Der Amoklauf von Winnenden zeigt, dass tradierte Familienmodelle einer Medienkindheit nicht standhalten. 112 Mal schoss Tim mit einer Beretta. Die Familie des Todesschützen hat jetzt in einem offenen Brief den Angehörigen der Opfer ihr Mitgefühl ausgesprochen…
von Micha Brumlik
Der Amoklauf von Winnenden ist ein Stich ins Herz in mehrfacher Hinsicht. Nicht nur, weil er 15 Lehen und damit ein Mehrfaches an Beziehungen und Hoffnungen ausgelöscht hat. Nein, die Bluttat erschüttert unsere Gesellschaft gerade dort, wo sie sich am sichersten wähnt. Immer wieder wurde in den vergangenen Wochen und Monaten das Hohelied von Mittelstand und Mittelschicht gesungen, dass dort der wahre Reichtum dieses Landes erwirtschaftet wird und die meisten Arbeitsplätze geschaffen werden.
Auch geografisch traf der Anschlag mitten ins Herz: Winnenden liegt dort, wo das bundesrepublikanische Wirtschaftswunder vor 60 Jahren begann, wo sprichwörtlicher Fleiß, Bausparverträge und vor allem Rechtschaffenheit ihr Zuhause haben.
Obwohl noch wenig über Tims Eltern bekannt ist, so heben doch Nachbarn und Bekannte einstimmig hervor, dass sie „rechtschaffene“ Leute gewesen seien. Andere wollen wissen, dass der Jugendliche „behütet“ aufgewachsen ist. „Rechtschaffen“ zu sein – das heißt, den Gesetzen nicht zuwiderzuhandeln und sich an dem zu orientieren, was im eigenen Milieu Brauch und Sitte ist: Männer sorgen für ihre Familie, indem sie sich beruflich betätigen und dabei möglichst viel Geld verdienen. Auch dann, wenn es häufige Abwesenheit von zu Hause erfordert; Mütter arbeiten nicht oder nur aushilfsweise und halten Haus oder Wohnung in Ordnung. Sie regeln den Tagesablauf der Kinder und unterstützen sie mehr oder minder bei ihren Anstrengungen in der Schule. Das bedeutet dann „behütet“. Gewiss: Amokläufe dieser Art geschehen so selten, dass es kaum möglich ist, sie durchgängig zu erklären. Statistiker sprechen hier vom „Fehler der kleinen Zahl“. Wenn eine allgemeine Erklärung nicht möglich ist, bleibt nichts anderes übrig, als die Geschichte, diese Geschichte, möglichst vollständig zu erzählen.
All die negativen Faktoren, über die man inzwischen Bescheid weiß – von den Pornobildern über die aggressionsverstärkenden Computerspiele und die viel zu frühe Vertrautheit mit realen Schusswaffen -, können das Verbrechen von Tim nicht erklären. Auf zu viele andere Jugendliche trifft das Gleiche zu, ohne dass sie zu Amokläufern geworden wären. Aber: Wie viele pubertierende Kinder sind es denn wirklich, die von (und mit) ihren Vätern lernen, mit einer Beretta zielgenau zu schießen? Wenn auch nur ein Zehntel aller in Schützenvereinen organisierten Väter sich so verhielte, es wären zu viele.
Was bedeutet es, wenn ein Vater mit seinem Sohn in der Freizeit schießen geht?
Bei dieser Geschichte drängen sich Fragen auf, die bisher aus Respekt vor den Eltern des Täters kaum gestellt wurden. Was bedeutet es eigentlich, wenn ein Vater, der sonst fast immer arbeitet, die karge gemeinsame Freizeit ausgerechnet dazu nutzt, mit seinem Sohn schießen zu gehen? Was hielt Tims Mutter von dieser Freizeitbeschäftigung? Worüber haben Vater und Sohn während des Trainings (wenn überhaupt) gesprochen? Und es fällt auf, dass über Tims Mutter und ihr Verhältnis zu den Kindern bisher nichts bekannt ist. Der Boulevardpresse lässt sich entnehmen, dass der kleine Junge, als er noch nicht in den Kindergarten ging, oft bei Oma und Opa war. „Die Eltern waren ja viel bei der Arbeit.“ In welchem Alter erhielt Tim seinen Computer? Kontrollierten die Eltern seinen Medienkonsum? Sprachen sie mit ihm wenigstens darüber, was dort über seinen Bildschirm flimmerte? Viele Fragen, wenig Antworten.
