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Im S-Bahnhof im von Migration geprägten Hamburger Stadtteil Veddel explodierte am 17. Dezember ein Sprengsatz, es gab einen Verletzten. Die Polizei spricht bis heute, einen Monat danach, nicht von einem möglichen terroristischen Hintergrund: Der Tatverdächtige hat eine jahrzehntelange Neonazikarriere hinter sich…

Von Gaston Kirsche

Der S-Bahnhof, mitten im kleinen Stadtteil Veddel gelegen, ist für die meisten Anwohnenden die wichtigste Verkehrsverbindung. Denn während in Hamburg im Durchschnitt 339 Autos auf 1.000 Einwohner kommen, sind es auf der Veddel nur 166. Der hafennahe, auf einer Elbinsel neben Wilhelmsburg gelegene, traditionelle Arbeiterstadtteil ist seit Jahrzehnten von Verarmung geprägt. 4.632 Menschen sind auf der Veddel gemeldet und wohnen in den typischen mehrgeschossigen Klinkerbauten. Einen Großteil der Fläche des Stadtviertels nehmen Industrieanlagen ein, etwa auf der zu Veddel gehörenden Peute. Die zunehmend desolate Sozialstruktur auf der Veddel wird seit Jahrzehnten durch vor allem aus der Türkei eingewanderte Familien stabilisiert, welche einen Großteil der Geschäfte für die Nahversorgung betreiben. 25 Prozent der Anwohnenden sind auf Hartz-IV angewiesen, der Hamburger Durchschnitt liegt mit 10 Prozent wesentlich darunter.

Es ist ein kleiner Stadtteil, der von Industrieanlagen geprägt ist und von der Norderelbe, Autobahnen und Gleisanlagen begrenzt wird. Die Lärmbelastung ist selbst für Hamburger Verhältnisse hoch, und bei Ostwind liegt ein beißender Geruch in der Luft – nebenan produzieren Industriebetriebe wie die größte Kupferhütte Europas, die Norddeutsche Affinerie, die jetzt Aurubis heißt, auch die Delfi Cocoa Europe, in deren großem Werk jährlich 100.000 Tonnen Kakaobohnen zu Schokoladenvorprodukten verarbeitet werden. Wer kann, zieht weg. Neu Zuziehende haben meist keinen deutschen Pass, so wie 44 Prozent auf der Veddel – in ganz Hamburg trifft dies nur auf 15,7 Prozent zu. Bei den unter 18-jährigen haben 93 Prozent offiziell einen Migrationshintergrund, in ganz Hamburg 49 Prozent. Blond ist woanders. Auf der Veddel gibt es weniger rassistische Angriffe und Beleidigungen durch Biodeutsche. Zusammen mit Wilhelmsburg gilt die Veddel in Hamburg als türkisch dominiertes Gebiet. Nicht nur im autochthon geprägten Speckgürtel am südlichen Rand von Hamburg wird auf die allochthon geprägte Armut auf den Elbinseln herabgeschaut.

Auf dem S-Bahnhof Veddel explodierte am 17. Dezember nachmittags ein offensichtlich aus Böllern gebauter Sprengsatz mit etwa 50 Gramm Schwarzpulver – ein starker, gerade noch erlaubter Böller hat allerdings nur bis zu 5 Gramm Schwarzpulver. Scheiben zersplitterten, nach der Explosion lagen zahlreiche scharfkantige Schrauben auf dem Bahnsteig. Polizei war schnell vor Ort, riegelte den Bahnhof den Abend über ab, die S-Bahnen fuhren durch, Sprengstoffexperten sicherten die Reste des Sprengsatzes. Es sei zu einer „kleinen Detonation eines offenbar in einer Tüte auf dem Bahnsteig abgestellten mutmaßlichen pyrotechnischen Gegenstands“ gekommen, so Florian Abbenseth von der Pressestelle der Hamburger Polizei. Personen seien nicht verletzt worden. „Inwiefern auf dem Bahnsteig aufgefundene Schrauben überhaupt unmittelbar mit dem pyrotechnischen Gegenstand in Verbindung stehen, ist derzeit noch unklar“, so Abbenseth: „Die Ermittlungen dauern an.“ Aber: Hinweise auf einen terroristischen Hintergrund gebe es angeblich nicht. Auch als sich einen Tag später ein Verletzter bei der Polizei meldete, der durch die Explosion ein Knalltrauma erlitten hat, als er sich auf dem Bahnsteig befand, bagatellisierte die Polizei die Explosion weiter und sprach von zwei „Polenböllern der Marke DUM BUM 50“, die gezündet worden seien: Die Schrauben und Metallteile hätten nichts mit der Explosion zu tun.

