Paul Ben-Haim: Ein israelischer Komponist aus München

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Paul Ben-Haim gilt heute als einer der bedeutendsten Komponisten des Staates Israel. Er beeinflusste die Musikentwicklung seines Landes auf nachhaltige Weise, indem er Elemente der europäischen Musik mit solchen der orientalischen zu einem neuen, eigenen Stil verband und damit die Grundlage für eine nationalisraelische Musik schuf. Seine Kompositionen, die mehrere Generationen israelischer Musiker, Interpreten und Tondichter befruchteten, werden zunehmend auch in seinem Herkunftsland Deutschland ‚wiederentdeckt‘ und aufgeführt. Der bewegte Lebensweg eines großen Musikschaffenden, Teil I…

Von Robert Schlickewitz

Jugend und frühe Karriere in Bayern

Paul Ben-Haim wurde am 5. Juli 1897 als Paul Frankenburger in München geboren. Sein Geburtsjahr fällt in die von vielen Historikern bis heute noch als „glückliche“ Prinzregentenzeit Bayerns verklärt dargestellte Epoche der Jahre 1886-1912. 1897 war zugleich das Sterbejahr des Komponisten Johannes Brahms, es war das Jahr, in dem der jüdische Architekt Max Littmann mit dem Münchner Hofbräuhaus eines der Wahrzeichen der Isarmetropole schuf und es war das Jahr, in dem Jakob Wassermann seinen Roman „Die Juden von Zirndorf“ und Walther Rathenau sein Essay „Höre Israel“ veröffentlichten.

Weit bedeutsamer war freilich für die jüdische Welt ein ganz anderes Ereignis: Theodor Herzl, der zionistische Politiker und Schriftsteller plante für 1897 die Abhaltung des 1. Zionisten-Kongresses in München. Jedoch schlug ihm ein derart heftiger und bösartiger Widerstand breiter bayerischer Bevölkerungskreise, des Klerus‘ und der bayerischen Öffentlichkeit entgegen, dass er sich schließlich gezwungen sah in das liberalere und weltoffenere Basel auszuweichen.

Paul Ben-Haims Familiengeschichte kann in vielerlei Hinsicht als typisch für die Geschichte einer jüdisch-deutschen Familie angesehen werden. Der Vater, Justizrat Professor Heinrich Frankenburger aus Uehlfeld, bleibt in Deutschland und stirbt betagt 1938 in München, kurz nach der Reichspogromnacht. Die Mutter Anna, Tochter des Münchner Bankiers Moritz Schulmann, eine begabte Amateurpianistin geht ihm bereits zwanzig Jahre früher, noch vor Ende des Ersten Weltkrieges voraus. Pauls älterer Bruder Ernst, ebenfalls Jurist, fällt bei der Schlacht um Verdun 1916. Seine ältere Schwester Therese wird 1942 in das Ghetto Theresienstadt, später nach Auschwitz deportiert, wo sich ihre Spur verliert. Schwester Dora (geb. 1892) emigriert 1934 nach Palästina, um nur vier Jahre später in Haifa einen frühen Tod zu finden. Keine 25 Jahre alt wird schließlich Pauls jüngerer Bruder Karl (1903-1928).

Die wohlhabende Familie Frankenburger wohnte am exklusiven Maximiliansplatz, gehörte dem liberalen Judentum an und galt als stark assimiliert. Dennoch hatte der Vater im Leben der Gemeinde immerhin das Amt des zweiten Vorstands inne und war sich die Familie ihrer ‚Jüdischkeit‘ durchaus bewusst.

Paul besuchte das humanistische Gymnasium und erhielt schon früh Geigen- und Klavierunterricht. 1913, zwei Jahre vor seinem Abitur, es ist zugleich das Jahr, in dem Bayerns letzter Monarch Ludwig III. sein Amt antritt, Adolf Hitler nach München kommt sowie Hans Lamm und Schalom Ben-Chorin geboren werden, entstehen Pauls erste bedeutendere orchestrale Eigenkompositionen, eine Romantische Ouvertüre und „Ganymed“.