Eines aber lässt sich schon jetzt sagen. Jenes Familienmodell, das den enormen wirtschaftlichen Aufschwung der (bundes) deutschen Gesellschaft nach 1945 befördert hat, entspricht nicht mehr den durch Globalisierung und Digitalisierung radikal veränderten Zeitläufen. Vor allem aber hat es nichts mehr gemein mit Kindern und Jugendlichen, die in einer nie da gewesenen „Medienkindheit“ auf wachsen.
Vor mehr als 100 Jahren plädierte die schwedische Erziehungsexpertin Ellen Key in ihrem Schlüsselwerk Das Jahrhundert des Kindes geradezu pathetisch dafür, dass Kinder „hervorgeliebt“ werden müssten. Einige Jahrzehnte später fragte der polnisch-jüdische Reformpädagoge Janusz Korczak: „Wie soll man ein Kind lieben?“ Dieser Gedanke wird heute durch pauschale Forderungen nach mehr Disziplin und „Grenzen setzen“ übertönt. Die Opfer von Winnenden, die unglücklichen Eltern des Attentäters und der Tod des Amokläufers selbst können dazu führen, sich mit neuem Ernst diesen Fragen und den großen Herausforderungen von Erziehung zu stellen.
Micha Brumlik ist Publizist und Erziehungswissenschaftler an der Goethe Universität in Frankfurt am Main.
Was von diesem Brumlik zu halten ist sagt ja schon Broder. Einer der traditionelle Werte verachtet und in eigenes Nest spuckt.
„Den Statistiken nach sind es zwei Länder, in denen solche Kinder-, oder Jugendlichenamokläufe am häufigsten vorkommen.“
Auch wenn natürlich jeder derartige Fall ein Fall zuviel ist… mit derart wenigen Ereignissen „Statistik“ betreiben zu wollen oder gar gesellschaftliche Probleme manifestiert zu sehen – ich halte es für den unseriösen Versuch, aus tragischen Einzelfällen Kapital zu schlagen.
Natürlich gab es schon immer Psychopathen, es werden allerdings nicht zehntausende Jugendliche hier in Sippenhaft genommen und auch die Frage nach dem Nazi-Opa ist in diesem Zusammenhang durchaus gerechtfertigt.
Die Fragen die sich stellen aber, sind die, woher diese Pathologisierung stammt, wie sie entsteht und wie weit sie innerhalb unserer Gesellschaften reicht.
Insofern halt Brumlik auf jeden Fall Recht, wenn er mit seinen Fragen bei der Erziehung, bei der Familie ansetzt, denn genau hier entsteht die Deformation, hier wird im Zuge der Individuation der so genannte „autoritäre Charakter“ herangebildet. Eine defiziente Persönlichkeitsstruktur, eine Prädisposition, deren destruktives Potential neben mangelnder Fähigkeit zur Empathie, durch diverse Latenzen gekennzeichnet ist. Dazu gehören in allererster Linie der Antisemitismus, die Homophobie und die Frauenverachtung. Auch der Islamhass hat hier seinen Ursprung.
Betrachtet man dazu nun die einschlägigen Arbeiten eines Fromm aus den Zwanzigern des vergangenen Jahrhunderts, sowie die eines Adorno aus den Vierzigern und bringt diese in Deckung mit gegenwärtigen Studien wie zB die der Friedrich Ebert Stiftung, „Starke Hand gesucht“,
http://library.fes.de/pdf-files/akademie/online/50380.pdf
so wird man feststellen, dass sich die Verhältniszahlen, die „autoritäre Persönlichkeit“ betreffend, nicht bloß durchgängig gleichen, sondern auch heute bis in die Mitte der Gesellschaft reichen, in einem Ausmaß, dass nur allzu viele überrascht und erschreckt.
Es handelt sich also genau um jene, durch, wie Brumlik es anspricht, defiziente Erziehung angelegte Prädisposition zur Destruktivität, die jederzeit durch äußeren Einfluss, die entsprechenden sozioökonomischen bzw. soziokulturellen Umgebungsbedingungen stimulierbar sein muss.