Erleichtert wurde die Ermittlung des Tatverdächtigen durch die hochauflösenden Videoaufzeichnungen der Überwachungskameras der Deutschen Bahn im Bahnhof Veddel. Darauf soll ein Mann zu sehen sein, der aus einer S-Bahn stieg, kurz eine Plastiktüte abstellte und gleich wieder einstieg bevor der Zug abfuhr. Auch die Kameras in der Bahn nahmen den Mann auf, den Polizisten des Kommissariats 46 am nächsten Tag erkannten und ihn in der Nähe festnahmen. „Bei ihm handelt es sich um einen 51-jährigen Deutschen“, erklärte Polizeisprecher Abbenseth. In den bisherigen Pressemitteilungen spricht die Polizei nicht von einem möglichen rassistischen Tathintergrund, obwohl sich der Anschlag gegen die Bevölkerung eines Stadtteils richtete, in der laut Statistikamt Nord 71 Prozent der Bevölkerung einen Migrationshintergrund haben. Also gegen ein von Einwanderung geprägtes Viertel. Der Täter habe keinen festen Wohnsitz und sei der Polizei in den letzten Jahren nur noch wegen kleinerer Diebstähle aufgefallen, zudem solle er der Harburger „Trinkerszene“ angehören. Über sein Motiv schweige der Täter, habe aber erklärt, er sei betrunken gewesen.

Dabei ist der 51-Jährige Stephan Kronbügel seit Jahrzehnten ein bekannter gewalttätiger Neonazi, verurteilt 1992 wegen Totschlags, 2000 wegen sexueller Nötigung. „Der Täter ist dabei kein Unbekannter: Es handelt sich um Stephan K.“, so der Arbeitskreis In Gedenken an Gustav Schneeclaus, „der bereits wegen eines neonazistischen Gewaltverbrechens eine mehrjährige Haftstrafe verbüßte.“

Damals, am 18. März 1992, traf der Kapitän Gustav Schneeclaus am Busbahnhof in Buxtehude bei Hamburg auf eine Gruppe Nazi-Skinheads, unter ihnen der damals 19-jährige Stefan Silar und der 26-jährige Stephan Kronbügel. Als Gustav Schneeclaus Hitler als ‚den größten Verbrecher‘ bezeichnet, wird er von den beiden Neonazis geschlagen und getreten. Die Täter flüchten zunächst, kehren aber kurze Zeit später mit einem Kantholz bewaffnet wieder zurück. „Mit dem Kantholz und ihren Springerstiefeln schlugen und traten sie auf ihr Opfer ein, doch nicht genug der Brutalität, der 19-Jährige Stefan Silar sprang darüber hinaus auch noch unter den Anfeuerungsrufen seines Kameraden Stephan Kronbügel: ‚Mach ihn tot, mach ihn tot‘ immer wieder auf den wehrlosen Schneeclaus.“ so der Arbeitskreis In Gedenken an Gustav Schneeclaus: „Vier Tage später erliegt Schneeclaus seinen schweren Verletzungen.“ Der damals 25-jährige Stephan Kronbügel sei außerdem bei öffentlichen Veranstaltungen als Wortführer aufgetreten und habe versucht, sich in den Vordergrund zu drängen.

Die Polizei war ihnen unter anderem deshalb auf die Spur gekommen, weil Silar und Kronbügel am Tag nach der Tat direkt am Tatort vor ihrer Skinheadclique mit der noch vorhandenen Blutlache prahlten. Im Gerichtsprozess plädierten die Verteidiger beider Skinheads aufgrund des hohen Alkoholkonsums darauf, dass die Beiden im Vollrausch nicht hatten töten wollen.

