Das Transitghetto Izbica

0
110

Eine neue Publikation dokumentiert einen nahezu vergessenen Tatort der Shoa…

„Meine Mutter und meine Schwester sind deportiert worden“, erinnerte sich Manfred Abusch. „Das war die letzte Nachricht, die ich erhalten habe, sie sind einfach verschwunden.“ Berta Abusch und ihre Tochter Charlotte wurden am 24. März 1942 aus ihrer Heimatstadt Nürnberg nach Izbica in Polen verschleppt. Vater Moritz war schon 1938 nach Buchenwald deportiert worden. Die jüdische Familie stand unter besonderer Beobachtung der Gestapo, weil der Bruder von Moritz Abusch, Alexander Abusch, Mitglied der Kommunistischen Partei war. Beide Brüder überlebten die Shoa; Alexander wurde später Kulturminister in der DDR. Der 16-jährige Manfred konnte sich 1940 über Dänemark nach Palästina retten – er verstarb 2001 in Tel Aviv.

An diesem 24. März 1942 wurden rund tausend fränkische Juden mit der Reichsbahn nach Izbica deportiert – davon über 400 aus Nürnberg. In der kleinen polnischen Stadt in der Nähe von Lublin bestand zunächst ein Ghetto für die ansässige jüdische Bevölkerung, das jedoch bald geräumt wurde; die Menschen in den Vernichtungslagern Belzec und Sobibor ermordet. Anschließend diente Izbica einige Monate lang als Transitghetto. „Vom 13. März 1942 bis Anfang Juni 1942 wurden mindestens 14.446 Juden aus dem Deutschen Reich, Luxemburg, dem Protektorat Böhmen und Mähren und der Slowakischen Republik nach Izbica verschleppt“, schreibt der Historiker Steffen Hänschen. Nicht wenige starben bereits im Ghetto an Unterernährung, Krankheit und Gewalt, die anderen in den umliegenden Vernichtungslagern.

Darunter befand sich auch der berühmte expressionistische Dichter Jakob van Hoddis, Schwager des Nürnberger Rechtsanwalts und Zionisten Meinhold Nussbaum, der bereits 1933 nach Palästina ausgewandert war. Van Hoddis war schon lange geistig umnachtet und lebte in der israelitischen Heilanstalt Bendorf-Sayn bei Koblenz. Ende April 1942 verschleppten die Nationalsozialisten den Dichter und zahlreiche seiner Leidensgenossen in die polnische Ortschaft. Bis zur Auflösung des Ghettos im November 1942 vegetierten insgesamt „über 25.000 Juden für kürzere oder längere Zeit“ in Izbica. Einen Monat zuvor hatte die Liquidierung begonnen: Am 18. und 19. Oktober 1942 bestellten die deutschen Behörden zwei Züge nach Izbica, in denen jeweils 2.500 Personen gepfercht wurden. Da der Platz nicht ausreichte, feuerten die Wachleute planlos in die Menge. Etwa 700 Menschen sollen diesem Massenmord zum Opfer gefallen sein. Dann fuhren die Züge in die Vernichtungslager Sobibor und Belzec. Lediglich eine Gruppe von „etwa 60 Personen erlebte das Ende der deutschen Besatzung“.

Die geschändete Synagoge von Izbica. Nach dem Krieg wurde das Gotteshaus abgerissen. Repro: Aus dem besprochenen Band (Beith Lochamei Hagetaot)

Das Transitghetto Izbica wird zwar in einigen historischen Regionalstudien als Zielort von Deportationen benannt. Doch enden diese Untersuchungen „oft mit der Abfahrt der Züge, Genaueres über das Schicksal der Opfer wird kaum vermittelt,“ musste Steffen Hänschen bei seinen Recherchen feststellen. Izbica und seine Funktion in der NS-Maschinerie ist auch vielen Experten kaum ein Begriff. In dem von Wolfgang Benz und Barbara Distel editierten Nachschlagwerk „Orte des Terrors“ wie auch in der von der israelischen Gedenkstätte Yad Vashem herausgegebenen „Enzyklopädie der Ghettos“ sucht man vergeblich nach Informationen über diesen „Vorhof zur Hölle“.

Obwohl die Nationalsozialisten bemüht waren alle Spuren und Dokumente zu beseitigen, ist es Steffen Hänschen gelungen die Geschichte des Ghettos zu erzählen – er nennt die Herkunftsorte der Ermordeten, die Transporte, beschreibt das kurze Überleben der geschundenen Menschen und schließlich deren Ermordung. Der Autor recherchierte akribisch in polnischen, deutschen, israelischen, englischen und US-amerikanischen Archiven. Er sichtet die Transportlisten, die Aufzeichnungen der Überlebenden, die wenigen erhaltenen Akten der Täter, Briefe sowie Tagebücher der Ermordeten. Zudem reiste er an die Tatorte und sprach mit Zeitzeugen. Er beschreibt die alltägliche Gewalt, den Hunger, die Angst und das grausame Morden. Hänschen wertete Ermittlungsakten aus und beleuchtet die juristische Aufarbeitung der Verbrechen in Izbica. Nach dem Krieg hatte die deutsche Justiz u. a. gegen zwei Gestapo-Männer und zwei Zivilbeamte wegen Mordes ermittelt. Die Polizisten entzogen sich dem Verfahren durch Selbstmord, die beiden anderen Prozesse endeten mit Freispruch bzw. der Einstellung.

Schwerpunkt von Steffen Hänschens wissenschaftlicher Arbeit sind die NS-Vernichtungslager im sogenannten Generalgouvernement. Seit 20 Jahren begleitet der Autor zudem Bildungsreisen an die Tatorte der Shoa in der Region Lublin. Auf diesen Erfahrungen und seiner historischen Kompetenz basiert seine detaillierte und quellengesättigte Studie. Auf über 600 Seiten schildert Steffen Hänschen das Unfassbare, lässt Zeitzeugen zu Worten kommen und stellt in kurzen Biografien die wenigen Überlebenden vor. Ein wichtiges Buch, das eine Lücke in der NS-Forschung füllt, ein Buch gegen das Vergessen und eine schlagkräftige Waffe im Kampf gegen Holocaustleugner. – (jgt)

Steffen Hänschen, Das Transitghetto Izbica im System des Holocaust, Metropol-Verlag 2018, 608 S., Euro 29,90, Bestellen?

Bild oben: Die Armbinden verweisen auf Mitglieder des „Judenrats“ im Ghetto Izbica. Im Hintergrund ist die Synagoge zu sehen. Repro: Aus dem besprochenen Band (DHM)