Noch vor Aufnahme seines Studiums 1915 an der Münchner Akademie der Tonkunst hatte der talentierte Eleve Unterricht in Harmonielehre und Kontrapunkt empfangen. Eine Vervollkommnung seiner Klavierfertigkeiten erhielt Paul an der Akademie durch den Liszt-Schüler Berthold Kellermann, während ihn Anton Beer-Walbrunn, Friedrich Klose und Walter Courvoisier im Dirigieren unterwiesen. Das Jahr 1915 stellte gleichzeitig den Hintergrund für folgende Ereignisse: Bei der Schlacht von Ypern setzen die Deutschen erstmals Giftgas im Stellungskrieg ein, die britische Regierung sagt den Arabern in der „McMahon-Korrespondenz“ ihre Unterstützung bei der Errichtung eines eigenen Staates zu und Albert Einstein schreibt seine „Allgemeine Relativitätstheorie“.

1916 musste auch Paul Frankenburger kriegsbedingt sein Studium unterbrechen und wurde an die Front beordert. In etwa zeitgleich führte die Regierung des Kaiserreichs ihre diskriminierende „Judenzählung“ durch: der stets nur kurzfristig unterdrückbare, ansonsten chronisch ‚schwelende‘ deutsche Antisemitismus hatte diese Maßnahme gefordert, um zu verhindern, dass sich Juden vor der Wehrpflicht ‚drückten‘ – so die offizielle und für die meisten Deutschen wohl ausreichend erhellende Begründung. In einem anderen Teil der Welt kommt 1916 das „Sykes-Picot-Abkommen“ zustande, in dem Großbritannien und Frankreich den Orient untereinander aufteilen, nach dem dessen bisheriger Patron, das Osmanische Reich, am Boden liegt. Diese Entschließung sieht das Zugeständnis eines Staates oder Staatenverbundes an die Araber sowie eine Internationalisierung des Landstrichs Palästina vor. Erst im Jahr darauf folgt die „Balfour-Erklärung“, in der die britische Regierung den Juden Hilfe bei der Schaffung einer „jüdischen Heimstätte“ verspricht..

1920 konnte Frankenburger sein Studium abschließen, während im gleichen Jahr in München aus der DAP unter tatkräftiger Unterstützung Adolf Hitlers die NSDAP entstand und die Stadt wie das Land Bayern eine längere Phase antisemitischer Politik ihrer bürgerlichen Regierung sowie judenfeindliche Ausschreitungen erlebten. Das lauthals verkündete Programm der neuen rechtsextremen bayerischen Partei NSDAP forderte bereits jetzt den Ausschluss der Juden aus der deutschen Gesellschaft. In Palästina finden 1920/1921 ebenfalls Ausschreitungen gegen die dort ansässigen Juden – durch Araber – statt, während die Briten, die das Mandat für Palästina übertragen bekommen haben, ‚wegsehen‘.

Paul Frankenburger fand seine erste Anstellung, gleich nach dem beendeten Studium, als stellvertretender Chorleiter und Korrepetitor unter Bruno Walter und Hans Knappertsbusch an der heimischen (Münchner) Oper, dem Bayerischen Staatstheater. In den vier Jahren, die er hier tätig war, fand er auch als Komponist seine persönliche Richtung, er verschrieb sich ganz besonders der Kammer- und Orchestermusik.