Der jetzt erneut Festgenommene „hat eine lange Nazikarriere hinter sich“, so das Hamburger Bündnis gegen Rechts (HBGR) in einer Erklärung. Bereits 1986 tauchte Stephan Kronbügel im Prozess wegen der Ermordung von Ramazan Avcı durch vier neonazistische Skinheads auf: „Uns liegen Aufzeichnungen vor, die damals von AntifaschistInnen während des Prozesses gemacht wurden. K. soll schon damals wegen verschiedener Delikte, wie Körperverletzung, Sachbeschädigung und unerlaubten Waffenbesitzes bekannt gewesen sein“ erklärte das HBGR. So habe der damals Wehrpflichtige am 26. Januar 1986 eine Schlägerei in einer Kaserne provoziert. „Schon damals rechnete sich K. selbst den Kreisen um die Mörder Ramazan Avcıs zu, er ‚kenne alle Skins in Hamburg‘ und trug laut Beobachtung“, so das HBGR, „mit dem Tattoo ‚Gewalttäter‘ im Nacken ein eindeutiges Bekenntnis zu seiner Gewaltbereitschaft.“

Ein Foto aus dem Archiv des antifaschistischen Magazins „der rechte rand“ belegt, dass Kronbügel schon Mitte der 1980er Jahre Kontakt zu der gewalttätigen „Freiheitlichen Deutschen Arbeiterpartei“ (FAP) hatte. Bei einem Polizeieinsatz am 4. Oktober 1986 wurde der damals 20-Jährige in der FAP-Parteizentrale in Hannover aufgegriffen und kontrolliert. Die FAP war offen nationalsozialistisch und gewalttätig und wurde 1995 verboten.

Am 18. März 1992 erschlug Stephan Kronbügel gemeinsam mit Stefan Silar den 53-jährigen Kapitän Gustav Schneeclaus in Buxtehude.

„In einem internen Schreiben des Landesamtes für Verfassungsschutz (LfV) Hamburg an den Generalbundesanwalt vom 30. April 1992 taucht K. ebenfalls wieder auf“ berichtet das HBGR: „In der Erkenntniszusammenstellung des LfV geht es um die damalige Clique der „Sinstorfer Skins“, deren Kontakte zum Ku-Klux-Klan und verschiedene neonazistische Anschläge.“ Stephan Kronbügel wurde in dem Schreiben auch wegen eines zusammen mit zwei weiteren Skinheads begangenen Einbruchdiebstahls erwähnt, sowie wegen des „Verdachts des Totschlags an einem 53-jährigen Kapitän in Buxtehude,“ wofür er auch verurteilt wurde. „In der Haft wandte sich K. 1993 dann der neonazistischen ‚Hilfsorganisation für nationale politische Gefangene‘ (HNG) zu, welche 2001 vom Bundesinnenminister verboten wurde“, so das HBGR: „Aus dem Gefängnis heraus bat er Gesinnungsgenossen via HNG um Briefkontakte.“ „Es ist verharmlosend, wenn die Hamburger Polizei K. jetzt als ‚Trinker‘ charakterisiert, nur weil sie keine Erkenntnisse über aktuelle Mitgliedschaften, Szenezugehörigkeit oder rechtsextremistische Straftaten von K. hat. Für uns bleibt K. bis zum Beweis des Gegenteils, ein Neonazi“, erklärte das HBGR: „Es gibt eine unheilvolle Tradition in Deutschland neonazistische Straftaten als Delikte von alkoholisierten Einzeltätern zu bagatellisieren.“ Es sei ungeklärt, ob der Anschlag auf der Veddel einen rassistischen Hintergrund hatte. „Wir wissen, dass die Veddel ein Stadtteil mit einem sehr hohen Anteil an migrantischer Bevölkerung ist“, so Felix Krebs vom HBGR: Nach dem Versagen gegenüber dem Terror des NSU müsse die Tat auf einen möglichen rechtsterroristischen Hintergrund ausgeleuchtet werden. Gerade angesichts der bekannten Nazivergangenheit des mutmaßlichen Täters.