Für einen einigermaßen gesunden Jugendlichen birgt Gewalt samt dem dazugehörigen Medienangebot eher etwas Abstoßenden, für den entsprechend prädisponierten allerdings ein Faszinosum und die fortgesetzte Beschäftigung mit diesem Thema ist durchaus geeignet, destruktive Phantasien zu vertiefen, zu verstärken, sowie Hemmschwellen abzubauen.
Man kann definitiv davon ausgehen, dass solch herausragende Extrem-Ereignisse nichts anderes als ein Symptom darstellen, das Symptom einer weit verbreiteten Krankheit und es ist dies durchaus dieselbe Krankheit, die von zB Katja Behrens gemeint ist,
http://www.schoah.org/antisemitismus/symbiose.htm
wenn sie hier vom Ausapern des Ötzi spricht. Besondere Aufmerksamkeit verdienen in diesem Zusammenhang auch und vor allem, angesichst der aktuellen Wirschaftskrise, der in diesem Artikel zitierte Philosoph Hans Mayer.
Die Latenzen sind also da, strukturell und von extrem rechts über die Mitte bis nach extrem links. Wir begegnen ihnen tagtäglich in den unterschiedlichsten Ausformungen wie dem Antisemitismus, der Islamphobie bis hin zu aufrüttelnden Ereignissen wie Winnenden mit einer all das auszeichnenden Gemeinsamkeit, und das ist der Hass.
Micha Brumlik hat Recht mit seinem Fazit, der Kampf gegen diesen Hass kann nur erfolgreich sein, wenn man da ansetzt, wo er entsteht: bei der Erziehung ohne Liebe und Geborgenheit.
Der Junge war einfach ein durchgeknallter Psychopat. Kein Mensch wird genau wissen, wie er getickt hatte, weil man ihn nicht mehr psychitatrisch untersuchen kann. Aber dass es Psychopaten gab, gibt und geben wird, ist offensichtlich und jedem klar.
Es gab Psychopaten in der Antike, im Mittelalter, in der Moderne und, und, und.
Ein organischer Defekt des Gehirns kann einen normalen Menschen zum Psychopaten machen. Und die Geschichte des Großvaters ist nicht erheblich daran schuld.
Es gibt allerding Psychopaten, die nie zu Massenmörder werden. Sie schießen werbal in den Foren um sich. Wie der „Lutz Huth“.
„Der Amoklauf von Winnenden zeigt, dass tradierte Familienmodelle einer Medienkindheit nicht standhalten.“
Solche Aussagen zeigen vor Allem, daß der Autor entweder die Prozentrechnung nicht beherrscht – oder sich zu „Propagandazwecken“ mutwillig dumm stellt. Denn solche Amokläufe sind beim besten Willen nichts, was für Jugendliche hier und heute „typisch“ ist. Ich empfinde es als *äußerst* unseriös, zehntausende von Jugendlichen wegen einiger weniger durchgeknallter Idioten in „Kollektivhaft“ zu nehmen. Zumal die stetig sinkende Gewaltbereitschaft unter Jugendlichen durch etliche Untersuchungen nachgewiesen wurde…
Und was, wenn einer der Großväter KZ-Wärter oder Mitglied einer Exekutionseinheit gewesen wäre und dadurch das schwache Ich des Vaters mitverursacht hätte?
Es geht um individuelle Schuld und um kollektives Schuldempfinden. Beides wirkt auf die Glieder dieser Gesellschaft(en) extrem negativ ein. Eine Heilungschance (für die ganze Gesellschaft) könnte in der kollektiven Verarbeitung, d.h. in einer wirklichen und nicht nur scheinbaren, oberflächlichen Auseinandersetzung mit den Schrecken der Vergangenheit liegen. Es geht auch um das Empfinden echter Trauer für die Opfer. Das fehlte bei all der sog. Vergangenheitsbewältigung bisher.
Aber ich bin kein Fachmann für solche Dinge, kann nur Vermutungen äußern.
In gewisser Hinsicht, Makkabäer, hast Du sicher Recht: Psychodynamisch überdeckte, verschobene oder verdrängte Schuld produziert jede Menge derstruktives Potential, das auf unterschiedlichste Art ausagiert, bzw. manifest wird. Möglich, dass zB das Beharren auf der Todesstrafe in den USA ein Derivat dessen ist, hier in Europa, insbesondere Deutschland und Österreich äußert sich dieser Mangel projektiv im nach wie vor schwierigen, um nicht zu sagen ambivalenten Verhältnis zu Juden.