Im Jahre 1924 verließ der junge Musiker seine Heimatstadt zum ersten Mal für eine längere Periode, indem er als dritter Kapellmeister und Chorleiter an das Augsburger Stadttheater überwechselte. Die Landtagswahl vom Frühjahr 1924 sieht die Tarnorganisation der nur vorübergehend und nur halbherzig verbotenen NSDAP, den „Völkischen Block“, im notorisch schwarzbraunen München mit 35 % gleichstark wie die SPD abschneiden, während diese Hitlerpartei bayernweit ‚nur‘ 17,1 % erzielt. Der künftige „Führer“ selbst sitzt derweil seine Haftstrafe für den gescheiterten Putschversuch im schwäbischen Landsberg ab, wo er seinen Getreuen sein programmatisches Werk, „Mein Kampf“ diktiert. Im Nahen Osten, in Palästina, langen zeitgleich die ersten von etwa 60 000 osteuropäischen Juden an, die in den kommenden acht Jahren hier einwandern und die dadurch ihrer sicheren Vernichtung durch die deutschen Barbaren nur wenige Jahre später entgehen. Die Juden in Palästina unterstehen einer Selbstverwaltung, die inzwischen auch vom Völkerbund anerkannt wurde und sie besitzen in der HAGANA eine eigene Verteidigungsmiliz. Diese kann freilich nicht alle arabischen Anschläge und Übergriffe abwehren, wie u.a. das schmerzliche Pogrom von Hebron gegen dessen seit Jahrhunderten dort friedlich lebenden jüdischen Bewohner zeigt.

Paul Frankenburgers Augsburger ‚Intermezzo‘ währte sieben Jahre, in denen er zum ersten Kapellmeister aufstieg, rund vierzig Opern und Operetten dirigierte, als Pianist aufzutreten begann und fleißig komponierte (u.a. Motetten, Chorwerke und liturgische Arien zu alttestamentlichen Texten).

1931 beendete der neue Leiter des Augsburger Stadttheaters, ein Nazi, den Vertrag des jüdischen Mitarbeiters Frankenburger und veranlasste diesen wieder in seine Geburtsstadt zurückzukehren. Inzwischen hatten die antisemitischen Gewalttaten und judenfeindlichen Schikanen im Reich weiter zugenommen und bei einer ganzen Reihe deutscher Juden den Gedanken an Auswanderung zumindest als erwägenswert erscheinen lassen. So zitierte die Berliner „Welt am Abend“ im Januar 1931 den Münchner Juden Lion Feuchtwanger: „Was also Intellektuelle und Künstler zu erwarten haben, wenn erst das Dritte Reich sichtbar errichtet wird, ist klar: Ausrottung. Das erwarten dann auch die meisten, und wer irgend unter den Geistigen es ermöglichen kann, bereitet heute seine Auswanderung vor.“ Hierauf konterte prompt das NS-Kampfblatt „Angriff“: „Heil und Sieg, Herr Feuchtwanger und gute Reise. Sie sind ein blendender Prophet.“ Auswanderung blieb dennoch für viele vorerst noch nur die zweitbeste Option, denn Familie, Freundeskreis, Beruf und gewohntes Umfeld gab niemand gerne auf, noch dazu im Tausch gegen eine ganz und gar ungewisse Zukunft in einer allem Anschein nach ebenfalls feindlichen neuen Umgebung in Palästina.

Dort haben die Briten soeben den Landerwerb durch Juden empfindlich eingeschränkt und die palästinensische Untergrundbewegung Izz ad-Din al-Qassam begonnen ihre mörderischen Anschläge sowohl gegen jüdische Siedlungen als auch gegen Posten der Mandatsmacht Großbritannien zu richten. – Alles Begleitumstände, die eine Auswanderung in diese Region nur starken und kämpferisch veranlagten Individuen angeraten erscheinen lassen konnten..

Um genau so eine Persönlichkeit scheint es sich bei Paul Frankenburger gehandelt zu haben. Er blieb noch zwei Jahre in Bayern, der Brutstätte und Wiege des braunen Terrors, ehe er nach Palästina auswanderte. In diesen zwei Jahren, die auch geprägt waren von den Auswirkungen einer ganz besonders gravierenden Wirtschaftskrise, entfaltete er, der keine feste Anstellung mehr erhielt und Gelegenheitstätigkeiten als Pianist und Liedbegleiter annehmen musste, eine besonders rege kompositorische Schaffenskraft. Sein Hauptwerk auf deutschem Boden, das große Oratorium „Joram“ nach dem Text von Rudolf Borchardt, einem zum Christentum konvertierten jüdisch-deutschen Dichter, entstand. Kompositorische Vorbilder Frankenburgers waren hierbei Bach und Mendelssohn-Bartholdy, musikalische die deutsche Spätromantik und Claude Debussy.

