!) immer „Studierende“, „Dozierende“. Ist das etwa frauengerechter? – Ähnlich gedankenlos, in den Konsequenzen jedoch wohl gravierender ist Geschichtsvergessenheit aus falscher Rücksicht.

    Es gäbe also viel zu tun: Ursachenforschung und intensive Bewusstseinsarbeit auf allen Ebenen. Ein grosses Lob und Dankeschön an Herrn Schlickewitz für seinen wichtigen Beitrag! Es braucht viel Sensibilität, um solche Tendenzen überhaupt zu entdecken und Gerechtigkeitssinn, um sie gebührend anzuprangern. Bravo!

    Felix Sachs, St. Gallen

    PS. Ich bin selber im Christentum verwurzelt, habe aber grossen Respekt vor dem Judentum. Gleichzeitig wird mir immer deutlicher bewusst, wie weit sich das Christentum als Religion und „Kirche“ von der prophetischen Religionskritik Jesu entfernt hat: „Wehe, ihr Pharisäer und Schriftgelehrten, ihr Heuchler…“ (Mt 23,13-31).

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