Im hier andiskutierten Fall aber, gibt es keinerlei Anzeichen oder Hinweise in solche Richtung, es ist ein idividuelles Schicksal. Hier handelt es sich in der Tat um eine sogenannte Vorzeigefamilie, anständig, odentlich, sauber und erfolgreich, geradezu vorbildlich nach außen.
Wie es innen drinnen zugegangen sein muss, kann aus dem offenbar herostratischen Verhalten dieses jungen Menschen abgeleitet werden. Ein Produkt der absoluten Hilflosigkeit gegenüber dem Entsprechungszwang und enormen Leistungsdruck durch einen übermächtigen Vater.
Ein schwaches Ich des Vaters, welches ausschließlich durch Leistung, Erfolg und wenn auch subtil ausgeübte Macht über Mitarbeiter und aber auch die Familie, insbesondere über den Sohn nur mühsam aufrecht erhalten werden kann, hat sich auf diesen übertragen, ohne jede Aussicht, je gleichberechtigt oder sogar besser sein zu können.
Durch solche Art der Erziehung wird man der eigenen Idetität beraubt, ersetzt diese durch Identifikation mit dem Aggressor, dem autoritären Vater. Jegliche Fähigkeit zur Empathie wird abgespalten, die Sehnsucht nach Liebe als Schwäche und bedrohlich empfunden, sie wird durch den Kampf um Anerkennung ersetzt.
So und auf diese Weise entsteht der sogenannte „autoritäre Charakter“. Die Art wie sich ein solcher innerhalb einer Gesellschaft manifestiert ist vielfältig, das Spektrum sehr weit gefächert – allerdings ausschließlich destruktiv.
Es reicht, je nach dem, höchst sozialisiert vom erfolgreichen Chef, über den Topmanager der im Zuge seiner Karriere sprichwärtlich über Leichen geht, über Fremdenhass, Nationalismus, Despotismus aber auch bis hin zum selbstzerstörerischen Junkie.
Hier in diesem Fall besteht der Eindruck, dass es um den ultimativen Beweis ging: Den Vater zu übertrumpfen, uneinholbar zu besiegen.
Den Statistiken nach sind es zwei Länder, in denen solche Kinder-, oder Jugendlichenamokläufe am häufigsten vorkommen.
Zwei Länder, die Eines eint: sie haben in ihrer Geschichte der letzten acht oder so Generationen mehr Angriffs- als Verteidigungskriege geführt.
Ein Volk, dass angegriffen wird und Gräuel mit Gräueln vergilt, rechtfertigt diese vor dem ‚innerern Gewissen‘ mit der Situation: ‚ich wurde ja angegriffen.‘ Ein Volk, das als Aggressor auftritt, muss gute Gründe und Begründungen finden, um seine Soldaten zu Mord, Vergewaltigung, Schändung, Raub etc. zu motivieren, denn von sich aus wird so schnell keiner zur ‚Bestie‘. Und danach? Die Soldaten kommen heim, die wenigsten bekommen die Gelegenheit per Psychiatrie ihre Erlebnisse zu ‚verdauen‘, sie tragen sie in die Familien, offen oder versteckt; da bleiben sie dann unter der Oberfläche und gären; eine Gesellschaft, der der Materialismus wichtiger als alles Andere ist, möchte keine breite Verarbeitung von Schuld, die das schöne Eigenbild trüben könnte; die unbewältigten Schuldgefühle in den Familien bleiben also erhalten, werden an die Folgegenerationen ‚weitergereicht‘ und brechen irgendwann aus, auch in Form von Amokläufen.
Wer jetzt argumentiert, die Indianermorde, My Lai, Irak etc. seien tatsächlich gesellschaftlich noch fast unbewältigt bzw. unverarbeitet, die Verbrechen des Holocaust hingegen ausreichend verarbeitet worden, etwa durch breite Aufklärung, Literatur und Filme usw., der irrt: nur eine minimale Anzahl der NS-Täter wurde gerichtlich zur Verantwortung gezogen; individuelle Schuld nur in seltensten Fällen aufgedeckt oder gesühnt; die ‚Schuld‘ des einfachen Soldaten ist immer noch nicht verarbeitet und sie gärt weiter – bis zum nächsten Amoklauf.
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