Nur wenige Wochen nach Hitlers Machtergreifung vollendete er die Partitur und im Sommer 1933 reiste er erstmals nach Palästina. Nach seiner Rückkehr nach Bayern regelte er seine Verhältnisse, verabschiedete er sich von Familie und Freunden und wanderte im November des gleichen Jahres endgültig aus Deutschland aus..

Teil II, „Paul Ben-Haim in Palästina bzw. Israel“ folgt in Kürze…

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Literatur:

http://www.answers.com/topic/paul-ben-haim (aufgerufen am 6.3.2009)
Malcolm Miller, Paul Ben-Haim and the Mediterranean School: A Reassessment, Jewish Music Institute, JMI International Centre for Suppressed Music: http://www.jmi.org.uk/suppressedmusic/newsletter/articles/003.html (aufgerufen am 6.3.2009)
Lexikon verfolgter Musiker und Musikerinnen der NS-Zeit, Universität Hamburg, (Hg.) Claudia Maurer Zenck und Peter Petersen: Paul Ben-Haim von Tina Frühauf (2007, aktualisiert am 10. Febr. 2009): http://www.lexm.uni-hamburg.de/object/lexm_lexmperson _ 00002546
(aufgerufen am 6.3.2009)
http://musicweb-international.com/classrev/2001dec01/Ben-Haim/… (aufgerufen am 6.3.2009)
„Das Vermächtnis des ‚Lebenssohns‘ “ von „ms“; Sonntagsblatt – Evangelische Wochenzeitung für Bayern, Ausgabe 43/2008 vom 26. 10. 2008, Artikel-ID: 2008_43_27_01:
http://www.sonntagsblatt-bayern.de/print.php?sid=2008_43_27_01 (aufgerufen am 6.3.2009)
W. Bergmann, Geschichte des Antisemitismus, 2. Aufl., München 2004
I. Brodersen und R. Dammann, Zerrissene Herzen. Die Geschichte der Juden in Deutschland, Frankfurt am M. 2006
Chronik der Deutschen, 3. Aufl., Gütersloh/München 1995
Chronik des 20. Jahrhunderts, Gütersloh/München 1982/1995
Deutsch-Jüdische Geschichte in der Neuzeit, (Hg.) M. A. Meyer, Band III und IV, München 1997
L. van Dijk, Die Geschichte der Juden, Frankfurt am M. 2001
N. Flug und M. Schäuble, Die Geschichte der Israelis und Palästinenser, München und Wien 2007
Jüdisches München, (Hg.) R. Bauer und M.. Brenner, München 2006
H. F. Nöhbauer, Die Chronik Bayerns, Gütersloh/München 1994
R. Schlickewitz, Die ehrliche weißblaue Chronik, München 2006 (unveröffentlicht)
R. Schlickewitz, Sinti, Roma und Bayern, 3. Aufl., Deggendorf 2008
S. Tempel, Israel, Berlin 2008

Besonders empfehlenswert:
J. F. Harris, The People speak! Anti-Semitism and Emancipation in Nineteenth-Century Bavaria, Ann Arbor 1994

1 Kommentar

  1. Dieser Artikel beantwortet hoffentlich erschöpfend die von vielen wohlmeinenden aber ansonsten schlechtinformierten Deutschen so gerne salbungsvoll und mit dem leichten  Unterton des Vorwurfs versehene Frage. „Warum seid Ihr den nicht ausgewandert, als es noch möglich war?“

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