Antifaschistische und Antirassistische Hamburger Gruppen organisierten fünf Tage nach dem Anschlag eine Demonstration auf der Veddel: „Wir fordern eine lückenlose Aufklärung des Tathergangs und der Motivation – Gemeinsam & solidarisch rechten Terror und Rassismus bekämpfen!“ In dem Aufruf stellen sie heraus, dass „die Veddel und Wilhelmsburg migrantisch und alternativ geprägte Stadtteile“ sind: „Einen Sprengsatz an einem zentralen Verkehrsknotenpunkt zwischen diesen Stadtteilen hat nicht nur das Ziel, die hier lebenden Menschen zu verletzen, sondern darüber hinaus ein Bedrohungsszenario und Angst zu schaffen. Dieser Anschlag an diesem Ort ist daher als rassistisch motiviert zu verstehen.“ Vor den 300 Teilnehmenden hielt ein Vertreter des Arbeitskreis In Gedenken an Gustav Schneeclaus aus Buxtehude eine Rede: „Jemand, der bereits aus seiner extrem rechten Ideologie heraus einen Menschen totschlug, zündet in einem alternativ und migrantisch geprägten Stadtteil einen Sprengsatz – doch eine politisch motivierte Absicht schließt die Polizei aus.“ Sie kritisierten die Verharmlosung rechter Gewalt: „Im Zusammenhang mit den G-20-Ausschreitungen sprachen tatsächlich viele von ‚Terror‘, während der rechte Mob auf der Straße verharmlosend als ‚besorgte Bürger‘ bezeichnet wird. Rassistische Gewalt und Stimmungsmache sind in Deutschland allgegenwärtig.“ Die Rede schloss mit einem Gruß: Ahoi Gustav!
Stephan Kronbügel ist, wie der Arbeitskreis gegenüber dem Autor erklärte, ihres Wissens nach in den vergangenen Jahren nicht als organisierter Neonazi aufgefallen. Die Detonation am Veddeler Bahnhof ist „natürlich nicht mit den gezielten Anschlägen des NSU und dem dahinter stehenden Netzwerk zu vergleichen“, so der Vertreter gegenüber dem Autoren: „Trotzdem macht es mehr als stutzig, wie sofort ein politischer Hintergrund der Tat ausgeschlossen und er als ‚Trinker‘ abgetan wurde. Dass jemand, der damals aus seiner Ideologie heraus einen Menschen totschlug, nun zufällig einen solchen Sprengsatz ausgerechnet in einem alternativ und migrantisch Stadtteil gelegt haben soll, fällt schwer zu glauben.“ Dem entsprechend spricht sich der Arbeitskreis In Gedenken an Gustav Schneeclaus für einen eine gründliche Auseinandersetzung mit der jetzigen Tat aus, der auch einen möglichen neonazistischen Hintergrund und entsprechende Verbindungen ausleuchtet, gerade vor dem Hintergrund der Lebensgeschichte des Täters.

Die Chancen dafür stehen aber schlecht: In letzter Zeit sei der 51-Jährige Tatverdächtige aber nur noch wegen kleinerer Diebstähle aufgefallen, sagte eine Sprecherin der Hamburger Staatsanwaltschaft. Die Hamburger Polizei hat den Tatverdächtigen ermittelt und ihn der Trinkerszene zugeordnet. Von weiteren Ermittlungen ist weit und breit nichts zu hören und zu sehen.

Christiane Schneider, Abgeordnete der Linken in der Hamburgischen Bürgerschaft, hatte nach dem Sprengstoffanschlag auf dem S-Bahnhof Veddel eine Anfrage an den Hamburger Senat gestellt. „Der Senat bestätigt nun in der Antwort auf unsere Anfrage,“ so Christiane Schneider, „dass es Hinweise auf extrem rechtes Gedankengut und vor allem auf Verbindungen des Festgenommenen in die extrem rechte Szene gibt.“ Allerdings nur mit der denkbar kürzesten Antwort auf die entsprechende Frage in der Bürgerschaftsdrucksache 21/11457: „Ja.“

Eine gekürzte Version erschien zuerst in: Jungle World v. 04.01.2018.